Frankfurter Allgemeine Zeitung - 08.08.2019

(Joyce) #1

SEITE 8·DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019·NR. 182 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


A


n der Krise in der Straße von
Hormuz wird auch dieses deut-
lich: In Deutschland fehlt es an
einer kontinuierlichen strategischen De-
batte und damit an der Vorbereitung auf
Szenarien, die klar definierte deutsche
Sicherheitsinteressen gefährden könn-
ten. Die Freiheit von internationalen
Transport- und Handelswegen ist im
Weißbuch der Bundesregierung 2016
unmissverständlich festgehalten. Nun
tritt am Golf ein entsprechendes Szena-
rio ein, und der Vorhang fällt sogleich.
Deutschland ist leider wieder unvorbe-
reitet im Modus des Krisenmanage-
ments.
Diese Strategielosigkeit kann sich
Deutschland nicht länger leisten. Alle
verlässlichen Anker deutscher Außen-
und Sicherheitspolitik haben inzwischen
ihren festen Halt verloren: die transatlan-
tische Partnerschaft, der Zusammenhalt
der Europäischen Union, die Stabilität
der Nato, der Multilateralismus und da-
mit die liberale, regelbasierte internatio-
nale Ordnung. Die Iran-Krise führt uns
diese Umbrüche schonungslos vor Au-
gen. Es ist höchste Zeit für Deutschland,
auf diese Umbrüche angemessen zu rea-
gieren, da wir wie kaum ein anderes
Land von ebendiesen verlässlichen An-
kern profitiert haben.
Trotz Flüchtlingskrise, trotz Erosion
des gegenseitigen Vertrauens der Nato-
Partner, trotz fortgesetzter Intervention
Russlands in der Ukraine ist kein Um-
denken im öffentlichen Diskurs erkenn-
bar. Wohlstand und Sicherheit sind un-
mittelbar miteinander verbunden, je-

doch wird ein stärkeres sicherheitspoliti-
sches und militärisches Engagement
mit großer Skepsis, ja mit Ablehnung be-
trachtet.
Benötigt wird zunächst eine Strategie,
die klare Prioritäten, Ziele und Mittel for-
muliert. Dokumente der einzelnen Res-
sorts und eine Globale Strategie der EU
von 2016 sind vorhanden. Es fehlt in
Deutschland jedoch an einer ausgepräg-
ten „strategischen Kultur“, die eine trans-
parente öffentliche Debatte zulässt, stän-
dige ressortübergreifende Zusammenar-
beit verlangt und schließlich eine perma-
nente Reflexion ermöglicht.
Zentraler Ort, um eine solche Kultur
zu verankern, ist das Parlament. Die Ab-
geordneten legitimieren die Außenpoli-
tik, kontrollieren die Bundesregierung
und stellen die Mittel für das Handeln be-
reit, während sie gleichzeitig ihren Wäh-
lern Rede und Antwort stehen müssen.
Doch die Rolle des Bundestages
schrumpft auf die Mandatierung von 18
militärischen Auslandseinsätzen, wäh-
rend das große Ganze des außenpoliti-
schen Engagements der Bundesregie-
rung nicht in den Blick genommen und
politikfeldübergreifend diskutiert wird.
Eventuell kommt in der Straße von Hor-
muz ein neunzehnter Einsatz hinzu.
Die veraltete dezentrale Betrachtung
in Ressortzuständigkeiten, die thema-
tisch abgesteckte Ausschussarbeit und
die veraltete Ansicht, Außen- und Innen-
politik voneinander trennen zu können,
verhindern es, Außen- und Sicherheits-
politik ganzheitlich zu erfassen. So
bleibt vieles im Silodenken verhaftet,
wodurch die politische Debatte sich

