Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1
Wirst du jetzt auch zum Cougar, zur Silber-
löwin, frotzeln Claires Freunde, als diese
von ihrem neuen, deutlich jüngeren Lover
erzählt. Wie das denn bei einem Mann hei-
ße, wenn er eine jüngere Geliebte habe,
fragt eine der Frauen kritisch. „Bei einem
Mann“, lautet die Antwort, „heißt es ein-
fach ,Mann‘.“
Größer noch als der Gender Pay Gap, die
Lohnlücke zwischen Männern und Frauen,
ist, ab einem gewissen Alter, der Unter-
schied auf dem Liebesmarkt. Claire ist An-
fang fünfzig, eine gut aussehende Litera-
turdozentin, die von der schönen Juliette
Binoche gespielt wird. Dass sich die Män-
ner nicht reihenweise in Claire verlieben,
ist deshalb nicht leicht zu verstehen.
Andererseits gibt sich Binoche Mühe,
wie eine ältere Frau auszusehen, mit
schwarzer Brille, strengem Blick und einer
Portion Lebensenttäuschung im Gesicht.
Der junge Mann, mit dem sie schläft am An-
fang des Films, demütigt sie, als sie mehr
von ihm will als schnellen Sex: Ob sie ihn ih-
ren Söhnen vorstellen wolle, fragt er, die
seien ja ungefähr in seinem Alter.

Claire ist verletzt, und um ihren Freund
auszuspionieren, legt sie sich einen fal-
schen Facebook-Account zu. Sie nennt sich
Clara, lädt das Bild einer hübschen jungen
Frau hoch und scrollt durch die Geburts-
jahrgänge. Ein Klick – und Clara ist 24. Die
junge Blonde ist ein Köder, aber nicht Clai-
res Lover, sondern dessen bester Freund
Alex (François Civil) beißt an. Er verliebt
sich in die rätselhafte junge Frau, die

manchmal viel zu erwachsen wirkt für ihr
Alter und ihn außerdem zappeln lässt, ihm
ein Date im echten Leben immer wieder
verweigert. Und Claire? Die verliebt sich in
Alex, aber eben nicht als Claire, sondern
als Clara, die beim Telefonieren mit Alex
girliehaft ins Handy haucht.
Juliette Binoche ist großartig in der Rol-
le, die fast eine Doppelrolle ist, so unter-
schiedlich sind ihre Stimme, Mimik und

Gestik als Clara oder Claire. Schön ihr Auf-
blühen und ihre Leidenschaft, als Alex sie
begehrt, mit ihr Telefonsex hat im Auto.
Claires Betrug hat ja auch etwas Emanzipa-
torisches. Und ist immer wieder auch sehr
komisch: Einmal fährt Claire vor den Au-
gen ihrer Kinder, die sie von der Schule ab-
holen will, mit dem Auto immerzu im Kreis
herum, weil sie ein Telefonat mit Alex
nicht unterbrechen will. Sehr lustig auch,
wenn die Literaturdozentin beim Chatten
nach Formulierungen sucht, die eine
24-Jährige wohl gebrauchen würde, oder
auf Wissenslücken stößt: „Bist du bei In-
sta?“, fragt Alex einmal. Claires Blick, als
sie das liest und erst einmal googeln muss,
was gemeint ist, ist unbezahlbar.
„Catfishing“ heißt das, wenn sich je-
mand im Netz als jemand anderer ausgibt.
Dass dieses Spiel mit der Identität auch für
Claire gefährlich ist, sie Opfer ihrer eige-
nen Erfindungen geworden ist, legt schon
die Rahmenhandlung nahe. Claire ist da
als Patientin einer psychiatrischen Klinik
zu sehen, ihre Liebesgeschichte mit Alex in-
szeniert Regisseur Safy Nebbou als Abfol-

