Die Zeit - 01.08.2019

(Kiana) #1

6 POLITIK 1. August 2019 DIE ZEIT No 32


»Ihr seid keine Menschen«


Muslime werden in der chinesischen Provinz Xinjiang brutal verfolgt und massenweise in Zwangslager gesteckt. Einige Freigekommene
haben schutz im Nachbarland Kasachstan gefunden. Vier Zeugen berichten über den terror VON XIFAN YANG

CHINA

Peking
Xinjiang

Gebiete, in denen ethnische
Kasachen leben

Wie viel China für innere
Sicherheit ausgibt
(pro Kopf in Tausend Yuan)

0 0,5 1 1,

2016 2017

2 2,5 3

Xingjian

Peking
Nationaler Durchschnitt

Xinjiang

Peking
Nationaler Durchschnitt

Kasachen


ZEIT- GRAFIK/Quelle: Adrian Zenz

Tibet (Schätzung)

Almaty, Kasachstan

G


ut 350 Kilometer sind es ent-
lang des Ili-Flusses von der
chinesischen grenze bis nach
Almaty. Kasachstans bevöl-
kerungsreichste stadt, zwei
Millionen Einwohner groß,
ist zum Zufluchtsort gewor-
den für ethnische Kasachen aus der chinesischen
Provinz Xinjiang. Mehr als eine Million Kasachen
mit chinesischer staatsbürgerschaft leben in der
Volksrepublik, die meisten von ihnen sind Musli-
me. In Xinjiang werden sie ähnlich verfolgt wie die
rund elf Millionen uiguren und Angehörige ande-
rer muslimischer turkvölker: Bis zu 1,5 Millionen
Menschen werden nach schätzungen von Men-
schenrechtsaktivisten und unabhängigen For-
schern in sogenannten umerziehungslagern fest-
gehalten. Laut chinesischer Regierung dient die
Masseninhaftierung dem Anti-terror-Kampf ge-
gen islamistische separatisten, die in den vergange-
nen Jahren Anschläge in Xinjiang verübt haben.
Augenzeugenberichte und unabhängige Forschun-
gen legen aber nahe, dass es Peking vor allem um
die ideologische unterwerfung und Zwangsassimi-
lierung muslimischer Minderheiten geht.
Die ZEIT hat in Almaty ehemalige gefangene
und Angehörige von Inhaftierten interviewt. Die
kasachische Regierung hält sich mit Kritik an Peking
zurück: Präsident Nursultan Nasarbajew zählt auf
chinesische Investitionen bei der seidenstraßen-
Initiative und macht Nichtregierungsorganisatio-
nen, die sich für die Freilassung der inhaftierten
Volkszugehörigen in China engagieren, das Leben
schwer. Allenfalls hinter den Kulissen setzen sich
kasachische Diplomaten für deren Freilassung ein.
Viele ehemalige Häftlinge haben in den vergange-
nen Jahren an einem Rücksiedlungsprogramm der
kasachischen Regierung teilgenommen; den Behör-
den in Xinjiang sind längere Aufenthalte im Ausland
oder Kontakte zu Verwandten ein Dorn im Auge,
eine verdächtige Chat-Nachricht kann bereits zur
Festnahme führen. Wie viele ethnische Kasachen in
Xinjiang festgehalten werden, ist unbekannt.


Gulsija Mogdin, 38


»Ich komme aus einem Dorf in der Region Altay,
gelegen an einem see zwischen Bergen und Wäl-
dern. Meine Familie bewirtschaftete dort 13 Hektar
Land. Wir hatten Kamele, ein paar Dutzend Rin-
der, vier Pferde und etwa 50 Ziegen. Alle Menschen
in unserem Dorf sind ethnische Kasachen und
Muslime. Die meisten waren nie besonders religiös,
ich auch nicht. Die Regierung mischte sich nicht
in unser Leben ein, solange wir das gesetz achte-
ten. Im Frühjahr 2017 änderte sich alles. Es fing an
mit Fahnenzeremonien, die jeden Montagmorgen
auf dem gemeindeplatz abgehalten wurden. Wer
dreimal nicht erschien, musste mit Ärger rechnen.
Vor jedem größeren geschäft oder teehaus wurden
Checkpoints aufgestellt. Die arbeitslosen Jugend-
lichen im Dorf bekamen uniformen und Waffen.
sie waren nun die Hilfspolizei: Auf den Märkten
durchsuchten sie unsere taschen. Meldete jemand