stets mit Teilaspekten beschäftigt, statt
die eigentliche Frage zu behandeln, wel-
che außenpolitischen Ziele wir strate-
gisch wie erreichen wollen.
Der Bundestag muss zum Zentrum ei-
ner strategischen Debatte avancieren
und seine Rolle als Kontrollinstanz der
Bundesregierung auch im Bereich der
Außenpolitik besser wahrnehmen. Ziel
muss es sein, dass sich Bundestag und
Bundesregierung ergänzen, indem sie
sich gegenseitig zu einer grundsätzli-
chen strategischen Ausrichtung der Au-
ßenpolitik zwingen. Hierfür wird es nö-
tig sein, neue Formate einzuführen.
Eine jährliche Grundsatzdebatte zu
außen- und sicherheitspolitischen Fra-
gen böte die Möglichkeit, einen Über-
blick über das Gesamtengagement der
Bundesrepublik im Ausland zu erhalten
und kritisch zu diskutieren. Die Manda-
tierungen deutscher Auslandseinsätze
würden so endlich in einen sinnvollen
Kontext eingebettet: als (kleiner) Teil ei-
nes vernetzten Ansatzes.
Ferner wäre ein Bericht von unabhän-
giger Seite vonnöten, der das deutsche
Engagement anhand globaler Trends
und Entwicklungen strategisch analy-
siert und bewertet. Denkbar ist die Ein-
richtung eines Sachverständigenrates,
der sich aus Fachleuten für internationa-
le Politik, Wirtschaft, Entwicklung, Si-
cherheit und Umwelt zusammensetzt.
Diesem Rat könnte ein Beirat aus Vertre-
tern der Bundesregierung, der Ausschüs-
se sowie ehemaligen Diplomaten oder
Ministern zur Seite gestellt werden, der
den Fachleuten Zugang zu den Entschei-
dungsträgern ermöglicht und gleichzei-

tig die ressortübergreifende Koordinie-
rung fördert.
Gelänge es, künftig klare Ziele, Mittel
und Wege festzulegen, an denen sich
deutsche Außenpolitik orientiert, wird
auch eine transparente öffentliche De-
batte möglich. Parlamentarier könnten
auf dieser Grundlage nachvollziehbar er-
klären, was durch deutsche Außenpoli-
tik erreicht werden soll, Unterstützung
für eine außenpolitische Ausrichtung ge-
winnen und eine fehlgeleitete außenpoli-
tische Strategie anpassen.
Werden die Parameter einer strategi-
schen Außenpolitik nicht klar definiert,
reduzieren sich Debatten wie die über
das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zur Erhö-
hung des Verteidigungsetats auf das Mili-
tärische. Dieses Ziel ist aber ein Mosaik-
stein in einem größeren Puzzle aus diplo-
matischen, politischen und entwick-
lungspolitischen Maßnahmen, die im
besten Falle für das gemeinsame Ziel zu-
sammenwirken: den Erhalt eines friedli-
chen Europas.
Deutschland muss einen Weg heraus
aus dem Krisenmanagementmodus fin-
den und zusammen mit den europäi-
schen Partnern seinen Platz am Tisch
der Mitgestalter der internationalen
Ordnung einnehmen. So klein unser
Einfluss letztendlich auch sein mag:
Bleiben wir Zaungast, riskieren wir es,
dass Deutschland und die EU zum Spiel-
ball der Großmächte werden und der
Westen als Einheit erodiert.
James D. Bindenagelist Professor an der
Universität Bonn und früherer amerikanischer
Botschafter.Roderich Kiesewetter(CDU) ist
Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

I


m Herbst vergangenen Jahres hielt
der amerikanische Vizepräsident
Pence eine Rede, die weithin als erster
Fanfarenstoß in einem neuen Kalten
Krieg aufgenommen wurde, in einem
Großmächte-Konflikt, in dem es nicht
mehr um Zölle und auch nicht mehr
nur um die chinesische Wirtschaftspoli-
tik gehen würde, sondern um geopoliti-
sche und, nicht zuletzt, um technologi-
sche Suprematie im 21. Jahrhundert.
Amerika oder China! Ein knappes Jahr
später droht der Streit abermals besorg-
niserregend zu eskalieren. Wieder ist
von Handels-, nun auch von Währungs-
krieg die Rede. Verteidigungsminister
Esper, der in Asien um die Unterstüt-
zung der Verbündeten Amerikas für al-
lerlei Vorhaben wirbt, hat Peking räube-
rische Wirtschaftspolitik und militäri-
sche Aggression vorgeworfen. An bei-
den Vorwürfen ist etwas dran. Was die
amerikanischen Klagen über die chine-
sische (Außen-)Wirtschaftpolitik anbe-
langt, so wären sie noch glaubwürdiger,
wenn da nicht der Vertreter einer Regie-
rung spräche, die selbst die regelbasier-
te internationale Ordnung für etwas
hält, was man beachten kann – oder
auch nicht; gerade wie es passt. K.F.


