Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.08.2019

(Joyce) #1

SEITE 2·DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019·NR. 182 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Amerikas Grundproblem ist ein Klima der Gewalt
Präsident Donald Trump will eine Gesetzesinitiative
auf den Weg bringen, die die Todesstrafe bei Hassver-
brechen in Form von Massenmord vorsieht. Die Wie-
ner Tageszeitung „Der Standard“ kommentiert so:
„Natürlich ist es nicht allein die einfache Verfügbar-
keit von Tötungsgeräten, die Amokläufe auslöst. Natür-
lich hilft es nicht bei der Gewalteindämmung, wenn
Menschen mit psychischen Problemen oft alleingelas-
sen werden. Dass akkurat Republikaner seit Jahren Gel-
der dafür streichen: Wer weiß das schon? Richtig ist,
dass es beides braucht: mehr Hilfsangebote und strenge-
re Waffengesetze. Und richtig ist auch, dass beides
nicht reicht. Das Grundproblem ist ein Klima der Ge-
walt, das sich in der politischen Sprache, in der militäri-
schen Hochrüstung der Polizei, in der systematischen
Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen abbildet –
aber auch in der Reaktion auf die aktuellen Vorfälle.
Wer ,schnellere Hinrichtungen‘ von Tätern als gangba-
ren Ausweg aus einer Gewaltkrise sieht, hat nichts ver-
standen.“


Wahlen in Putins Russland sind sinnlos
Zu den Festnahmen in Russland bei friedlichen Protest-
aktionen der Opposition für faire und freie Wahlen
meint die Madrider Zeitung „El País“:
„Die Regionalwahlen in Russland am kommenden 8.
September beunruhigen Wladimir Putin. Was hier auf
dem Spiel steht, geht über das kommunale Leben hinaus,
da sie eine Plattform bieten, um eine Alternative zu Eini-
ges Russland zu schaffen, der Partei des Präsidenten. Da-
her rührt die von den Wahlbehörden errichtete Mauer,
die jede Kandidatur für ungültig erklärt, die sich nicht
der Disziplin der Putinschen Autokratie unterwirft. In
wenigen Ländern sind Wahlen so sinnlos wie in Putins
Russland, wo die Gesetzgebung dazu dient, die Rechte
der Opposition einzuschränken und zu verhindern, dass
es eine echte Demokratie gibt. Die eiserne Faust, mit der
Wladimir Putin dieses System kontrolliert, konnte aber
die Proteste zahlreicher Bürger nicht verhindern, die sich
zunehmend über die Willkür der Macht empören, wenn
es darum geht, schlechte formale Ausreden für die Annul-
lierung alternativer Kandidaturen zu finden.“

Ein Handelskrieg birgt die Gefahr einer Rezession
Die Londoner „Times“ warnt vor den Risiken des Han-
delskonflikts zwischen Amerika und China:
„Natürlich könnten Amerika und China noch immer
einen Deal erreichen, mit dem diese Risiken beseitigt
werden. Doch das wird immer unwahrscheinlicher. Das
deutet darauf hin, dass der Handelskrieg selbst ohne
eine zusätzliche Eskalation das globale Wachstum wei-
ter bremsen wird. Und ohne einen Deal ist keine Über-
windung der verfahrenen Lage zwischen Amerika und
China in Sicht. Dadurch wird die Welthandelsorganisati-
on gelähmt, was Großbritannien angesichts der Vorbe-
reitungen auf den Brexit zutiefst beunruhigt. Unheil ver-
heißend ist die Zinsstrukturkurve in Amerika, mit der
die Spanne zwischen den Gewinnen auf kurzfristige und
langfristige US-Anleihen gemessen wird. Sie ist die ne-
gativste seit 2007. Wann immer sie in den vergangenen
50 Jahren ins Negative drehte, folgte eine Rezession.“

Indien geht ein großes Risiko ein
Die Pariser Zeitung „Le Monde“ meint zu Kaschmir:

„Mit der Aufhebung des Autonomiestatus des indi-
schen Teils Kaschmirs, des Bundesstaats Jammu und
Kashmir, geht Indien ein großes Risiko ein. Der indische
Premierminister Narendra Modi und seine rechte Hand,
Innenminister Amit Shah, wollen das nationalistische
Programm der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) vorantrei-
ben. Indem sie den Artikel 370 der indischen Verfassung
außer Kraft setzen, der der Regierung in dem Bundes-
staat mit muslimischer Mehrheit seit der Teilung In-
diens vor 66 Jahren mehr Macht verlieh, erfüllt die indi-
sche Regierung ein Wahlversprechen.“

