Die Welt Kompakt - 08.08.2019

(Michael S) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019 THEMA DES TAGES 3


Schwierigkeitsgrad. Dafür seien
aber mehr speziell ausgebildete
Kräfte notwendig, die Deutsch
als Zweitsprache lehren können,
so Riehl.
Ihre Kollegin Heike Wiese
ffforscht am Institut für deutscheorscht am Institut für deutsche
Sprache und Linguistik an der
Humboldt-Universität Berlin. An
der Debatte um den Linnemann-
VVVorstoß störe sie, dass Mehr-orstoß störe sie, dass Mehr-
sprachigkeit bei Kindern als
Manko dargestellt werde. „Wir
müssen aufhören, so zu tun, als
wären wir ein einsprachiges
Land“, sagte Wiese WELT.
„„„Wenn ich als Kind mit zwei, dreiWenn ich als Kind mit zwei, drei
Jahren in den Kindergarten kom-
me und spüre, dass eine Sprache,
die ich in der Familie spreche,
hier nichts gilt, nicht wertge-
schätzt wird – dann verstumme
ich. Das kann traumatisch sein.“
Es sei wichtig, dass möglichst
viele Erzieher in ihrer Ausbil-
dung stärker für Mehrsprachig-

keit sensibilisiert werden – oder
selbst mehrere Sprachen beherr-
schen. „Wenn in der Kita eine Er-
zieherin zum Beispiel neben
Deutsch auch Türkisch spricht,
zeigt das den Kindern: Mehr-
sprachigkeit ist normal, das ist
eine zusätzliche Ressource.“ So
könne es zum Beispiel mehrspra-
chige Bücher im Kindergarten
geben, oder Lieder könnten in
unterschiedlichen Sprachen ge-
sungen werden. „Die Erfahrung,
dass das eigene Sprachrepertoire
wertgeschätzt wird, hilft Kin-
dern enorm beim weiteren Er-
werb des Deutschen“, so Wiese.
Studien hätten beispielsweise
gezeigt, dass mehrsprachige Kin-
der in der Grundschule besser in
Mathematik seien und schneller
weitere Sprachen lernten, wie et-
wa Englisch. Die unterschiedli-
chen grammatikalischen Sprach-
systeme seien ein gutes Training
fffür das Gehirn. ür das Gehirn.

PICTURE ALLIANCE/ ZB

/ ARNO BURGI

M


issverständnisse haben
manchmal auch etwas
Gutes: Sie lösen Debat-
ten aus, die bestenfalls für Klä-
rung sorgen. Wenn eine Gesell-
schaft zweifelt, wie sie mit Pro-
blemen umgehen soll, hilft mit-
unter auch ein Blick hinüber ins
Nachbarland. In Frankreich bei-
spielsweise ist eine Debatte da-
rüber, ob man Kindern ohne aus-
reichende Französischkenntnis-
se die Einschulung verweigern
sollte, undenkbar.

VON MARTINA MEISTER
AUS PARIS

Das hat vielerlei Gründe. Der
erste hat mit dem Alter zu tun:
Die Kinder kommen nicht erst
mit sechs in die Schule, die Vor-
schule beginnt schon im Alter
von drei Jahren. Ab dem kom-
menden Schuljahr ist die Ein-
schulung mit drei sogar ver-
pflichtend. Dafür hat Präsident
Emmanuel Macron gesorgt. Die
drei Jahre umfassende Vorschule
soll in Zukunft, so Macron, eine
noch „prägendere Rolle in der
Bildung“ spielen.
Was wie eine große
Maßnahme klingt,
ist in Wahrheit eher
symbolisch: Bereits
heute besuchen 97
Prozent der Dreijäh-
rigen die école mater-
nelle. „Mit dieser frü-
hen Schulpflicht ab
September 2019 be-
absichtigen wir, Un-
terschiede auszu-
gleichen, die inak-
zeptabel sind“, sagte
Macron. Die Franzo-
sen wollen damit vor
allem dem For-
schungsstand der
Kognitionswissen-
schaften Rechnung
tragen: Die ersten
Lebensjahre sind
beim Erwerb vieler Fähigkeiten
entscheidend.
Das gilt besonders für Spra-
chen. Kinder mit Migrationshin-
tergrund, die ab drei Jahren die
französische Ganztagsschule be-
suchen und bis 16.30 Uhr im Kol-
lektiv sind, mögen zu Hause
deutsch, arabisch oder chine-
sisch reden, das Französische
wird sehr schnell dominieren
und von ihnen als die eigentliche
„Muttersprache“ empfunden
werden.
Die von Macron auf das Alter
von drei Jahren vorgezogene
Schulpflicht spiegelt den gesell-
schaftlichen Auftrag der Schule
in Frankreich und das damit ver-
knüpfte Ideal wider: Seit Einfüh-
rung der Grundschulpflicht
durch Bildungsminister Jules
Ferry 1881 gilt die französische
Schule als Integrationsmaschi-
ne. Sie wurde erdacht als „laizis-
tisch, umsonst und verpflich-