W


ie viele deutsche Staatsbürger
derzeit aus politischen Gründen
in der Türkei inhaftiert sind, ist nicht
bekannt. Ihre Zahl liegt mutmaßlich
bei knapp zehn. Immer wieder wird
eine Person verhaftet, wie auch jetzt,
und andere werden auf freien Fuß ge-
setzt. Es ist das Recht jedes Staates,
Bürger festzunehmen und diese der Jus-
tiz zu überantworten, gleichgültig wel-
cher Nationalität, wenn sie gegen die
Gesetze des Landes verstoßen haben.
Bedenklich ist jedoch, wenn dieser
Staat, in diesem Fall die Türkei, auslän-
dische Besucher festnimmt, eine An-
klage ausbleibt und der Vorwurf der
Unterstützung des Terrorismus nicht
hieb- und stichfest belegt wird. Die po-
litisch motivierten Festnahmen auslän-
discher Besucher in der Türkei zeigen,
in welchem Maße die Justiz politisiert
ist und wie Staatsanwälte und Richter
in vorauseilendem Gehorsam das tun,
von dem sie glauben, es sei im Sinne
des türkischen Präsidenten. Möglicher-
weise dient das Vorgehen aber auch
der Einschüchterung der Menschen,
die hierzulande davon abgehalten wer-
den sollen, ihre politischen Sympa-
thien offen zu zeigen. Her.


B


is Ende August werde man es wis-
sen, lässt Italiens Innenminister
Matteo Salvini wissen: Ob es zu Neu-
wahlen kommt und er hernach Minis-
terpräsident wird. Der Chef der rechts-
nationalistischen Lega, beflügelt von
Wahlerfolgen und hohen Zustimmungs-
werten, treibt seinen linkspopulisti-
schen Koalitionspartner Fünf Sterne
vor sich her. Längst hat er die „Richtlini-
enkompetenz“ an sich gerissen, von der
Immigrationspolitik über Infrastruktur-
projekte bis zum Budgetplan für das
kommende Haushaltsjahr. Im Bündnis
mit der Lega drohen die Fünf Sterne zu
verglühen, nennenswerten Widerstand
leisten sie nicht mehr. Doch ganz so
frei, wie er vorgibt, kann Salvini nicht
schalten. Vorgezogene Wahlen be-
raumt der Präsident an. Sergio Mattarel-
la ist zwar alles andere als ein aktivisti-
sches Staatsoberhaupt. Aber mit ihm
kann Salvini nicht so rumspringen wie
mit seinen eingeschüchterten Regie-
rungspartnern. Sollte die Koalition zer-
brechen, könnte Mattarella eine Über-
gangsregierung aus Fachleuten beru-
fen. In Italien ist schon mancher sehr
hoch geflogen und dann ganz schnell
ganz tief gefallen. rüb.