ge von Rückblenden. Claires Gegenüber,
dem sie von der Facebook-Affäre erzählt,
ist eine Ärztin, die wie eine Spiegelung von
Claire erscheint, ähnlich alt, ähnlich klug
und ähnlich unglücklich. Was natürlich
eine Projektion ist, schließlich darf die
Psychiaterin in der Therapie nichts von
sich erzählen. Aber um Projektionen geht
es schließlich, auch Alex und Claire verlie-
ben sich in Wunsch- und Trugbilder. Als
sie einander schließlich real gegenüberste-
hen, erkennt Alex Claire/Clara nicht, weil
sie als ältere Frau für ihn unsichtbar ist.
Der Film basiert auf einem Roman von
Camille Laurens. Aus dem Stoff hätte eine
romantische Komödie werden können in
der Tradition von „E-Mail für Dich“ oder
ein Thriller. „So wie du mich willst“ ist we-
der das eine noch das andere, der Film
setzt das Verwirrspiel auch dramaturgisch
fort. Literarischer Pate ist Choderlos de
Laclos’ Briefroman „Gefährliche Liebschaf-
ten“, über den die Literaturdozentin Claire
in einer Vorlesung spricht. Auch im Buch
sind es geschriebene Worte, die die Men-
schen manipulieren, sie am Ende in den

Tod treiben. Leider wirkt gerade vor die-
sem Hintergrund Claires literarische Fan-
tasie – sie schreibt über die Affäre mit Alex
einen Roman – besonders klischeehaft.
Dass die kluge Claire so eine Liebe erleben
will, mag man gern glauben – dass sie ihre
Sehnsüchte in dieser Form aufschreibt,
niemals. Und die verschachtelte Erzähl-
struktur des Films passt zwar zur fragmen-
tierten Kommunikation via Smartphone,
wirkt aber konstruiert.
Am besten ist „So wie du mich willst“,
wenn er sich mit Claire ganz der Verfüh-
rung durch die sozialen Medien hingibt,
wenn sie in diesem virtuellen Raum echte
Lust und Freiheit findet. Claire beschreibt
ihrer Psychiaterin, wie es war, als Clara ver-
liebt zu sein: Süchtig sei sie gewesen nach
dem kleinen grünen Licht, das anzeigt, der
andere ist online. martina knoben

Celle que vous croyez, F 2019 – Regie: Safy Neb-
bou. Buch: S. Nebbou, Julie Peyr nach einer Vorlage
vonCamille Laurens. Kamera: Gilles Porte. Schnitt:
Stèphane Pereira. Verleih: Alamode, 101 Minuten.

Gefährliche Liebschaften


JulietteBinoche spielt im Melodram „So wie du mich willst“ eine Frau, die der Verführungskraft des Online-Datings verfällt


interview: joseph hanimann

D


ie Welt der Literaturprofessorin
Claire, die Juliette Binoche im Lie-
besdrama „So wie du mich willst“
spielt, wäre dieses einfache Gebäude im


  1. Pariser Arrondissement, vor dem der
    Reporter steht, eher nicht. Statt moderner
    Glasfassaden wie im Film ist das Haus tie-
    fes 19. Jahrhundert. Neben der Holztür
    zum zweiten Hinterhof dann das Klingel-
    schild mit dem Namen „Binoche“. Wie im
    Märchen steht man plötzlich in einem üppi-
    gen Garten vor einer kleinen Villa. Die
    55-jährige Oscarpreisträgerin („Der engli-
    sche Patient“) öffnet persönlich die Tür, bit-
    tet in den weiten Salon, wirbelt herum,
    kocht Tee und setzt sich im Schneidersitz
    aufs breite Kanapee.


SZ: Wo ist denn die schicke Brille, die Sie
im Film tragen? Die stand Ihnen gut.
Juliette Binoche: Die brauche ich in Wirk-
lichkeit zum Glück noch nicht. Aber meine
Figur Claire braucht sie, die Augen der Lite-
raturprofessorin sind müde geworden
vom vielen Lesen ...

