Der Spiegel - 03.08.2019

(Nora) #1
Ingenieure und Testpiloten rund 110 000
Arbeitsstunden in die Zertifizierung.«
Grundsätzlich profitiert jeder Flugrei-
sende von Wissen, das sich auf makabre
Weise angesammelt hat. Jedes Luftfahrt-
unglück, ob es Leben gekostet hat oder
nicht, wird von Experten monatelang im
Detail untersucht. Ihnen geht es nicht
um Schuldzuweisungen – sondern darum,
Lehren zu ziehen, wie ähnliche Unglücke
vermieden werden können.
Das mit Blut bezahlte Wissen wurde bei
Behörden wie der FAA in Form komplexer
Regelwerke niedergelegt. Eines der wich-
tigsten FAA-Dokumente für die kommer-
zielle Luftfahrt nennt sich »FAR Part 25«,
es ist 240 Seiten stark. Darin steht zu lesen,
welche Sicherheitsanforderungen jedes
neue zivile Transportflugzeug zu erfüllen
hat, damit es auf die Menschheit losgelas-
sen werden darf.
Alle Warnleuchten im Cockpit müssen
rot sein, heißt es da zum Beispiel. Oder:
Ein Flugzeug muss sicher fliegen und lan-
den können, auch wenn es im Reiseflug
frontal mit einem 3,63 Kilogramm schwe-
rem Vogel zusammenprallt. Oder: Jede
Maschine mit mehr als 44 Sitzplätzen
muss am Boden innerhalb von 90 Sekun-
den evakuiert werden können.
Die Regeln aus »FAR Part 25« stellen
so etwas wie das Grundgesetz der welt-
weiten Zivilluftfahrt dar. Für Boeing indes
ist das Konvolut derzeit das größte Risiko.
Obwohl sein neuestes Geschöpf 737 Max
2017 nach dem Anforderungskatalog offi-
ziell und amtlich zertifiziert worden ist,
steht zu bezweifeln, dass diese Zulassung
statthaft war.
Beide, Boeing und FAA, haben offenbar
auf ganz unbegreifliche Weise geschlampt.
Sie haben die Standards verletzt, die sie
über Jahrzehnte entwickelt und immer
hochgehalten haben – Standards, für die
sie weltweit Vertrauen genossen.
Paragraf 25 671 von »FAR Part 25« be-
sagt zum Beispiel ausdrücklich, dass ein
Flugzeug auch dann noch sicher landen
können muss, wenn etwa eine Steuerflä-
che am Höhenleitwerk unterwegs blockie-
ren oder auf andere Weise fehlerhaft ar-
beiten sollte.
Der Weiterflug nach solch einem Ereig-
nis darf keine »außergewöhnlichen Pilo-
tenkenntnisse oder Körperkräfte« erfor-
dern. Die Manövrierbarkeit der Maschine
darf höchstens »geringfügig eingeschränkt«
sein. Und wenn eine extreme Fehlfunktion
des Steuersystems nicht äußerst unwahr-
scheinlich ist, muss die Crew Mittel und
Wege haben, die Kontrolle umgehend wie-
derherzustellen.

Es scheint nur schwer vorstellbar,dass
die 737 Max diese Zulassungskriterien er-
füllt haben soll. Was sagt die FAA dazu?
Einer, der es wissen müsste, ist Daniel El-