Am 28. September um 15.30 Uhr wird
es ernst für Carsten Linnemann. Dann
kommt hoher Besuch in seine Heimat-
stadt. Deren Fußballclub SC Pader-
born empfängt an jenem Nachmittag
den deutschen Rekordmeister Bayern
München. Linnemann ist begeisterter
Fußballspieler, hat einen C-Trainer-
schein und ist Mitglied in gleich zwei
Vereinen. Im SC Paderborn – und bei
den Bayern.
Für ihn dürfte ein Traum in Erfül-
lung gegangen sein, als die Paderbor-
ner zur jetzt beginnenden Bundesliga-
saison in die erste Liga aufstiegen.
Jetzt muss der CDU-Bundestagsabge-
ordnete nicht mehr warten, bis es im
DFB-Pokal-Viertelfinale mal zu einer
Begegnung dieser Art kommt (im Fe-
bruar vorigen Jahres endete sie mit 0:
aus Sicht von Paderborn), sondern
kann sich regelmäßig darauf freuen.
Die Frage „erste Liga?“ stellt sich
bei Linnemann schon seit langem. Im
Berliner Politikbetrieb ist er in der Uni-
onsfraktion des Bundestags Stamm-
spieler. 2009 gewann er in Paderborn
mit mehr als 52 Prozent ein Direktman-
dat. Der 1977 geborene promovierte
Volkswirt, dessen Familie eine Buch-
handlung besitzt, machte sich einen
Namen als Wirtschafts- und Mittel-
standspolitiker, trat aber auch mit Vor-
schlägen zur Vereinfachung des Ren-
ten- und Steuersystems hervor. Einem
größeren Publikum fiel er auf, als er
sich gegen die Strategie von Bundes-
kanzlerin Angela Merkel zur Stabilisie-
rung der Eurozone stellte und dieser
im Bundestag mehrfach die Zustim-
mung verweigerte. Er ist stellvertreten-
der Fraktionsvorsitzender, genießt
eine hohe Präsenz in den Medien, wird
aber gleichwohl nicht genannt, wenn
es um höhere Führungsämter, gar Mi-
nisterposten geht.
In jüngerer Zeit nahm sich Linne-
mann, der Vorsitzender der CDU-Mit-
telstandsvereinigung ist, zunehmend
häufig des Themas Einwanderung und
Integration an. In diesem Jahr gab er
zusammen mit dem ehemaligen bayeri-
schen Justizminister Winfried Baus-
back (CSU) ein Buch mit dem Titel
„Der politische Islam gehört nicht zu
Deutschland“ heraus. Als Beitrag zur
Integrationsdebatte will Linnemann
auch jene Äußerung verstanden wis-
sen, die seit Tagen für Aufregung sorgt.
Allerdings auch, weil es in der Som-
mer- und Ferienzeit gerade keine gro-
ße thematische Konkurrenz auf der
Berliner Bühne gibt.
Linnemann hatte gesagt, Kinder, die
kaum Deutsch sprächen, sollten noch
nicht zur Grundschule gehen. Er hatte
eine „Vorschulpflicht“ ins Spiel ge-
bracht, gegebenenfalls müsse die Ein-
schulung zurückgestellt werden. Dar-
aus war der Begriff „Grundschulver-
bot“ gemacht worden. Linnemann sag-
te dem Deutschlandfunk, dass er das
nie gesagt habe. Er habe nicht damit ge-
rechnet, dass seine Äußerung solche
Wellen schlage. Selbst wenn man ihm
das abnimmt, bleibt Verwunderung.
Ein Bundestagsabgeordneter, der so
viel Erfahrung im Umgang mit Medien
hat, hätte auf die Idee kommen kön-
nen, dass es bei diesem Thema schnell
hoch hergeht. ECKART LOHSE