Sie spielen eine Frau, die mit dem Älter-
werden hadert. Beschäftigt Sie das auch
selbst?
Natürlich. Aber man braucht daraus kein
Drama zu machen wie im Film. Ich habe in
meinem bisherigen Leben meine Träume
weitgehend erfüllt. Da fällt einem das Älter-
werden leichter.

Das klingt fast schon nach Altersweisheit.
Ist das nicht etwas zu früh?
Ich habe jedenfalls gelernt, dass Selbstdis-
ziplin mit den Jahren immer wichtiger
wird. Denn das, was man aus sich selber
gemacht hat, verlangt zunehmend nach
klaren Vorstellungen und konsequenten
Entscheidungen. Da darf man sich nicht
verzetteln oder sich einfach auf andere ver-
lassen. Ich sehe das bei meinen Eltern. Vie-
le Leute in ihrer Umgebung verzichten auf
die eigene Entscheidungsfähigkeit und lie-
fern sich widerstandslos den Weisungen
anderer aus, den Segnungen der Medizin,

als wüsste die am besten, was einem
guttut.

Davon ist Claire in Ihrem neuen Film weit
entfernt. Sie lebt von ihrem Mann ge-
trennt, unter falscher Identität chattet sie
als Clara nächtelang an ihrem Computer
auf der Suche nach einem neuen Abenteu-
er. So eines zeichnet sich mit dem jungen
Fotografen Alex tatsächlich ab, geht aber
bald schief.
Anstatt die unerfreuliche Situation des Ver-
lassenwerdens als Lebenserfahrung hinzu-
nehmen und mit ihr fertigzuwerden, klam-
mert sie sich an die gesellige Scheinwelt
von Facebook. Sie sagt sich: Mein Ex hat
sich eine Jüngere geschnappt? Das kann
ich auch! So weit ist das ja ganz in Ordnung.
Das Erfinden einer jüngeren Doppelgänge-
rin macht Claire zunächst auch tatsächlich
Spaß. Sie gibt ihr einen Namen, verleiht ihr
ein gegoogeltes Gesicht, erfindet eine Ge-
schichte – alles ganz okay. Dann aber fängt
sie plötzlich an, selber an ihre Erfindung zu
glauben. Sie identifiziert sich mit Clara,
fühlt mit ihr, bangt mit ihr und bildet sich
ein, als Clara geliebt zu werden.

Steht hinter diesem Verhalten eine Aufleh-
nung gegen das gesellschaftliche Vorur-
teil, fünfzig jährige Frauen seien nicht
mehr begehrenswert, oder ist das einfach
eine Panikreaktion?
Es ist wohl beides. Die Auflehnung macht
allmählich der Panik Platz. Und wenn Alex
bei der ersten realen Begegnung aus dem
Zug steigt und sie, obwohl sie direkt vor
ihm steht, gar nicht sieht, weil er eine ganz
andere Frau erwartet, bricht ihre Welt zu-
sammen.

Im Roman von Camille Laurens, auf dem
der Film basiert, klingt das politisch, femi-
nistisch, schärfer.
Ja, das ist richtig. Der feministische Aspekt
kommt im Film weniger stark zum Aus-
druck.

Warum?
Das war eine Entscheidung des Regisseurs
Safy Nebbou. Vielleicht, weil er genau die-

se Geschichte selber erlebt hat, von der an-
deren Seite her, als Mann. Er hat sich vor ei-
niger Zeit im Internet von einer Frau um-
garnen lassen, die sich ihm gegenüber als
eine andere, jüngere ausgab. Als er dann
auf das Buch der Schriftstellerin Camille
Laurens stieß, hatte er Lust, diese Situati-
on zu verfilmen, und zwar vom Stand-
punkt der Frau aus. Er wollte daraus aber
keinen Film mit einem feministischen
Standpunkt machen, sondern einfach eine
Frau zeigen beim verunglückten Versuch,
mit ihrer neuen Lebenssituation klarzu-
kommen.

