Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 32 DOSSIER 13


schäfer behandelt Robe in seiner kleinen Pri-
vatpraxis im souterrain seines Hauses. Im sprech-
zimmer ein ausklappbares Bett, daneben allerhand
medizinisches gerät. Hier legt der Arzt dem Pa-
tienten die Infusionen, spricht mit ihm über seine
Krankheit, erklärt die therapie, kümmert sich
stundenlang um ihn. Die Medikamente muss
Robe selbst zahlen, für die Behandlung berechnet
schäfer ihm fast nichts.
In Deutschland herrscht therapiefreiheit. Ein
Arzt darf grundsätzlich frei entscheiden, welche
therapie er anwendet und wo er behandelt. Auch
der sogenannte Off-Label-use ist erlaubt, also der
Einsatz eines Medikaments bei einer Krankheit,
für die es nicht zugelassen ist. Voraussetzung ist das
schriftliche Einverständnis des Betroffenen. Indivi-
dueller Heilversuch nennt sich das. Normalerweise
wird er bei sehr seltenen Krankheiten angewendet
oder wenn es keine andere Behandlungsmöglich-
keit mehr gibt. Ist der Patient wie etwa Heinz-Pe-
ter Kröpelin nicht austherapiert, bewege man sich
im »grenzbereich«, sagt der Medizinrechtler Hen-
ning Rosenau. Wenn der Versuch misslingt, muss
im Zweifel ein gerichtlicher gutachter prüfen, ob
das Verhalten des Arztes vertretbar war.
Bei Manfred Robe geht alles gut. Er ist heute
73 Jahre alt, der Darmkrebs ist nie wiedergekommen.
War schäfer verantwortlich für die Heilung? un-
möglich zu sagen, denn Robe hat dann doch eine
klassische Chemotherapie gemacht, später ließ er sich
auch noch operieren. Welche Mittel schäfer ihm ver-
abreichte, weiß Robe nicht mehr. trotzdem zeigt der
Fall, was schäfers Arbeit mindestens bewirkte: Die
Patienten fühlten sich ernst genommen. Bei einem
Onkologen, sagt Robe, komme man am telefon
kaum durch, wenn man eine Frage habe. schäfer sei
tag und Nacht erreichbar gewesen, habe geholfen,
wo er konnte. Robe ist sicher, seine genesung sei
»schäfers Werk«.
Mit jedem Krebsleidenden, den schäfer be-
handelt, kommen neue zu ihm. »Weit über hun-
dert Patienten« hatte schäfer, schätzt Friedrich
Brangmann. »Mehrere Dutzend auf jeden Fall«,
sagt der Bruder Walter schäfer.
Obwohl schäfer seine neue Aufgabe gefunden hat,
kehrt keine Ruhe in sein Leben ein. Von Dannenberg
zieht er mit seiner australischen Freundin ins Berg-
dorf schiers in der schweiz, arbeitet im dortigen
spital. Aber die Freundin bekommt Heimweh und
kehrt bald zurück nach Perth. Für schäfer beginnt
damit ein Leben zwischen den Kontinenten. Er ar-
beitet als Honorararzt in Krankenhäusern in Deutsch-
land, der schweiz, England, den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten, Ägypten – ein Freelancer der Medi-
zin. Zwischendurch ist er in Australien bei seiner
Lebensgefährtin. schäfer hat En gage ments in Bad
Wildungen in Hessen und in Nordenham in Nieder-
sachsen, wo er sogar Chefarzt für Anästhesie wird,
sich aber nach nur einem Monat mit der Kliniklei-
tung zerstreitet, offenbar über medizinische Fragen,
und das Krankenhaus wieder verlässt. Nebenbei be-
handelt er weiter Krebspatienten.
Es ist nicht schwer, Menschen wie Manfred
Robe zu finden, die von schäfer schwärmen. sie
alle bitten aber darum, nicht mit ihrem echten
Namen vorzukommen.