Vorwürfe


Carsten LINNEMANN Foto Imago


ROM, 7. August


A


ls Wladimir Putin am 4. Juli in
Rom war, konnte er sich vor
Freundschaftsbezeugungen kaum
retten. Zunächst war der russische Präsi-
dent beim Papst. Der Kreml-Herrscher un-
terhält nach eigenen Angaben eine „war-
me“ Beziehung zu Franziskus. Putins Ge-
spräch mit ihm „über Angelegenheiten
der Welt“ dauerte, wie bei früheren Tref-
fen, mehr als eine Stunde. Franziskus
schien es Putin nicht übelzunehmen, dass
dieser zum wiederholten Male erheblich
verspätet zum Gesprächstermin eingetrof-
fen war.
Nach dem Treffen mit Franziskus
schlossen sich für Putin an: Gespräche mit
Präsident Sergio Mattarella, mit Minister-
präsident Giuseppe Conte sowie mit den
beiden stellvertretenden Regierungschefs
Luigi Di Maio von der linkspopulistischen
Fünf-Sterne-Bewegung und Matteo Salvi-
ni von der rechtsnationalistischen Lega.
Zu einem späten Dinner kam Putin mit
dem früheren Ministerpräsidenten und
frisch gewählten Europaabgeordneten Sil-
vio Berlusconi zusammen. Putin pries sei-
nen langjährigen Freund Berlusconi als
„Politiker von Weltformat“ und „wahren
Anführer“. Berlusconi schwärmt seiner-
seits seit Jahr und Tag für Putin, zu dem er,
so er selbst, „eine wirkliche, persönliche
Freundschaft“ unterhält.
Nicht nur die Fünf Sterne und die Lega,
die beiden Partner der panpopulistischen
Regierungskoalition in Rom, bekräftigten
beim Besuch Putins ihre Forderung nach ei-
nem Ende der EU-Sanktionen gegen Russ-
land, die seit 2014 wegen der russischen
Besetzung und Annexion der ukrainischen
Halbinsel Krim gegen Moskau verhängt
wurden. So wird im Koalitionsvertrag vom
Juni 2018 ausdrücklich die „Öffnung gegen-
über Russland“ gefordert, Moskau dürfe
„nicht als Bedrohung“, sondern müsse „als
Handels- und Wirtschaftspartner“ betrach-
tet werden. Auch Berlusconi geißelte die
Sanktionen abermals als sinnlos und kon-
traproduktiv. Die Europäer dürften Mos-
kau nicht in die Arme Pekings treiben, son-
dern müssten Russland vollends an den
Westen binden, fordert Berlusconi.
Die „besondere Beziehung“ zwischen
Rom und Moskau reicht weit in die Zeiten

des Kalten Krieges. Im Herbst 1964 wur-
de die Stadt Stawropol an der Wolga in To-
gliatti (beziehungsweise Toljatti in kyrilli-
scher Transkription) umbenannt. Damit
ehrte Moskau den kurz zuvor im Alter
von 71 Jahren verstorbenen italienischen
Kommunistenführer Palmiro Togliatti.
Der hatte die faschistische Diktatur unter
Benito Mussolini im sowjetischen Exil
überdauert. In Stawropol errichtete der
Turiner Fiat-Konzern Anfang der sechzi-
ger Jahre das riesige AwtoWAS-Werk zur
Herstellung von russischen Lada-Fahrzeu-
gen – unter tatkräftiger Vermittlung Pal-
miro Togliattis, der in den zwanziger Jah-
ren selbst bei Fiat gearbeitet und dort
zahlreiche Streiks mitorganisiert hatte.
Ebenfalls bereits in den sechziger Jah-
ren kamen sowjetische Funktionäre zur
Sommerfrische nach Rimini. In dem See-
bad an der Adria stellten die italienischen
Kommunisten in der Nachkriegszeit über
Jahrzehnte hinweg die Bürgermeister. Sie
ließen den einst großbürgerlichen Bade-
ort, wo der junge Federico Fellini bewun-
dernd um das prachtvolle „Grand Hotel“
und um den Kursaal geschlichen war, zum
gigantischen Volks- und Arbeitererho-
lungsheim aus gestaltlosen Betonklötzen
ausbauen. Das war ganz nach dem Ge-

