Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
Kurz vor der Wahl kehrt Jair Bolso-
naro noch einmal zurück in die
Stadt, in der seine politische Karrie-
re begann, in die Kirche, in der er
zum dritten Mal heiratete, zu sei-
nem Pastor, der ihn eng begleitet auf
seiner historischen Mission: der
Rettung des christlichen Vaterlands.
Mehr als 10000 Menschen sind
gekommen in die evangelikale
Megakirche Advec im Norden von
Rio de Janeiro, alle Hautfarben und
Schichten, viele im gelben Fußball-
nationaltrikot, das zum Symbol für
Bolsonaros rechtspopulistische
Bewegung geworden ist.
Prediger aus dem ganzen Land be-
grüßen den Präsidenten mit Beto-
nung auf seinem Mittelnamen –
„Messias“ –, und als der Präsident
die 30 Meter lange Bühne betritt, re-
cken die Kirchgänger ihre Arme gen
Himmel und rufen „Amén“, „Halle-
lujah“ und „Mito“, Superheld.
Bolsonaro, 67, gescheiteltes Haar,
blaue Fliegerjacke, kommt gleich
zum Punkt, er ist kein Mann langer
Reden. Es gehe bei der Wahl am
Sonntag nicht nur um die nächsten
vier Jahre, sondern um einen bibli-
schen Kampf des Guten gegen das
Böse. Das Gute definiert er mit drei
Worten: Vaterland, Familie, Gott.
„Brasilien ist das Land Gottes“,
sagt er.
Dann übernimmt sein spirituel-
ler Berater das Wort, Pastor Silas
Malafaia, 64, helles Jackett, gegeltes
Haar, Brasiliens bekanntester TV-
Prediger, ein Mann langer Reden.
„Wir Evangelikalen stellen 30 Pro-
zent im Land“, brüllt er. „Wir werden
die Wahl entscheiden!“ Er warnt die
Gläubigen vor dem Kommunismus
und Abtreibungen und der Schwu-
lenehe unter einem linken Präsi-
denten Lula und schreit sich so in

Rage, dass er in Gestik und Hass an
den deutschen Propagandisten da-
mals im Sportpalast erinnert: „Cris-
tianismo, Cristianismo!“ Die An-
hänger fallen ein: „Cristianismo,
Cristianismo!“
Neben ihm schließt Bolsonaro die
Augen und hebt die Hände, als errei-
che ihn gerade der Segen Gottes.
In dieser schwülheißen Nacht von
Rio muss auch dem Letzten klar
sein: Es handelt sich bei Bolsonaro
nicht nur um den „Tropen-Trump“,
der Putin bewundert und die Folte-
rer der letzten Militärdiktatur. Es
handelt sich um den Kopf einer
ideologischen Bewegung, die das
Christentum ins Zentrum ihrer na-
tionalistischen Gesinnung stellt.
Wohin driftet das fünfgrößte Land
der Welt, wenn dieser Mann wieder
gewinnt? Und was passiert, wenn er
verliert? Denn Bolsonaro, Haupt-
mann der Reserve, sagt, er verliere
nicht. Er werde das Amt nur in Hand-
schellen verlassen – oder tot.
Die Gespräche mit seinen Anhän-
gern an diesem Abend, mit Arbei-
tern, Lehrerinnen, Taxifahrern, er-
geben das gleiche Bild: Er verliert
nicht. Er kann nur verlieren, wenn
die Gegenseite betrügt. Dann wer-
den sie die Straßen einnehmen.
Dann rufen sie nach dem Militär.
Dann gnade allen Gott.

Die Wahlen in Brasilien, 212 Mil-
lionen Bewohner, sind in den Augen
vieler Experten mit die wichtigsten
in diesem Jahr. Es geht nicht nur um
den Klimawandel, um die Zukunft
des Amazonas, der nach einem Bol-
sonaro-Sieg endgültig der Vernich-
tung preisgegeben würde. Es geht
um die Frage, ob der altlinke Ex-
Präsident Lula da Silva den globalen
Siegeszug autoritärer Führer zu-
mindest in Brasilien stoppen kann.
Und darum, ob ein demokratie-
feindlicher Präsident versuchen
wird, sich durch Gewalt an der
Macht zu halten.
Es ist ein gespenstisches Szenario,
auf das sich Diplomaten und Unter-
nehmen seit Monaten einstellen:
Bolsonaro erklärt – wie sein Vorbild
Trump –, er sei das Opfer eines Wahl-
betrugs. Anhänger umstellen den
Präsidentenpalast, unter ihnen
schwer bewaffnete Mitglieder von
2000 neuen Waffenklubs. Das Militär,
aus dessen Reihen Bolsonaro 6000
Männer für Regierungsbehörden
rekrutiert hat, greift ein und über-
nimmt die Auszählung der Stimmen.
„Die Lage ist sehr ernst“, sagt Pro-
fessor Oliver Stuenkel, Politologe an
der brasilianischen Denkfabrik
Getulio Vargas. „Eine der größten
Banken des Landes, Itaú, hat schon
eine Sicherheitsfirma beauftragt, die

Am Unabhängig-
keitstag Anfang
September strö-
men Zehntau-
sende Bolsonaro-
Fans an die Co-
pacabana in Rio

K


84 29.9.2022

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