Titel

In Turbulenzen
Aktienkurs von Boeing, in Dollar


Gewinn/Verlust nach Quartalen, in Milliarden Dollar


Quelle: Refinitiv Datastream


2013 2014 2015 2016 2017 2018

100

200

300

400

0,9 0,9

1,6

2,8 3,0

–2,6

1,2

Quelle:
Bloomberg

verabschiedet hat. Jedes System, das ist
stets eine Grundregel der Luftfahrt ge -
wesen, muss in einem Flugzeug wenigs-
tens zweimal vorhanden sein, um etwaige
Ausfälle kompensieren zu können. So hat
die Boeing 737 Max zwei »Angle of At-
tack«-Sensoren (AoA) ziemlich weit vorn
auf der Außenhaut, unter den Fenstern
rechts und links des Cockpits, die den An-
stellwinkel der Maschine messen. Die Da-
ten der beiden Fühler gehen in das »Flight
Management System« ein, also in die
Rechner, die den Flug überwachen.
Aus bislang unerfindlichen Gründen
nutzte die MCAS-Software allerdings nur
die Information eines einzigen AoA-Sen-
sors. Ist dieser defekt, weil zum Beispiel
ein Vogel mit ihm kollidiert ist, kann sich
MCAS fälschlich aktivieren. Ohne dass die
Piloten etwas dazutun und ohne dass sie
vom Eingreifen der Automatik überhaupt
wissen, wird nun dank MCAS automatisch
die Höhenflosse verstellt. 9,26 Sekunden
übermittelt das System AND-Komman-
dos, »Aircraft Nose Down«, Nase runter.
Darauf folgen fünf Sekunden Pause, und
dann wiederholt sich das Manöver, wieder
und wieder, bis das System errechnet, dass
die Maschine wieder im Lot sei. Wenn die
Piloten wie gewohnt am Steuerhorn zie-
hen, um die Nase anzuheben, bleibt dies
ohne Wirkung. Sie riskieren sogar, dass
die vermeintliche Anti-Absturz-Automa-
tik umso kräftiger dagegenhält, weil sie
aufgrund falscher Daten errechnet, dass
Gefahr im Verzug sei.
Piloten in aller Welt haben sich beson-
ders darüber empört, dass der Konzern
die MCAS-Software vor ihnen versteckte.
Sie haben eine Sammelklage gegen Boe-
ing angestrengt. Bis November 2018, nach
dem Lion-Air-Crash, fand sich kein Wort
zu MCAS im Handbuch der Maschine.
Die Firma hat den Piloten die Existenz
des Systems verschwiegen, weil sie offen-


bar davon ausging, dass sie es in der All-
tagsfliegerei nie zu Gesicht bekommen
würden. So konnte kein Pilot je trainieren,
was bei einer falschen Aktivierung von
MCAS zu tun ist, denn MCAS gab es offi-
ziell ja gar nicht.

Wer ein Flugzeug besteigt,muss das in
der Gewissheit tun können, dass Ingenieu-
re und Konstrukteure alles Menschenmög-
liche unternommen haben, um eine siche-
re Maschine zu bauen. Jeder Flugreisende
muss sich darauf verlassen können, dass
der Flugzeugbau und -betrieb einem abso -
lut seriösen Kontroll- und Zertifizierungs-
regime unterworfen ist, dessen einzige Auf-
gabe darin besteht, Sicherheitsrisiken aus-
zuschließen. Diese Grundannahmen sind
erschüttert.
Das System der Flugaufsicht, das in
Amerika auf Drängen marktradikaler Poli -
tiker zu einem Anhängsel der Industrie
selbst geschrumpft wurde, zieht Zweifel
auf sich. Die FAA, weltweit angesehen für
die Qualität ihrer Gutachten, winkte mit
der Boeing 737 Max nachweislich ein Flug-
zeug durch, dessen Entwicklungs- und Pro-
duktionsphasen sie im Einzelnen offenbar
nicht mehr überblickte. Tatsächlich ist ein
Kontrollsystem entstanden, das den Na-
men gar nicht mehr verdient, weil sich ei -
ne Firma wie Boeing letztlich selbst kon-
trolliert und den eigenen Produkten die
Marktreife oder eben Flugtauglichkeit
bescheinigt. Ein undurchsichtiges, gefähr-
liches Spiel ist in Gang gekommen, das
Fragen nach kapitalistischer Schranken -
losigkeit aufwirft.
Konfrontiert mit diesen Vorwürfen kann
die FAA nur darauf verweisen, dass die
Zertifizierung der 737 Max den Standard -
abläufen der Behörde folgte und sich rund
fünf Jahre lang hinzog. »Während dieser
Zeitspanne«, so heißt es in der Stellung-
nahme der Behörde, »investierten FAA-

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