tend“. Soziale Diskrepanzen und
religiöse Überzeugungen sollten
außen vor bleiben und in der
Schule keine Rolle spielen. Auch
wenn diese Ideale heute nicht
mehr alle und auch längst nicht
mehr überall eingelöst werden,
hat der alte Anspruch überlebt,
dass die Schule für Chancen-
gleichheit sorgt. Egal, woher das
Kind kommt, das mit sechs Jah-
ren eingeschult wird, fünf Jahre
später soll es die Grundschule
als kleiner, französischer Bürger
verlassen. Nicht umsonst prangt
über jeder staatlichen Schule in
Frankreich die Devise, die an die
republikanischen Werte erin-
nert: „Liberté, Egalité, Frater-
nité“.
Das ist auch der Grund, wa-
rum Eltern in der Schule nichts
zu suchen haben. Ab der Grund-
schule müssen sie vor verschlos-
senen Türen warten, wenn sie
ihre Sprösslinge abholen wollen.
Keine Mutter darf kontrollieren,
wie das Essen in der Kantine
schmeckt und ob sich die Toch-
ter nach dem Essen brav die Zäh-
ne putzt. Den Schulhof und das

Klassenzimmer betritt man nur
selten: bei Elternabenden und
Schulfesten. Wer sich daran
stört, dass ausgerechnet am Kar-
freitag ein Faschingsumzug
stattfindet, der bekommt von
der Schulleitung eine bestechen-
de Antwort: Wenn man auf alle
religiösen Feiertage Rücksicht
nehmen würde, dann könnte
man gar nichts mehr planen.
Allein diese saubere Tren-
nung zwischen Familie und
Schule spiegelt ein gesundes ge-
sellschaftliches Selbstbewusst-
sein wider. Man geht in Frank-
reich selbstverständlich davon
aus, dass die Schule nicht nur
die Landessprache, sondern
auch die Werte der Republik zu
vermitteln hat, egal, welche
WWWertvorstellungen im Eltern-ertvorstellungen im Eltern-
haus gelten. Auch wenn Ideal
und Wirklichkeit immer häufi-
ger auseinanderdriften und in
den vergangenen Jahren ein Run
auf Privatschulen eingesetzt
hat, bleibt die staatliche Schule
das Eintrittstor in die Gesell-
schaft. Jährlich zählt die franzö-
sische Schulbehörde rund
5 0.000 Schüler, die
zugewandert sind.
Etwa die Hälfte von
ihnen besucht eine
Grundschule, die an-
dere knappe Hälfte
kommt auf die Mit-
telschule (Collège),
einige Tausend ge-
hen auf das Gymna-
sium. Für Jugendli-
che, die ohne oder
nur mit geringen
Französischkennt-
nissen ankommen,
gibt es Spezialklas-
sen.
Die Filmemache-
rin Julie Bertuccelli
hat eine solche Klas-
se in einem Pariser
Collège über ein Jahr
lang gefilmt. In ih-
rem beeindruckenden Doku-
mentarfilm „La Cour de Babel“
(Der Schulhof von Babel) zeigt
sie, wie schnell die neue Sprache
zum Bindeglied wird. Egal, was
sie nach Frankreich geführt hat,
ob Flucht vor Krieg oder die Di-
plomatenlaufbahn der Eltern, al-
le wollen mit der neuen Gruppe
verschmelzen. Die wahre Heldin
des Films ist übrigens die Fran-
zösischlehrerin: Brigitte Cervoni
berichtet von der Scham der Ju-
gendlichen, wenn sie im frem-
den Land ankommen und sich
plötzlich nicht mehr ausdrücken
können. „In einer Integrations-
klasse, wo die Schüler das Exil
und oft großes Leid erlitten ha-
ben, kommt es darauf an, ihnen
Mut zu machen und Freiraum zu
schaffen. Nur so können sie un-
sere Sprache lernen.“ Wohlwol-
len ist ein Wort, das sie benutzt.
Funktioniert offensichtlich bes-
ser als Misstrauen.

In Frankreich wäre eine


solche Diskussion undenkbar


Schulpflicht besteht im Nachbarland schon mit drei Jahren


In der école maternelle machen sich die Kinder schon
fffrüh mit der Sprache vertrautrüh mit der Sprache vertraut

PICTURE-ALLIANCE/ MAXPPP

/ FRANÇOIS DESTOC

,,


Mit dieser


frühen


Schulpflicht ab


September 2019


beabsichtigen


wir,


Unterschiede


auszugleichen,


die inakzeptabel


sind


Emmanuel Macron,
französischer Präsident

РЕЛИЗ


ПОДГОТОВИЛА

ГРУППА

"What's

News"

VK.COM/WSNWS
Free download pdf