etwas Verdächtiges, eilten sie sofort heran. Nachts
patrouillierten Polizeiautos durch jede straße.
Wenn sie an dir vorbeifuhren, durfte sich niemand
bewegen.
Mein erster Ehemann war 2014 nach einem
unfall gestorben. 2017 heiratete ich wieder, einen
kasachischen Händler, den ich in Xinjiang ken-
nenlernte. Im sommer zog ich mit meinem sohn
und meinen zwei töchtern nach Almaty hinter
der grenze. Wir heirateten auf dem Land, mit
einer traditionellen kasachischen Zeremonie. Im
Herbst fuhr ich nach China zurück, um die tiere
meines ersten Mannes zu verkaufen. Als ich am 2.
November wieder nach Kasachstan einreisen woll-
te, kontrollierte die chinesische grenzpolizei mein
Handy. In Kasachstan kommunizierte ich mit
meinem neuen Mann per WhatsApp. WhatsApp
ist aber in China gesperrt. ›Wir haben verbotene
Apps auf deinem Handy gefunden‹, sagte der Be-
amte. ›Wir müssen gegen dich ermitteln.‹ sie kon-
fiszierten meinen Pass. Ich fuhr in mein altes Hei-
matdorf zurück und musste warten. Am 20. De-
zember bemerkte ich, dass ich im vierten Monat
schwanger war. Ich ging zur Polizei und sagte: ›Ich
muss nach Kasachstan zurück, ich erwarte ein
Kind.‹ sie sagten: ›Nein.‹ Am 26. Dezember
brachte ein streifenwagen mich zur untersuchung
ins Krankenhaus. ›Du hast schon drei Kinder. Du
brauchst keine vier‹, sagten sie. ›Aber der Vater des
Kindes ist Ausländer. Er ist Kasache.‹ – ›Das spielt
keine Rolle. Du bist Chinesin‹, antworteten sie.
Ich rief meinen Bruder an und bat ihn um
Hilfe. ›Wenn deine schwester nicht gehorcht,
trägst du auch Verantwortung‹, sagten die Beamten
zu ihm. Jeder in Xinjiang weiß, was das bedeutet.
Mein Onkel war drei Monate zuvor spurlos ver-
schwunden. Am 1. Januar 2018 schickte die Fami-
lienplanungsbehörde einen Krankenwagen und
drei Polizisten. sie fuhren mich ins Krankenhaus,
dort wurde ich unter Narkose gesetzt. Die Beamtin
von der Familienplanungsbehörde sagte: ›Das ist
nicht meine Entscheidung, ich kann leider nichts
für dich tun.‹ Nach der Abtreibung wachten fünf
Beamte eineinhalb Monate lang vor dem Haus
meines Bruders. Im Mai bekam ich meinen Pass
wieder und durfte nach Kasachstan zurückfahren.
Mein Bruder wurde trotzdem abgeführt, er saß
später elf Monate in einem umerziehungslager.«

Gulsira Auelchan, 39
»Du darfst nicht sprechen. Du darfst nicht lachen.
Du darfst nicht weinen. Du darfst dich mit nie-
mandem anfreunden. Bei manchen von uns hatten
sie das arabische grußwort salam alaikum in We-
Chat-unterhaltungen gefunden. Den Koran oder
die türkische Flagge. Andere hatten zu Hause
einen Hidschab getragen oder ihre gebetsmatten
nicht gut genug versteckt. Ich habe den Fehler ge-
macht, 2017 nach China zurückzukehren, um
meinen kranken Vater zu besuchen. seit 2014 lebe
ich mit meinem sohn und meinem Mann in Ka-
sachstan. Mein Vater ist über siebzig und gelähmt.
Mein Wunsch war, ihn ein letztes Mal zu sehen.
Im Juli 2017 überquerte ich die grenze bei Chor-