schmack der verdienten Sowjet-Funktionä-
re: Sie wurden ihrerseits in den verbliebe-
nen Nobelherbergen untergebracht, konn-
ten aber am Strand und an der Promenade
von Rimini den Erfolg der italienischen
Version der kommunistischen Erholungs-
industrie bewundern. Die gesamte „rote“
Nordregion Emilia-Romagna, zu der Rimi-
ni gehört, pflegt eine lebendige Erinne-
rung an den kommunistischen Partisanen-
kampf im Zweiten Weltkrieg. Daraus er-
wuchs eine stabile Tradition linker Vor-
herrschaft. Kaum irgendwo sonst in West-
europa konnten sich sowjetische Funktio-
näre so daheim fühlen wie in Rimini und
in der Emilia-Romagna.
Die Tradition der italienisch-sowjeti-
schen Freundschaft lebte nach dem Zer-
fall der Sowjetunion von 1991 und nach
dem Zusammenbruch des Zwei-Parteien-
Systems von Christdemokraten und Kom-
munisten/Sozialisten in Italien im Jahr
1994 fort. Die überwiegend von Silvio Ber-
lusconi geführten Koalitionsregierungen
mit rechten und mit linken Parteien pfleg-
ten allesamt ein enges Verhältnis zu Mos-
kau. Berlusconi entwickelte mit Fleiß eine
geostrategische Männerfreundschaft zu
Putin. Er urlaubte auf Einladung Putins in
Sotschi am Schwarzen Meer und empfing

im Gegenzug Putin zur Sommerfrische
auf seinem Anwesen in Sardinien. Wäh-
rend des russisch-georgischen Krieges
vom August 2008 sprach sich Berlusconi
gegen Sanktionen der EU gegen Moskau
aus und warnte vor einer „antirussischen
Frontbildung“. Auch mit der Anbahnung
von Geschäftsbeziehungen des halbstaatli-
chen Energieunternehmens Eni mit dem
russischen Konzern Gasprom machte sich
Berlusconi um die italienisch-russische
Freundschaft verdient.
In direkter Nachfolge Berlusconis als
wichtigster Verbündeter Putins in der Re-
gierung in Rom und auch in der EU steht
Innenminister Salvini. Vom Lega-Chef ist
die Aussage überliefert, Putin sei „einer
der besten politischen Führer unserer
Zeit“. Bei einem Besuch in Moskau ließ
sich Salvini auf dem Roten Platz mit einem
Putin-T-Shirt fotografieren. Salvini über-
nahm im Dezember 2013 den Vorsitz der
damals noch Lega Nord genannten Partei,
die 1991 von Umberto Bossi gegründet
worden war. Die Lega war Ende 2013 noch
eine tendenziell separatistische Regional-
partei der wirtschaftsstarken Regionen
Norditaliens wie der Lombardei. Salvini
knüpfte bald Verbindungen zu nationalisti-
schen Russen um den Oligarchen Konstan-
tin Malofejew und den Rechtsextremisten
Alexander Dugin. Im Februar 2014 ent-
stand ein „Kulturverband Lombardei–
Russland“ mit dem Ziel, russisches strategi-
sches Gedankengut in Italien zu verbreiten
und die Handelsbeziehungen zwischen der
Lombardei und Russland auszubauen. Im
März 2017 formalisierten die Parteien Sal-
vinis und Putins ihre Zusammenarbeit mit
einem „Kooperationsabkommen“. Für die
Lega unterschrieb in Moskau Salvini
selbst, für Putins Partei „Einiges Russland“
leistete der stellvertretende Duma-Vorsit-
zende Sergej Schelesnjak die Unterschrift.
Dass Geld aus Moskau über ein dubioses
russisch-italienisches Ölgeschäft in die Par-
teikassen der Lega geflossen sei, wie italie-
nische Medien jüngst berichteten, pflegt
Salvini als „Phantasma“ zu bezeichnen.
Und Silvio Berlusconi ließ in der Sache wis-
sen, sein Freund Putin habe ihm gegenüber
beim Besuch vom 4. Juli in Rom – gewisser-
maßen von Weltführer zu Weltführer – ver-
sichert, aus Moskau sei niemals Geld an
die Lega gegangen.

Druschba! Amicizia!


Die italienisch-russische Freundschaft schöpft aus tiefen Geschichtsquellen / Von Matthias Rüb


Fremde Federn:James D. Bindenagel und Roderich Kiesewetter


Deutschland darf nicht Zaungast bleiben


Einschüchterung


Höhenflug


Mittelstandsmann


Anfang Juli in Rom:„Zwei Politiker von Weltformat“, Putin und Berlusconi Foto AFP


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