In Deutschland sind rund
320 000 Menschenin För-
derwerkstätten beschäf-
tigt, sie arbeiten dort zum
Beispiel in der Elektromon-
tage, Holzverarbeitung und
Wäschereinigung. 75 Pro-
zent aller Werkstattbeschäf-
tigten sind Menschen mit
einer geistigen Behinde-
rung, 21 Prozent haben eine
psychische und vier Prozent
eine körperliche Beeinträch-
tigung.
Die Werkstätten sind kein
Teil des allgemeinen
Arbeitsmarkts, sondern
gehören zum sogenannten
zweiten Arbeitsmarkt. Sie
sind verpflichtet, mindes-
tens 70 Prozent vom
Arbeitsergebnis an die Mit-
arbeitenden auszuschütten.
Einen Anspruch auf Min-
destlohn haben Beschäftig-
te in den Werkstätten nicht,
da sie nur einen arbeitneh-
merähnlichen Status haben.
Viele bekommen Grundsi-
cherung oder Erwerbsmin-
derungsrente und zusätz-
lich ein Werkstatt-Entgelt
von im Schnitt 220 Euro, so
die jüngste Studie des Bun-
desministeriums für Arbeit
und Soziales.
Aktivisten fordern seit ei-
niger Zeit die Einführung
eines Mindestlohns in den
Werkstätten. Manche spre-
chen sogar von Ausbeu-
tung. Die Bundesarbeitsge-
meinschaft „Werkstätten für
behinderte Menschen“ weist
diesen Vorwurf zurück. Ihr
Argument: Eine Werkstatt
sei auf Teilhabe ausgerich-
tet und biete auch während
der Arbeitszeit Physiothera-
pie, Kultur und Sport.
Außerdem sei die Forde-
rung nach einem Mindest-
lohn kurzsichtig, weil die
Beschäftigten in einer Werk-
statt keine Arbeitsleistun-
gen erbringen könnten, die
verbindlich über drei Stun-
den hinausgehe. Daher
sei der Mindestlohn keine
finanzielle Verbesserung für
die allermeisten Beschäftig-
ten in den Werkstätten.
Die Kritik an den Werk-
stätten dreht sich nicht
nur um das geringe Ent-
gelt. Weniger als ein
Prozent der Beschäftigten
schafft den Sprung in den
regulären Arbeitsmarkt.
Die Werkstätten sehen die
Verantwortung bei den
Unternehmen: Der Arbeits-
markt brauche mehr Offen-
heit gegenüber Menschen
mit Behinderung. Der
Gesetzgeber schreibe zwar
Inklusion vor, aber in der
Realität kämen die Arbeit-
geber dem nicht nach.
Die „Werkstätten für Menschen mit Behinderung“
sie Nachrichtensprecherin werden, doch
wegen ihrer körperlichen Behinderung,
einer vererbten Verkürzung der Unterar-
me, sagten ihr Familienmitglieder und
Freunde, das gehe doch nicht. Stattdessen
sollte Langensiepen mit 17 Jahren von ihrer
Schule in eine internatsähnliche Werkstatt
für junge Menschen mit Behinderung in
Berlin-Neukölln vermittelt werden – Ver-
tragsbedingungen: 100 Mark Taschengeld,
nach 22 Uhr kein Ausgang, nur einmal im
Monat Heimatbesuch. Als sie am Telefon
absagte, so erzählt sie es, schrie sie die Lei-
terin der Einrichtung an: „Das ist ein gro-
ßer Fehler! Außerhalb einer Werkstatt
wirst du es nie schaffen zu arbeiten.“
Heute sitzt die 42-Jährige für die Grünen
im EU-Parlament in Brüssel. Sie ist eine der
wenigen unter den 705 Abgeordneten mit
einer sichtbaren körperlichen Behinderung.
Im März 2021 legte sie dem Parlament einen
Bericht vor. Darin fordert sie die Abschaf--
fung des Werkstattsystems für Menschen
mit Behinderung in Europa. Eine Mehrheit
der Abgeordneten stimmte zu. „Dass ich
es bis ins Europaparlament geschafft habe,
ist wie ein Mittelfinger für all jene, die
mir nichts zugetraut haben“, sagt sie. 4