Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1

vestieren Sie doch lieber in Unternehmen,
die bis zu 20 Prozent statt 4 bis 6 Prozent
pro Jahr wachsen«, sagte Stonecipher
2001 dem SPIEGEL. Rentabilität und Bör-
senkurs wurden fortan zum Maß aller Din-
ge. »Jede börsennotierte Gesellschaft muss
Shareholder-Value schaffen«, sagte auch
Philip Condit. »Die Eigentümer haben ein
Recht darauf, dass ihr Kapital möglichst ef-
fizient eingesetzt wird.« Das war, gewiss,
der Sound der damaligen Zeit, aber er führ-
te zu einer Entfremdung zwischen Beleg-
schaft und Unternehmen, und das Unter-
nehmen hörte nicht auf, mit der eigenen
Heimat zu fremdeln.
Die Boeing-Chefs spielten auch später
öffentlich immer wieder mit Ideen, gro-
ße Produktionsteile aus Seattle wegzu -
verlagern. Bei der Frage, wo die 737 Max
gebaut werden sollte, genauso wie bei
der Fabrikation der neuen 777x, dem
Jumbo-Nachfolger. Ständig kamen neue
Erpressungsversuche, die fast zu einem
Zerwürfnis zwischen dem Konzern und
seiner Stadt führten. Das Verhältnis der
Bürger zu Boeing sei »sehr kompliziert
geworden«, sagt Gates: »Viele, die nicht
bei Boeing arbeiten, hatten genug vom


Verlangen der Konzernführung nach Steu-
ernachlässen, den Konzessionen der Ge-
werkschaften und den Drohungen, die
künftigen Flugzeugfabriken woanders
bauen zu lassen.«
Als im Juni 2015 Dennis Muilenburg an-
trat, habe er die Hoffnung gehabt, dass
Boeing sich wieder besinnen könnte auf
seine eigentlichen Stärken. »Schließlich
ist Muilenburg selbst ein Ingenieur«, sagt
Gates, dieselbe Hoffnung hätten auch
die Boeing-Leute gehegt. Aber der Far-
mersohn aus Iowa bürstete den Konzern
noch strenger auf Profit als jemals zuvor,
während er zugleich beschauliche Sinn-
sprüche aufsagt, nach denen er nicht
zu handeln gedenkt. Als er 2018 von der
Fachzeitschrift »Aviation Week« zur »Per-
son of the Year« gekürt wurde, bedankte
er sich unter anderem mit den Worten:
»Wir sind ein harter Wettbewerber. Aber
unter keinen Umständen wollen wir, dass
unsere Beschäftigten irgendwann vor der
Wahl zwischen Wettbewerb und Werten
stehen. Das ist eine falsche Wahl.«
Gates beobachtet Muilenburg nun seit
Jahren. Der Boeing-Chef habe häufig da-
von gesprochen, dass »die zyklische Natur

des Flugzeuggeschäfts vorbei« sei, sagt
Gates. Der Airline-Markt werde ohne Un-
terbrechung wachsen, ohne konjunkturelle
Dellen, bis in alle Ewigkeit. »Und in die-
sem Spiel«, diese Botschaft wolle Muilen-
burg unter die Leute bringen, »ist Boeing
der globale industrielle Champion.« Da-
rüber könne man sich amüsieren, sagt
Gates, aber das Erstaunliche sei gewesen:
»Die Investoren haben Muilenburg diese
Geschichte abgekauft«, der Aktienkurs hat
sich zeitweise fast verdreifacht.
Jetzt erlebt Muilenburg seine erste gro-
ße Krise. Die Abstürze, das Flugverbot,
die schädlichen Berichte aus der Fabrik in
Charleston, der Unmut der eigenen Beleg-
schaft in Seattle, die von Piloten und Flug-
begleitern geführten Angriffe, die Ermitt-
lungen des Justizministeriums, all das ließ
die Umsätze des Konzerns in nie da gewe-
senem Maße schrumpfen. Ende Juli mel-
dete Boeing für das zweite Quartal einen
Rekordverlust von 2,6 Milliarden Dollar.
Selbst einen Produktionsstopp für die 737
Max kann Muilenburg nicht mehr aus-
schließen. Der Umsatzgarant des Kon-
zerns hat sich in ein Ungeheuer verwan-
delt, Boeing ist verwundbarer geworden.

20 DER SPIEGEL Nr. 32 / 3. 8. 2019


SEAN RAYFORD / GETTY IMAGES

US-Präsident Trump, Boeing-Chef Muilenburg 2017

Der Deregulierungsdrang droht die Verschmelzung von
Kontrolleuren und Kontrollierten zu beschleunigen.
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