Fließender Übergang zur Korruption
Die „Badische Zeitung“ (Freiburg) befasst sich mit
der Anklage früherer DFB-Funktionäre:
„Warum sollte ausgerechnet Deutschland ohne jegli-
che Gegenleistung an die WM gekommen sein? Die Fifa
hat ein exklusives Produkt, alle wollen es haben, wenige
besitzen die Schlüssel. Das ist der Humus, auf dem Gefäl-
ligkeiten gedeihen. Die Übergänge vom guten Geschäft
zur Korruption sind dabei fließend.“

STIMMEN DER ANDEREN


FRANKFURT,7. August. Nach Wochen
von Schuldzuweisungen und Irritationen
im türkisch-amerikanischen Verhältnis
hatte der türkische Verteidigungsminister
Hulusi Akar am Mittwoch eine gute Nach-
richt zu verkünden. Man führe in Ankara
konstruktive Gespräche mit der amerika-
nischen Delegation, und die Amerikaner
näherten sich der türkischen Position an.
In den vergangenen Tagen hatte sich
das noch anders angehört. Staatspräsident
Recep Tayyip Erdogan drohte am Sonn-
tag, er verliere allmählich die Geduld, und
die Türkei werde notfalls allein in Syrien
einmarschieren und Fakten schaffen, falls
sich die Amerikaner weiter verweigerten.
Am Dienstag präzisierte er, oberste Priori-
tät der Türkei sei, den „Terrorsumpf in
Nordsyrien auszutrocknen“. Tue man es
nicht heute, werde es morgen fällig und
habe dann einen höheren Preis. Er forder-
te die Amerikaner auf, mit denen sein Ver-
teidigungsminister seit Montag über eine
Sicherheitszone in Nordsyrien verhandelt,
sich endlich wie ein „wahrer Verbündeter“
zu verhalten.
Der Druck, den die Türkei mit der An-
kündigung eines Einmarsches in den kur-
dischen Regionen Nordsyriens aufgebaut

hat, verfehlt seine Wirkung offenbar
nicht. Zwar droht Erdogan damit seit ei-
nem Jahr. Der Truppenaufmarsch entlang
der Grenze in den vergangenen Wochen
hat die Entschlossenheit der Türkei je-
doch unterstrichen. Die Zeitung „Washing-
ton Post“ schrieb, die amerikanische Re-
gierung rechne mit dem Beginn einer Mili-
täroperation noch im August. In der Tür-
kei wird nicht ausgeschlossen, dass sie be-
reits nach dem mehrtägigen islamischen
Opferfest anlaufen könne, das am Sonn-
tag beginnt.
Erdogan will jetzt handeln, weil er
weiß, dass es umso schwieriger wird, die
kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien
zu beseitigen, je länger er damit wartet.
Getrieben wird er auch von innenpoliti-
schen Erwägungen. Denn bei den jüngs-
ten Kommunalwahlen hat seine AKP die
ersten Niederlagen seit ihrer Gründung im
Jahr 2001 einstecken müssen. Die Wirt-
schaft läuft nicht gut, der Lebensstandard
vieler Türken sinkt. Zudem nimmt in der
Bevölkerung der Unmut über die 3,6 Mil-
lionen syrischen Flüchtlinge zu. Erdogan
braucht ein Thema, bei dem er die Nation
wieder hinter sich scharen kann. Bislang
geht die Rechnung auf. Der Vorsitzende
der größten Oppositionspartei, Kemal Ki-