gos. Der Polizist schaute sich meine Papiere an und
sagte: »Du warst in einem Land, das auf der
schwarzen Liste steht.«
Ich musste bleiben. Mein gepäck und mein
Handy wurden mir abgenommen. Ein Wagen
brachte mich in eine alte Militärschule, ein zwei-
stöckiges gebäude. Ein umerziehungslager für
Frauen mit 800 gefangenen zwischen 17 und 60
Jahren. Wir mussten rote uniformen tragen, um
fünf uhr in der Früh schrillte ein Pfeifen durch
die gänge. Jeden Morgen sangen wir ›Ohne die
Kommunistische Partei kein neues China‹. Drei-
mal in der Woche wurde ich verhört, in Hand-
schellen: ›Bist du in Kasachstan regelmäßig in die
Moschee gegangen? Hast du Verwandte in der
türkei oder in Deutschland? Liest du den Koran?‹
Die Protokolle musste ich mit meinem Finger-
abdruck signieren. Die Kasachinnen unter den
Wärterinnen waren oft rüder als die Chinesinnen.
Es gab nur vier toiletten im Hof für 800 ge-
fangene. Wenn du länger als zwei Minuten
brauchtest, schlugen dich die Wärterinnen mit
einem elektrisch geladenen stock.
Viele sind wahnsinnig geworden. sie schrien
und rissen ihre Haare aus. Eine Frau schrieb heim-
lich gedichte und versteckte sie unter der Matrat-
ze. Andere fielen bewusstlos um. Diese Frauen
wurden in andere Lager gebracht. Ich wollte mich
mehrere Male umbringen, aber wusste nicht, wo-
mit. Wenn Inspekteure zu Besuch kamen, gaben
die Wärterinnen uns Haarfärbemittel. Wir muss-
ten uns hübsch machen und unsere Zimmer mit
Blumen schmücken. Wurden wir gefragt, erzählten
wir, wie gut es uns ging. Nach drei Monaten wurde
ich in ein neues Lager gebracht und im sommer
drauf in ein drittes. Am 5. Januar 2019 bekam ich
meinen Pass zurück und wurde an die kasachische
grenze gefahren. ›Erzähl drüben nichts von deiner
Zeit hier‹, warnte mich der Beamte. ›sonst werden
deine Verwandten dafür büßen.‹«

Jerschan Kurman, 41
»Am Abend des 8. Februar 2018 holten sie mich in
einem Minibus ab. Das umerziehungslager liegt
im Landkreis Yining nahe der chinesisch-kasachi-
schen grenze, wo genau, weiß ich nicht. Es war
bereits dunkel, sie stülpten schwarze Plastiksäcke
über unsere Köpfe, Handschellen wurden uns an-
gelegt. Mit mir im Bus saßen fünf andere junge
Männer aus meinem Dorf. Wir wurden in ein ge-
bäude geführt, im Inneren nahmen sie die säcke
von unseren Köpfen. Der Raum, in dem ich die
nächsten neun Monate verbringen musste, lag im
dritten Obergeschoss und war fünf mal fünf Me-
ter groß. Auf dem türschild stand ›Nr. 12‹. Allein
auf unserer Etage waren 260 Männer unter-
gebracht. In meinem Zimmer waren wir zwölf.
später hörte ich, dass in unserem Lager mehr als
10.000 Männer inhaftiert waren.
Die toilette war ein Eimer am Fenster, es gab
kein fließendes Wasser. tagsüber saßen wir in
Reihen auf Plastikstühlen. Essen wurde uns durch
einen schlitz in der tür gereicht. Morgens um
sieben mussten wir die chinesische Nationalhymne