Da ist Maria schumann*, eine steuerberaterin
aus der Nähe von Hamburg, Dia gno se: Darm-
krebs mit Knochenmetastasen. Alle Chemothera-
pien scheitern, erzählt sie, dann verabreicht schä-
fer ihr über Monate die verrücktesten Medikamen-
te, »völlig abwegige Dinge«. ta blet ten, die eigent-
lich gegen Morbus Wilson helfen sollen, eine selte-
ne stoffwechselkrankheit, und gilenya, ein Mittel
gegen Multiple sklerose. Bei der nächsten Kon-
trolle, erinnert sich schumann, sei »alles in Auf-
lösung« gewesen, der tumor kaum noch zu sehen.
Die ZEIT spricht im April mit schumann, da be-
richtet sie, wie verzweifelt sie sei, nach dem, was
passiert ist, ohne schäfer dazustehen. Wenig später
stirbt sie am Krebs.
Da ist Michael Fromm*, ein Rentner aus einem
Offenburger Vorort, Dia gno se: Prostatakrebs und
gehirntumor im Endstadium. Fromm begibt sich
in schäfers Hände. Der Mann lebt noch zwei Jah-
re, obwohl die Ärzte ihm nur wenige Monate ga-
ben. schließlich stirbt Fromm 71-jährig an einem
Infekt, nicht am Krebs, so erzählt es seine Frau.
und da ist Heinrich Meier*, der im Alter von
84 Jahren eine schwellung am Hals entdeckt, ein
schon recht großes Lymphom. Auch bei Meier
empfehlen die Onkologen Chemotherapie. Meiers
tochter Hanna Wengrich* ist Apothekerin. sie
sagt, als sie hörte, was die Ärzte Meier geben woll-
ten, habe sie gedacht: »Jetzt bringen sie meinen
Vater um.« Die Ärzte hätten ein Mittel namens
Bendamustin vorgeschlagen, »ein sehr giftiger
stoff aus der gruppe der Alkylanzien«. Eine von
Wengrichs Angestellten erzählt ihr von schäfer.
Die Apothekerin und der Arzt telefonieren, und
Wengrich ist schnell überzeugt.
Ihr Vater entscheidet sich für eine Mischung aus
konventioneller Behandlung und schäfers Methoden.
Zunächst bekommt er im Krankenhaus Infusionen
mit einem Präparat namens Mabthera, auf die da-
zugehörige Chemotherapie verzichtet Meier. Die
erste Kontrolle zeigt: Der tumor hat sich kaum ver-
ändert. Dann fahren Wengrich und ihr Vater zu
schäfer. Der Arzt, erinnert sich Wengrich, habe ge-
sagt: Wir machen erst nur den halben tumor weg.
Den Rest wolle er im zweiten schritt erledigen.

A


uf die erste Behandlung durch schä-
fer folgen drei weitere Behandlungen
der konventionellen therapie mit
Mabthera. Die nächste Kontrolle
zeigt: Der tumor ist um die Hälfte
geschrumpft. Wenig später fährt Meier wieder zu
schäfer, zur zweiten Behandlung. Einige Wochen
danach folgt die nächste Kontrolle. Der tumor ist
vollständig verschwunden. Wengrich weiß bis heu-
te nicht genau, was schäfer ihrem Vater gegeben
hat. Für sie und den Vater ist dennoch klar: schä-
fers therapie hat den Krebs besiegt, nicht die Be-
handlung der Onkologen. Meier ist heute 91 Jahre
alt und laut Wengrich völlig beschwerdefrei.
Die Patienten und Angehörigen erzählen ihre
geschichten wie Belege für das Können schäfers,
sie wollen glauben, dass er es war, der die Heilung
vollbracht hat. Dabei lässt sich das unmöglich sa-
gen. Zu viele Variablen sind im spiel. Es bräuchte
sauber durchgeführte studien – und zwar eine