licdaroglu von der Republikanischen
Volkspartei (CHP), hat bereits angekün-
digt, dass er einen Einmarsch in Nord-
syrien unterstützen würde.
Auch scheint sich Erdogans Strategie
auszuzahlen, wie er den amerikanischen
Präsidenten Donald Trump, mit dem ihn
eine gegenseitige Bewunderung verbin-
det, wieder auf seine Seite ziehen kann.
Vergessen sind die zwischen Ankara und
dem Weißen Haus ausgetauschten Dro-
hungen. So hatte Erdogan im vergange-
nen Jahr einen Boykott amerikanischer
Waren gefordert, und Anfang 2019 droh-
te Trump damit, die türkische Wirtschaft
zu „zerstören“. Solche Töne sind aus dem
Weißen Haus heute nicht mehr zu verneh-
men, was Ankara als Ermutigung auf-
fasst, seine Politik durchzuziehen.
Die Aufregung um den Kauf des russi-
schen Luftabwehrsystems S-400 hat sich
vorerst gelegt, und die angedrohten Sank-
tionen sind vom Tisch. Am 25. Juli sagte
der amerikanische Außenminister Mike
Pompeo, die amerikanische Regierung er-
warte nun von der Türkei, dass die S-400,
die in Ankara eingetroffen sind, nicht akti-
viert würden. Da sie nicht vor April 2020
in Betrieb genommen werden sollen, hat
die Türkei wichtige Monate gewonnen –

zumal Erdogan Trümpfe in der Hand hält,
mit denen er den Mann im Weißen Haus
beeindrucken will. Dazu gehört die eben
von Verteidigungsminister Akar wieder-
holte Bereitschaft, nun doch das amerika-
nische Luftabwehrsystem Patriot zu kau-
fen, wie es Trump fordert. Zudem könnte
Erdogan auf die Palästinenser einreden,
dem „Jahrhundertdeal“ Trumps zur Lö-
sung des Palästinakonflikts etwas Gutes
abzugewinnen. Vor allem dürfte Trump ge-
fallen, dass die Türken Flugzeuge des an-
geschlagenen Konzerns Boeing im Wert
von zehn Milliarden Dollar kaufen wollen,
darunter den Typ 737 Max, dessen Abstür-
ze die Krise bei Boeing ausgelöst haben.
Unklar ist dennoch, wie die unvereinba-
ren Positionen von Ankara und Washing-
ton zu Syrien auf einen gemeinsamen Nen-
ner gebracht werden können. Die Ameri-
kaner schlagen eine 15 Kilometer tiefe Puf-
ferzone auf syrischem Boden vor, die von
gemeinsamen amerikanischen und türki-
schen Patrouillen kontrolliert werden soll.
Die Türkei will hingegen eine 30 Kilome-
ter tiefe „Friedenszone“, die unter ihrer al-
leinigen Kontrolle steht. Das würde aber
Krieg mit den syrischen Kurden bedeuten,
und die Amerikaner müssten sich ent-
scheiden, auf welcher Seite sie stehen.