singen, danach hatten wir drei Minuten fürs Früh-
stück. Anschließend lernten wir Chinesisch bis um
21 uhr. unsere ›Lehrer‹ waren Kasachen oder ui-
guren. Im Zimmer wachten vier Kameras darüber,
dass wir nicht miteinander sprachen. Wer dagegen
verstieß, musste in Handschellen an der Wand
stehen. ›Ihr habt kein Recht zu sprechen, denn ihr
seid keine Menschen‹, sagten die Wärter. ›Wärt ihr
Menschen, wärt ihr nicht hier.‹
Ich bin ein normaler Bauer und habe noch nie
das gesetz gebrochen. Bis heute weiß ich nicht,
warum ich im Lager war. Die ersten beiden Monate
dachte ich an meine Frau Maynur und meine drei
Kinder. Irgendwann dachte ich nur noch an Essen.
Nach neun Monaten, am 3. November 2018, wur-
de ich entlassen. sie schickten mich in eine Fabrik,
in der Handschuhe aus Leder und Fleece produ-
ziert wurden. 53 tage arbeitete ich am Fließband,
für insgesamt 300 Yuan (36 Euro). Meine Frau
hatte es in der Zwischenzeit geschafft, einen kasa-
chischen Pass für sich und unsere Kinder zu be-
antragen. In Almaty erzählte sie den kasachischen
Behörden und Menschenrechtsaktivisten von mei-
nem Fall. Am 20. Januar 2019 bekam ich meine
Papiere zurück. Einen tag später konnte ich nach
Kasachstan ausreisen.«

Schadira Ascherbek, 32
»Mein Bruder Nabigali wird dieses Jahr 48 Jahre
alt. seit März 2018 haben wir nichts mehr von
ihm gehört. Wir stammen aus der Kleinstadt Na-
lati im Westen Xinjiangs. Mein Bruder war dort
ein angesehener Imam in seiner gemeinde. Er hat
den großen blauen Dom der Moschee in Nalati
mit spenden renoviert, er engagierte sich in der
Kommunistischen Partei. Mein Bruder war
Mitglied der Politischen Konsultativkonferenz in
Xinjiang, er war Mitglied des Volkskongresses un-
serer Präfektur. Als er jung war, saß er im Nationa-
len Jugendkomitee. Es gibt sogar ein Foto von
Nabigali, aufgenommen vor einigen Jahren, auf
dem er auf einer Parteisitzung die Hand von
Chen Quanguo schüttelt, dem Parteisekretär von
Xinjiang. Wie kann es sein, dass einem Mann wie
ihm terrorismus vorgeworfen wird?
Wir haben von Verwandten gehört, dass er im
vergangenen März von maskierten Beamten abgeholt
wurde. später verurteilte ihn ein gericht ohne Prozess
zu drei Jahren gefängnis. seither rufen wir regel-
mäßig in China an, beim Amt für öffentliche sicher-
heit und auf der Polizeistation des Landkreises. Aber
niemand gibt uns Antworten, niemand sagt, in
welches gefängnis sie ihn gebracht haben. Meine
schwägerin und die 15-jährige tochter leben immer
noch in Xinjiang. Über WeChat halten wir Kontakt,
alles, was sie uns sagen können, ist: ›Dank der Für-
sorge der Partei leben wir in sicherheit. Alles ist gut.
Macht euch keine sorgen.‹ Meine schwägerin musste
ihre Ziegen verkaufen, weil sie sich nicht mehr um
die tiere kümmern konnte. Die Moschee in Nalati,
die mein Bruder mit aufgebaut hat, wurde inzwi-
schen zerstört.«

Mitarbeit: Naubet Bisenov

Gulsira Auelchan mit
ihrer Tochter

Jerschan Kurman vor seinem
Haus am Rande von Almaty

Schadira Ascherbek und ihr
Bruder mit einem Familienfoto

Gulsija Mogdin in einem Park in der kasachischen Metropole Almaty

Fotos: Xifan Yang für DIE ZEIT (3); Naubet Bisenov für DIE ZEIT (kl., m.)
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