Wie kamen Sie zu diesem Projekt?
Ganz einfach: Safy Nebbou gab mir das
Drehbuch zu lesen. Ich sagte mir sofort,
wow, wie werde ich aus dem Labyrinth die-
ser Frau wieder herausfinden? Ich hatte zu
Beginn keine Ahnung, worauf sie mit ihrer
Selbstinszenierung hinauswollte. Aber ir-
gendwie spürte ich, dass da eine interes-
sante Psychologie dahintersteckte mit ei-
nem rätselhaften Kern, den man knacken
musste. Im Buch von Camille Laurens
steht ein Satz, der beim Drehbuch heraus-
gefallen war. Er lautet: „Es gibt kein Alter
fürs Kleinsein.“ Ich bestand darauf, diesen
Satz wieder einzufügen. Er bedeutet für
mich, dass die kindliche Ungeduld und Auf-
lehnung gegen die äußeren Lebensumstän-
de für jeden von uns bis zuletzt zu ihrem
Recht kommen müssen.

Sie selber engagieren sich in Ihrem Beruf
für die Sache der Frauen, etwa mit Ihrer
Produktionsfirma, die Regisseurinnen,
Kamerafrauen, Tonmeisterinnen fördern
will.
Wichtiger ist mir aber das Engagement
durch die Wahl der Filme, in denen ich spie-

le. Das Problem der Gleichstellung der
Frauen im Kino ist vor allem in Amerika
akut. In Europa sind wir schon etwas wei-
ter. Bei der letzten Berlinale waren sieben
von 17 Filmen des Wettbewerbs von Frau-
en gemacht. Natürlich bleibt auch hier ge-
wiss noch viel zu tun, bei der Bezahlung bei-
spielsweise. Die Männer geben ihre Vor-
herrschaft und ihre Vorteile nur sehr wider-
willig auf.

Neben Fragen der Gleichberechtigung en-
gagieren Sie sich auch für den Kampf ge-
gen den Klimawandel. Unlängst haben Sie
im Künstlermilieu einen breiten Aufruf
lanciert.
Als der populäre Umweltkämpfer Nicolas
Hulot vor einem Jahr als Umweltminister
zurücktrat, war das in Frankreich ein
Schock. Zusammen mit dem Astrophysi-
ker Aurélien Barrau habe ich 200 Persön-
lichkeiten zusammengetrommelt, um die
Politiker und die Öffentlichkeit daran zu er-
innern, dass man angesichts der bisher
größten Herausforderung für die Mensch-
heit mit dem Handeln nicht länger warten
kann. So weit sind meiner Ansicht nach die
Umwelt- und die Frauenbewegung vonein-
ander gar nicht entfernt. Beiden geht es
um den Abbau von Übermacht und Ausbeu-
tung. Ausbeutung der Menschen gegen-
über der Natur, der reichen Länder gegen-
über den ärmeren, der Männer gegenüber
den Frauen.

Woher stammt bei Ihnen dieser Sinn für
Fragen der Ökologie?
Ich bin ein Kind der Sechzigerjahre und
der Hyperindustrialisierung. Dagegen hat
meine Mutter früh ein kritisches Bewusst-
sein entwickelt. Als sie mit uns Kindern
von der Stadt aufs Land gezogen ist, wo sie
damals als Lehrerin arbeitete, gewöhnte
sie uns an Biokost und Frischeprodukte.
Als Zehnjährige holte ich auf den Höfen
Butter und Eier ab. Ich sah dabei, ohne das
Problem damals zu verstehen, wie auf den
Feldern die Bäume und Hecken verschwan-
den, wie die Bauern Pestizid versprühten.
Das ist mir geblieben. Ich könnte Ihnen al-
le Biorestaurants von Paris aufzählen.

Die Starts ab 8. August auf einen Blick,
bewertet von den SZ-Kritikern.
Rezensionen ausgewählter Filme folgen.