WIESBADEN, 7. August.In Deutsch-
land leben rund 2,8 Millionen Men-
schen mit türkischem Migrationshinter-
grund, rund die Hälfte von ihnen hat
nach Angaben des Statistischen Bun-
desamts einen deutschen Pass. Viele
von ihnen verbringen in den Sommer-
monaten Zeit bei Verwandten in der
Türkei. An sie richtete nach der jüngs-
ten Festnahme eines deutschen Staats-
bürgers mit türkischen Wurzeln aus
mutmaßlich politischen Gründen der
Mitarbeiter einer Sicherheitsbehörde
eine Warnung: „Überlegen Sie es sich
gut, ob Sie derzeit in die Türkei reisen
wollen.“ Die damit verbundene Gefahr
solle „jedem klar sein“.
Der deutsche Staatsbürger Osman B.
wurde kürzlich im türkischen Antalya
festgenommen. Er war, wie nun be-
kannt wurde, bereits am 28. Juli in den
Badeort geflogen, um mit seiner Fami-
lie Urlaub zu machen. Er ist nun in An-
talya inhaftiert. B. ist 36 Jahre alt und
wohnt in Hessen, wo er als Lagerist ar-
beitete. Seit 2011 besaß er die deutsche
Staatsbürgerschaft, aus der türkischen
wurde er 2012 entlassen. Die türkische
Justiz wirft ihm Propaganda für eine
Terrororganisation vor. Er soll Inhalte
mit Bezug zur kurdischen Arbeiterpar-
tei PKK auf Facebook geteilt haben.
Die PKK ist in Deutschland als Ter-
rororganisation eingestuft. Sicherheits-
kreisen zufolge ist B. den Behörden
aber nicht als Extremist bekannt. Deut-
sche Diplomaten hätten noch keinen
Zugang zu dem Festgenommenen und
noch nicht mit ihm sprechen können,
sagte eine Sprecherin des Auswärtigen
Amtes in Berlin. Die notwendigen
Schritte für eine konsularische Betreu-
ung seien eingeleitet worden, der Fall
werde von der Botschaft in Ankara und
dem Konsulat in Antalya betreut. Vor
dem Hintergrund des Falls hob die Spre-
cherin die Bedeutung der Presse- und
Meinungsfreiheit hervor. Es handele
sich hierbei um „sehr hohe Güter“;
über das Thema sei angesichts verschie-
dener Fälle „immer wieder“ mit der tür-
kischen Regierung diskutiert worden.
In den im Frühjahr überarbeiteten
Reise- und Sicherheitshinweisen für die
Türkei warnt das Auswärtige Amt da-
vor, dass Festnahmen und Strafverfol-
gungen deutscher Staatsangehöriger in
der Türkei „vielfach“ im Zusammen-
hang mit regierungskritischen Stellung-
nahmen in den sozialen Medien erfolg-
ten. Weiter heißt es: „Ausreichend ist
im Einzelfall das Teilen oder ,Liken‘ ei-
nes fremden Beitrags entsprechenden
Inhalts.“ Auch müsse davon ausgegan-
gen werden, dass auch „nichtöffentli-
che Kommentare in sozialen Medien
etwa durch anonyme Denunziation“ an
die Behörden weitergeleitet würden.
Im Falle einer Verurteilung wegen „Prä-
sidentenbeleidigung“ oder „Propagan-
da für eine terroristische Organisation“
drohe eine mehrjährige Haftstrafe.
Wie B.s Anwalt Berthold Fresenius
dieser Zeitung mitteilte, hat sein Man-
dant gegenüber den türkischen Behör-
den Angaben gemacht und erklärt, er
„bereue“ sein Verhalten. „Angesichts
der Praxis der türkischen Justiz in politi-
schen Verfahren ist eine derartige Aus-
sage eines Familienvaters nachvollzieh-
bar“, sagte Fresenius. Die konkreten
Vorwürfe liegen dem Anwalt nicht vor
und ergeben sich nicht aus dem Verneh-
mungsprotokoll der Staatsanwalt-
schaft. Fresenius bewertet die Inhaftie-
rung als Umsetzung der Ankündigung
des türkischen Innenministers Süley-
man Soylu, Meinungsäußerungen die
türkische Regierung betreffend auch
im Ausland zu beobachten und mit
Sanktionen zu belegen. „Die faktische
Abschaffung der Meinungs- und Presse-
freiheit in der Türkei soll nicht an den
Staatsgrenzen der Republik Türkei en-
den“, sagte Fresenius.
Soylu hatte Anfang März auf einer
Kundgebung der Regierungspartei
AKP in Bezug auf Aktivitäten der PKK
in Deutschland laut Medienberichten
gesagt: „Es gibt ja Leute, die in Europa
oder in Deutschland an Kundgebun-
gen so einer Terrororganisation teil-
nehmen und dann nach Antalya, Bo-
drum oder Mugla kommen, um Urlaub
zu machen.“ Für diese seien nun „Maß-
nahmen“ getroffen. Diese sollten ru-
hig kommen, dann würden sie festge-
nommen. „Im Ausland Verrat zu bege-
hen und dann in der Türkei das Leben
zu genießen, ist ab jetzt nicht mehr so
einfach.“
Derzeit befinden sich nach Angaben
des Auswärtigen Amtes 61 deutsche
Staatsangehörige in türkischer Haft.
Zudem bestehen in 41 Fällen Ausreise-
sperren. Zu den jeweiligen Haftgrün-
den gibt es keine Informationen;
„nicht in jedem Fall sind die den Ver-
haftungen zugrunde liegenden Vorwür-
fe mit den der Bundesregierung vorlie-
genden Erkenntnissen bewertbar“,
heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Da-
her würde die Aussagekraft einer Bezif-
ferung von Haftgründen „der Vielfalt
der Haftfälle von politischer und huma-
nitärer Relevanz nicht gerecht“. Die
Zahl der aus politischen Gründen In-
haftierten beträgt sieben. Die Haftfälle
bildeten „weiterhin ein schwieriges
Thema in unseren Beziehungen zur
Türkei“. Man sei im Gespräch mit An-
kara und setze sich mit Nachdruck für
eine Lösung ein.