ganze Menge, denn schäfer hat ja ganz verschiede-
ne Krebsarten behandelt.
Die Onkologin Jutta Hübner hat angeboten,
sich die Akten der schäfer-Patienten anzusehen.
Heinrich Meier gewährte keine Einsicht. Nur in
einem Fall war der Patient beziehungsweise dessen
Familie bereit, die Akten zur Verfügung zu stellen,
doch die unterlagen waren nicht vollständig. Der
Eindruck der Krebsspezialistin: Es sei relativ wahr-
scheinlich, dass die Heilung in diesem Fall ein ver-
zögerter Effekt der strahlentherapie sei, die der
Patient zuvor bekommen hatte. Zudem habe ihm
schäfer neben seinen stoffen auch eine ganz klassi-
sche Antihormontherapie verabreicht.
Im Jahr 2016 läuft es für schäfer so gut, dass er
sogar eine Krebsklinik gründen will. Noch heute
finden sich im Netz spuren der »Krebsklinik Dr.
Dr. schäfer«, angemeldet auf eine Adresse in Müll-
heim in Baden-Württemberg. Christa Brangmann
sieht sich bereits im sekretariat der Klinik Dienst
tun. Der sohn der Brangmanns gründet schon mal
einen Online-shop, über den er die stoffe ver-
treibt, die schäfers Patienten brauchen. »Curcuma,
Vitamin C, Natrium Ascorbat, Omega 3, Luteolin
und vieles mehr!«, heißt es auf der Web site. Hanna
Wengrich, die sich während der Behandlung ihres
Vaters mit schäfer anfreundet, beschafft über ihre
Apotheke Medikamente für den Krebsheiler. sie
besorgt auch Zytostatika, obwohl sie sich doch so
sehr davor gefürchtet hat, dass ihr Vater mit sol-
chen Mitteln vergiftet werde.
Viele träumen offenbar so leidenschaftlich von
einer Zauberformel gegen Krebs, dass sie sich zu
jenen, die behaupten, sie gefunden zu haben, hin-
gezogen fühlen. so wird aus einer kleinen Idee ein
Wahnsystem, das wächst und wächst, aber auf fal-
schen Prämissen beruht. Rainer schäfer hat ein
solches system erschaffen. und Patienten, Helfer
und Vertraute wurden teil davon.
»Es gibt immer wieder kluge Kollegen, die sich
verrennen und glauben, dieses oder jenes Natur-
mittel helfe gegen Krebs«, sagt Jutta Hübner. Oft
erwische es gerade jene Kollegen, die besonders
empathisch seien und den Patienten um jeden
Preis helfen wollten. »Wenn sich ein Arzt wirklich
kümmert und dann Mittel verabreicht, können die
durchaus einen Placeboeffekt haben.«
Auch viele schulmediziner raten ihren Krebs-
patienten zu Naturheilmethoden, als Komplemen-
tärbehandlung zusätzlich zu eta blier ten Medika-
menten und Eingriffen. Einige Ärzte, sagt Hübner,
rutschten dann aber immer weiter in eine natur-
heilkundliche scheinwelt ab. »Man sieht die Erfol-
ge, hört immer wieder, dass es Patienten besser
geht. Natürlich ist dann die Verlockung groß, zu
glauben, was man sieht – und sich nicht mehr mit
den Mühen von Wissenschaft und statistik aus ein-
an der zu set zen.« Dann ist der Arzt nicht mehr weit
davon entfernt, im Netz zu verkünden, er könne
mit Kamille, Beifuß, Rotweinextrakt oder Misteln
den Krebs besiegen.
um seiner therapie endlich zum Durchbruch zu
verhelfen, wirbt schäfer um die unterstützung
Prominenter. Er schreibt an Robert De Niro und
Michael Douglas, die beide an Krebs erkrankt sind.
sie reagieren nicht. Auch an den CDu-Politiker

Wolfgang Bosbach, der an einem unheilbaren
Prostatatumor leidet, wendet schäfer sich: »Ich würde
sie aufsuchen, um Ihnen in circa einer halben stun-
de die Optionen zu erklären, welche sie haben, um
aus diesem therapeutischen teufelskreis zu kommen.«
Bosbach lehnt höflich dankend ab.
Wenn schäfer in Australien ist, vergräbt er sich
in seinem Arbeitszimmer. Das Haus, in dem er mit
seiner Lebensgefährtin wohnte, sei kaum einge-
richtet gewesen, sagt Friedrich Brangmann. Im
Wohnzimmer ein tisch, zwei stühle, überall un-
terlagen, Bücher, Dokumente. Rainer schäfers
letzter Besuch in Deutschland beginnt nur wenige
tage vor Heinz-Peter Kröpelins tod.
Ende Februar feiert die Mutter der schäfer-Brüder
ihren 90. geburtstag in Offenburg. Walter schäfer
erlebt seinen Bruder als nahezu euphorisch. »Er hat-
te das gefühl, vor dem Durchbruch zu stehen.«
Friedrich Brangmann bestätigt den Eindruck. »Es
gab keinen Krebs mehr, den er nicht behandeln konn-
te«, sagt Brangmann. Er ist noch immer überzeugt,
dass schäfer auf dem richtigen Weg war.