Acid
kevin scheerschmidt:Der Selbst-
mord von Ivan setzt eine Reihe von Ereig-
nissen in Gang. Sein Bruder Petya trinkt
Säure und landet im Krankenhaus. Des-
sen bester Freund Sascha schläft mit der
15-jährigen Schwester seiner Freundin.
Der russische RegisseurAleksandr Gor-
chilinwirft in seinem Debütfilm einen
Blick auf strauchelnde Männer in ihren
Zwanzigern, die nach ihrer Sexualität,
männlichen Vorbildern und ihrem Platz
in der Welt suchen.

Berlin, I Love You
(Film wurde vorab nicht gezeigt.)

Fisherman’s Friends
anke sterneborg:Es ist die alte Kino-
geschichte von ein paar beherzten Men-
schen, die einem stagnierenden Leben
mit einem unorthodoxen Projekt neuen
Pep geben, Männer im Wasserballett, be-
tagte Frauen als Calendar Girls oder
Stahlarbeiter als Stripboys. In diesem
Fall: existenziell bedrohte Fischer, die
mit einem Shanty-Chor die Charts er-
obern. Die im Kern wahre Geschichte ver-
filmtChris Fogginals Regiedebüt ein
bisschen holprig, kann sich bei der Beset-
zung dieses Stadt-Land-Kulturenclashs
im wildromantischen Cornwall aber auf
ein paar raue, skurrile und charismati-
sche Darsteller verlassen.

Killerman
doris kuhn:Zwei Geldwäscher in New
York City wollen ihr Geschäftskapital
auf eigene Rechnung nutzen und ma-
chen einen Drogendeal. Klappt wider Er-
warten – aber jetzt sind sie die meistge-
jagten Männer der Stadt. Dabei hilft es
nicht, dass der eine plötzlich sein Ge-
dächtnis verliert.Malik Badermischt
aus Hysterie und Amnesie einen wilden,
harten Thriller, der darauf setzt, dass
Freundschaft wichtiger ist als Ehrgeiz
oder Rache.

Photograph
susan vahabzadeh:Der arme Rafi fo-
tografiert Menschen an einer Anlegestel-
le in Mumbai, verkauft ihnen Polaroids
und vergisst sie schnell wieder. Nur
nicht Miloni, Tochter aus reichem Haus,
denn die hat vergessen zu bezahlen. Der
indische Regisseur Ritesh Batra hat

„Lunchbox“ gemacht, er ist gewisserma-
ßen Spezialist für komplizierte Liebesge-
schichten gegen alle Konventionen und
die Erwartungen der Eltern. Auch hier
finden die ungleichen Liebenden beina-
he nicht zusammen (FOTO: NFP).

So wie du mich willst
(Siehe Kritik unten.)

Und wer nimmt den Hund?
theresa hein:Es gibt Paare, die besu-
chen eine Therapie, weil sie eine Tren-
nung verhindern wollen. Und es gibt Ge-
org und Doris im Film vonRainer Kauf-
mann, die wild entschlossen sind, sich
zu trennen, aber sich in einer Trennungs-
therapie „begleiten“ lassen wollen. Ge-
org hat sich, ganz Midlife-Crisis, in seine
dreißig Jahre jüngere Doktorandin ver-
liebt. Deswegen ist es mit der Hambur-
ger Mittelschichtsehe nach 25 Jahren
vorbei. Deswegen werden Autos abgefa-
ckelt und Prügeleien zwischen ehemali-
gem und neuem Partner angezettelt.
Diesem Otto-Katalog der Beziehungs-
konfliktklischees charakterliche Tiefe
zu geben, da tun sich sogar Ulrich Tukur
und Martina Gedeck als Ehepaar in der
Krise schwer. Nach zwei Dritteln des
Films – und der Trennungstherapie –
wird übrigens der titelgebende Hund
krank: Er muss eingeschläfert werden.