BERLIN, 7. August. Frank-Walter
Steinmeier ist ein Wessi. 1956 wurde er
im nordrhein-westfälischen Brakelsiek,
Kreis Lippe, geboren. Seine Vorfahren
waren Landwirte in der Region. Immer-
hin: Seine Mutter stammt aus Breslau,
es gibt also eine kleine östliche Kompo-
nente. Er stieg auf in Westdeutschland,
bis zum Chef des Kanzleramtes in
Bonn. Er ist ebenso eindeutig west-
deutsch sozialisiert, wie sein Vorgänger
Joachim Gauck ein Ostdeutscher ist.
Damit soll es genug sein mit den her-
kunftsbedingten Festlegungen. Denn
ebenso wie Gauck nicht nur Ost-, son-
dern auch Norddeutscher ist und ge-
samtdeutscher Bundespräsident war,
ist der 63 Jahre alte Steinmeier in den
zurückliegenden zwei Jahrzehnten von
seinem Lebensmittelpunkt Berlin aus
intensiv mit Ostdeutschland in Berüh-
rung gekommen. Als Bundestagsabge-
ordneter hatte er seinen Wahlkreis in
Brandenburg an der Havel. Als Außen-
minister waren zwar seine Möglichkei-
ten endlich, sich im Wahlkreis blicken
zu lassen, aber zwischen den Reisen
nach Moskau, Washington oder Peking
gab er sich Mühe, gelegentlich an der
Parteibasis vorbeizuschauen. Dort wur-
de er als Stimmenmagnet geschätzt.
Dieser Bundespräsident will nun an
den Mauerfall vor drei Jahrzehnten er-
innern. Freilich wird seit 1990 alljähr-
lich des historischen Ereignisses ge-
dacht. Auch als Präsident tritt Stein-
meier in dieser Disziplin nicht zum ers-
ten Mal an. Als er am 3. Oktober 2017
zum Tag der Deutschen Einheit
sprach, sagte er: „Ostdeutsche haben
nach der Wiedervereinigung Brüche er-
lebt, die meine Generation im Westen
nie kannte.“ Er erinnerte damals dar-
an, dass mancher Ostdeutsche die
neue Lebenswirklichkeit nach der Wen-
de nicht nur als „Ziel von Sehnsucht“
empfunden habe, sondern auch als Zu-
mutung.
Dieser Haltung scheint der Bundes-
präsident treu zu bleiben. Die von
Steinmeier und seiner Mannschaft für
die Zeit vom Jahrestag des Mauerbaus,
dem 13. August, bis zum 5. November
geplante Diskussionsreihe im Schloss
Bellevue mit dem Titel „Geteilte Ge-
schichte(n)“ findet vor der Kulisse drei-
er Landtagswahlen in Ostdeutschland
statt, bei denen vermutlich auch jene
politischen Kräfte erheblich dazuge-
winnen werden, welche die scharfe Kri-
tik mancher Ostdeutscher an der Ent-
wicklung der Einheit und der Demo-
kratie in Deutschland schüren. Das gilt
vor allem für die AfD.
Vor diesem Hintergrund wirkt die
aus vier Gesprächsrunden bestehende
Reihe etwas präsidial-distanziert von
der harten politischen Wirklichkeit.
So hat Steinmeier bekannte Journalis-
ten, Autorinnen und Autoren, Filme-
macher und zwei Köche aus Ost und
West auf die Bühne gebeten. Zwei
Stunden – plus Empfang, wie es im
Präsidialamt heißt – werde jeweils dis-
kutiert. Beim ersten Treffen will sich
auch Steinmeier ausführlicher vor den
200 Gästen äußern. Bei den nächsten
drei Begegnungen sollen nur ungefähr
50 Gäste dabei sein.
Das Publikum soll ausgiebig in die
Diskussion einbezogen werden. Mit
diesem Hinweis begegnet man im Bun-
despräsidialamt der Frage, ob man
denn mit dem Veranstaltungskonzept
nah genug dran sei an den Landtags-
wahlen und der scharfen Kritik am Zu-
stand der Demokratie in Deutschland,
die nicht nur, aber besonders laut in
Ostdeutschland zu hören ist. Das Publi-
kum hat ausschließlich das Präsidial-
amt ausgesucht. Wer genau kommt,
will man nicht verraten. „Lassen Sie
sich überraschen“, heißt es. Genannt
wird der Name des früheren branden-
burgischen Ministerpräsidenten Mat-
thias Platzeck (SPD). Die Menschen,
mit denen man reden wolle, müssten
„eine gewisse Empfänglichkeit“ ha-
ben, heißt es. So viel dann aber doch:
„Wir werden dafür Sorge tragen, dass
kritische Stimmen Gehör finden.“ Mit-
glieder aller Fraktionen des Bundes-
tages wurden eingeladen – einschließ-
lich der AfD.