E


inige tage nach der geburtstagsfeier,
am sonntag, fährt schäfer mit dem
Auto nach güstrow, wo er für ein paar
Monate einen Vertretungsjob am Kran-
kenhaus angenommen hat. Im Koffer-
raum tütenweise Medikamente, die er eingelagert
hatte, die meisten abgelaufen. seinem Bruder
erzählt er, er wolle sie entsorgen. Er erreicht die
Ferienwohnung, die er gemietet hat. Wenige Mi-
nuten danach, so sagt er selbst später bei der Polizei
aus, klingelt Heinz-Peter Kröpelin.
schäfer lässt Kröpelin eine Einverständniserklä-
rung unterschreiben, in der es heißt: »Ich bin mir
bewusst, dass noch nicht alle Effekte und Neben-
effekte dieser therapie bekannt sind und dass dies
keine rein schulmedizinische Behandlung ist.«
Außerdem verpflichtet sich Kröpelin, schäfer alle
Befunde zukommen zu lassen und seinen tumor
regelmäßig überprüfen zu lassen.
Der Arzt verabreicht Kröpelin eine In fu sion,
darin befindet sich laut Polizeiprotokoll das Medi-
kament Abraxane, ein für Prostatakarzinome
nicht zugelassenes Chemotherapeutikum, dane-
ben Nifuroxazid, ein ebenfalls nicht zugelassenes
Antibiotikum, und Kortison. Die Rechnung für
das Abraxane befindet sich in der Polizeiakte,
schäfer hat es in Hanna Wengrichs Apotheke ge-
kauft, für 414,30 Euro.
In dem Moment, als Kröpelins Kreislauf kolla-
biert, klingelt schäfers telefon: Dran ist Friedrich
Brangmann. schäfer sagt, Brangmann solle einen
Krankenwagen schicken, dann versucht er, Kröpe-
lin zu reanimieren. Brangmann wählt den Notruf,
ruft wieder bei schäfer an. Er hört durchs telefon,
wie die Rettungskräfte eintreffen. Er hört mit, wie
sie um Kröpelins Leben kämpfen. Er hört das Äch-
zen des Beatmungsbeutels. schließlich habe er auf-
gelegt, sagt er.
Rainer schäfer erzählt seinem Bruder und einer
Patientin am telefon vom tod seines Patienten. Er
soll traurig geklungen haben. Kröpelin habe wahr-
scheinlich einen allergischen schock erlitten, das
sei tragisch, aber man könne so etwas nicht einmal

im Krankenhaus ausschließen. Es sei nicht seine,
schäfers, schuld. Am nächsten tag geht er zur Ar-
beit ins Krankenhaus.
Zwei tage nach Kröpelins tod zeigen dessen
Hinterbliebene schäfer an, die staatsanwaltschaft
Rostock eröffnet ein Ermittlungsverfahren wegen
fahrlässiger tötung. Die Polizei durchsucht und
versiegelt schäfers Ferienwohnung, Beamte holen
den Arzt aus einer laufenden Ope ra tion.
Fünf tage nach dem tod ihres Mannes be-
kommt Heike Kröpelin einen Brief, ein gefaltetes
weißes Blatt Papier, darauf steht mit Kugelschrei-
ber geschrieben:
»Liebe Frau Kröpelin,
Ich bitte sie um Verzeihung. Ich weiß nicht,
wie die Ob duk tion ausging, und was der grund
war, aber ich wollte Ihrem Mann nichts Böses.
Bitte glauben sie mir dies. Für mich gibt es nur
eine Lösung – ich werde Ihrem Mann folgen.
Dr. schäfer«
Am selben tag betritt die Reinigungskraft eines
Hotels in Offenburg das Zimmer 48. Rainer schä-
fer sitzt tot auf dem Bett, in Anzughose und blau-
em Pullover, den Rücken mit einem Kissen gepols-
tert. Er hat sich mit einem Narkosemittel das Le-
ben genommen.
Kröpelins Obduktionsbericht ist gut vier Monate
nach schäfers suizid fertig. Die Rechtsmediziner
gehen von einer allergischen Re ak tion aus. Die Kom-
bination aus Kröpelins Vorerkrankungen – unter
anderem litt er an einer nicht dia gnos ti zier ten Herz-
erkrankung – und den heftigen Medikamenten wie
Abraxane komme »als todesursächlich in Betracht«.
Ob der tod in einer Klinik oder onkologischen
Praxis mit mehr Personal zu verhindern gewesen
wäre, bleibt unklar. Ausführliche Herz checks sind
nur vor Chemotherapien mit bestimmten Mitteln
vorgesehen. Abraxane gehört nicht dazu.

HINTER DER GESCHICHTE

Die Ausgangsfrage: Als die Rostocker
staatsanwaltschaft die Ermittlungen
zum tod von Heinz-Peter Kröpelin
eingestellt hatte, wandten sich
die Hinterbliebenen im vergangenen
sommer an die ZEIt. sie wollten
wissen: Wer war der Arzt Rainer
schäfer, der Kröpelin behandelt hatte?

Die Recherche: Zunächst kontaktieren
die Reporter Rainer schäfers Bruder
Walter. Ein halbes Jahr später war er zu
einem gespräch bereit. Insgesamt
interviewte die ZEIt etwa 20 Personen
aus dem umfeld von Rainer schäfer.

Hinweis: Über suizide berichtet
die ZEIt nur in Ausnahmefällen.
Wenn sie sich selbst gefährdet
fühlen, kontaktieren sie bitte die
telefonseelsorge unter der
kostenlosen Hotline 0800-111 0 111.

Fotos: SFO Airport - Photo by Overview / Source imagery by Nearmap; Brian Finke (Ausschnitt)

Trotz der konventionellen Therapie war Kröpelins Tumor gewachsen. Er konnte das schwer akzeptieren Kröpelin nahm zahllose Medikamente. Er sagte: »Dr. Schäfer kann mich wieder ganz gesund machen«
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