Ein Präsident verliert die Geduld


Die Türkei droht mit einem Einmarsch in Nordsyrien, den Amerika verhindern will / Von Rainer Hermann


ROM,7. August


D


as abweichende Abstimmungsver-
halten des Koalitionspartners wer-
de „Konsequenzen haben“, sagte
Massimiliano Romeo, Fraktionschef der
rechtsnationalistischen Lega im Senat.
Nach Abschluss der turbulenten Sitzung
vom Mittwoch – der letzten vor den Parla-
mentsferien – wurde Romeo gefragt, um
welche Konsequenzen es sich dabei han-
deln werde. Seine Antwort: „Darüber
wird Salvini entscheiden.“ Kurz zuvor
war es zum eklatantesten Dissens zwi-
schen der von Innenminister Matteo Salvi-
ni geführten Lega und der linkspopulisti-
schen Fünf-Sterne-Bewegung unter Ar-
beitsminister Luigi Di Maio seit dem Be-
ginn der Regierungszusammenarbeit der
ungleichen Partner vom Juni 2018 gekom-
men. Es ging um die Fertigstellung einer
Trasse und eines Tunnels für Hochge-
schwindigkeitszüge zwischen Turin und
Lyon.
Die Fünf Sterne sind seit Jahr und Tag
gegen den „Treno ad Alta Velocità“
(TAV), sie betrachten das Milliardenpro-
jekt als verkehrspolitisch überflüssig und
als Umweltdesaster dazu. Die Lega – und
fast alle anderen im Parlament vertrete-
nen Parteien – betrachtet den TAV dage-
gen als nötigen Schub für Italiens Infra-
struktur und Wirtschaft und ist für die bal-
dige Fertigstellung des Gemeinschaftspro-
jekts mit Frankreich und der EU. Die Idee

zum Bau der Bahnverbindung ist mehr als
zwei Jahrzehnte alt. Die Strecke soll die
Zugfahrten zwischen Lissabon, Barcelo-
na oder Paris und Mailand oder Venedig
verkürzen. Zudem sollen mehr Güter von
der Straße auf die Schiene gebracht wer-
den. Den Vertrag über den Bau der Stre-
cke haben die Regierungen in Rom und
Paris schon im Januar 2001 unterzeich-
net. Danach übernimmt Frankreich 25
Prozent der Baukosten für den etwa 58 Ki-
lometer langen Basistunnel, Italien 35
Prozent. Die EU finanziert das Projekt zu
40 Prozent. Der transalpine Tunnel ist das
Kernstück der insgesamt 270 Kilometer
langen Trasse, er allein kostet etwa 8,
Milliarden Euro.
Für die Fünf-Sterne-Bewegung, 2009
von Beppe Grillo gegründet, gehört der
Widerstand gegen den TAV zum politi-
schen Erbgut. Grillo bringt gegen den
TAV seit je das Argument in Anschlag, es
sei sinnlos, „wenn unser Büffelmozzarel-
la mit Tempo 300 durch den Berg in Rich-
tung Frankreich rast“. Seit dem Regie-
rungsantritt der Koalition vom Juni 2018
hatten alle Minister der Fünf Sterne so-
wie auch der den Fünf Sternen naheste-
hende, aber parteilose Ministerpräsident
Giuseppe Conte am Widerstand gegen
den TAV festgehalten. Doch Ende Juli
kippte Conte um und sprach sich für die
Fertigstellung der Strecke und des Tun-
nels aus: Ein Abbruch der Arbeiten wäre
für Italien teurer als deren Weiterfüh-
rung, sagte Conte. So argumentieren die

Lega und Innenminister Salvini seit je:
Vertragsstrafen und Rückzahlungen von
EU-Mitteln würden den italienischen
Steuerzahler mehr kosten als die Fertig-
stellung der Bahnstrecke.
In der Sitzung vom Mittwoch hatten
die Senatoren zunächst über den Antrag
der Fünf Sterne zu befinden: sofortiger
und endgültiger Baustopp für den TAV.
Der Antrag fiel erwartungsgemäß durch,
nur 101 Senatoren (fast alle von den Fünf
Sternen) stimmen mit Ja, 181 mit Nein.
Dann kamen die Gegenanträge an die Rei-
he, eingebracht allesamt von der Oppositi-
on und allesamt für die Fertigstellung der
Schnellbahnstrecke – zuerst von den Sozi-
aldemokraten, dann von den Linken,
dann von den Neofaschisten und schließ-
lich von den Konservativen.
Alle vier Anträge erhielten die erforder-
liche Mehrheit zwischen 180 und 182
Stimmen. Die Lega, die keinen eigenen
Antrag eingebracht hatte, stimmte je-
weils mit der Opposition und setzte so ih-
ren Willen gegen den Koalitionspartner
durch. Zwei Tage zuvor hatten die Fünf
Sterne im Senat noch mit der Lega für die
von Salvini gewünschte Verschärfung des
sogenannten Sicherheitsgesetzes ge-
stimmt. Das Gesetz ist in erster Linie
dazu da, mit der Androhung drakonischer
Strafen privaten Seenotrettern im Mittel-
meer das humanitäre Handwerk zu legen.
Für den gewieften Machtpolitiker Salvi-
ni ergibt sich nach den beiden letzten Se-
natssitzungen vor der Sommerpause ein

erfreuliches Tableau: Entweder spurt der
verängstigte Koalitionspartner, oder er
holt sich die für wechselnde Mehrheiten
erforderlichen Stimmen bei der zer-
knirschten Opposition. Schon vor der Ab-
stimmung über den TAV vom Mittwoch
hatte Salvini gedroht, wer gegen das Pro-
jekt stimme, stimme auch gegen die Regie-
rung. Das entspricht den Tatsachen, denn
Ministerpräsident Conte hatte sich ja
Ende Juli für das Projekt ausgesprochen.
Damit hatte Conte vor allem Verkehrs-
minister Danilo Toninelli von den Fünf
Sternen düpiert. Der blieb bei seiner Hal-
tung und stimmte am Mittwoch für den
Baustopp. Vieles spricht dafür, dass Salvi-
ni nach den Sommerferien – als „Konse-
quenz“ aus dem Abstimmungsverhalten
der Fünf Sterne – den Kopf Toninellis
und das Verkehrsressort für die Lega for-
dern wird. Oder er könnte die Regierung
platzen lassen und mit seinen fast 40 Pro-
zent Zustimmung bei jüngsten Umfragen
nach vorgezogenen Wahlen noch in die-
sem Jahr selbst Chef einer neuen rechten
Koalitionsregierung werden.
In italienischen Pressekommentaren
heißt es, Salvini habe in den vergangenen
Wochen seinen Koalitionspartner förm-
lich „verspeist“. Zum Abschluss der Sit-
zung vom Mittwoch wünschte Senatspräsi-
dentin Maria Elisabetta Casellati den
Volksvertretern „schöne Ferien“ und läute-
te das Glöckchen. Salvini dürfte seinen gu-
ten Appetit über die Zeit des Strandur-
laubs hinaus konservieren. (Kommentar
Seite 8.)

Einheit als


Zumutung


Wie Steinmeier mit Gästen


über den Mauerfall spricht


Von Eckart Lohse


Gefängnis


statt Urlaub


Die Behörden warnen vor


Reisen in die Türkei


Von Julian Staib


Nach den Ferien könnten Köpfe rollen

Alle Fäden laufen bei ihm zusammen:Salvini bei der letzten Senatssitzung vor der Sommerpause am Mittwoch Foto dpa


Italiens ungleiche


Koalitionspartner


gehen im offenen Streit


über die Schnellbahn


Turin–Lyon in die


Sommerpause. Matteo


Salvini ist dabei der


große Gewinner.


Von Matthias Rüb


LyonLyon

Chambéry

GenfGenfer Seeer See

Avressieux
Saint Jean
de Maurienne

Chambéry
Avressieux
Saint Jean
de Maurienne
SusaSusa

FRANKREICH
ITALIEN

FRANKREICH
ITALIEN

SCHWEIZSCHWEIZ

F.A.Z.-Karte lev.

TurTurinin

1 00 km
F.A.Z.-Karte lev.F.A.Z.-Karte lev.

100 km
F.A.Z.-Karte lev.

100 km

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Umstrittener Basistunnel

Geplante Bahnstrecke
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