Carol klingelt. Als die Gegensprechanlage
anspringt, setzt sie zweimal an. Die etwa
60-jährige Frau ist nervös: „Ich war in der
Gegend, und da dachte ich ... Ich bin unten.
Ich bin’s, deine Mutter.“ Der Buzzer
brummt. Oben an der Wohnungstür gibt es
kein großes Hallo. Ihr Sohn Matt steht in
der Tür: Anfang 30, oben ohne, schlank,
kurze Sporthose. In seinem Gesicht
herrscht große Verwirrung, kein Lächeln:
„Mama, was machst du hier?“ In der hellen
Wohnung stehen sie sich unbeholfen
gegenüber. Mutter und Sohn fremdeln.
Und das am Muttertag.
Cindy Chupacks Film „Otherhood“, den
sie für den Streamingdienst Netflix ge-
dreht hat, beschäftigt sich mit dem, was
nach der Motherhood, also der Mutter-
schaft, kommt. Mit der Zeit, in der das
Muttersein neu definiert werden muss,
weil die Kinder erwachsen sind. Wenn sich
das Selbstbild umsortiert, und sich Frau
fragen muss, was von den vergangenen
drei Jahrzehnten bleibt. Harter Stoff. „Ot-
herhood“ ist aber trotzdem eine Komödie.
Warum auch nicht, gerade die harten
Themen sind ja oft die beste Grundlage für
richtig gute Comedy. In diesem Film
klappt das halb. Die Geschichte beruht auf
dem Roman „Whatever Makes You Happy“
von William Sutcliffe. Natürlich ist keine
Mutter-Kind-Beziehung vergleichbar.
Aber der Schmerz, „dass sich jemand
Schritt für Schritt von einem trennt“, wie
es eine der Mütter im Film formuliert, ist
universal verständlich.
In „Otherhood“ fahren drei Babyboo-
merinnen nach New York, um ihre Söhne
zu treffen. Es besteht Gesprächsbedarf,
man nimmt sich eine Woche frei für den
Roadtrip. Ein bisschen wie „Hangover“ für
Mamas. Mit dabei drei unterschiedliche
Frauen: die spaßbefreite Witwe, die im Ges-
tern lebende Verlassene und die gemütli-
che, normale Ehefrau. Diese Stereotypin-
nen sind wiederum die Mütter von drei
Stereotypen: ein Schwuler, ein mittelloser
Autor und der wohl reichste Graphic Desi-
gner New Yorks, wenn man sich die Größe
seines hypertrendigen Appartements und
der Sneaker-Sammlung anschaut. Als die
Mütter (unangekündigt! frech!) klingeln,
haben die Kinder ein eigenes Leben, Rhyth-
men, Probleme, Fehler. Auch klar. Die
Versuche, wieder anzuknüpfen, sich selbst
und den anderen zu finden, sind für alle
sechs ein Reality-Check. Die vielver-
sprechende Konstellation wird aber ver-
schenkt, weil so viele Klischees bespielt
werden. Etwa: Ältere Frauen trinken gerne
Bourbon, machen einen auf gebügelt, aber
sind auf der Tanzfläche wild und frei. Ma-
ke-Over, Blumensträuße, man kennt sich
nicht mit Social Media aus. Mütter putzen
die Apartments ihrer Söhne und kochen un-
widerstehliches Essen. Außerdem suchen
sie die perfekte Partnerin mit verbunde-
nen Augen aus einer Reihe von 100 Frauen
aus. Das ist nicht nur fad, sondern stört
auch die etwas dunklere durchaus vorhan-
dene Comedy von „Otherhood“.


Dass das Ganze sich besonders zum En-
de hin unrund anfühlt, liegt aber vielleicht
auch an der Besetzung. Felicity Huffman
ist zwar Pointen-versiert, aber wer die Be-
richterstattung über sie und den College-
Bestechungsskandal im vergangenen Jahr
verfolgt hat, muss doch eher daran denken
als an ihre Filmrolle. Auch die Besetzung
der ernsthaften Witwe geht mit Angela
Bassett etwas daneben. Deren sonst so
tolle Königlichkeit wirkt in der Vorstadt-
frauengeschichte irgendwie drüber. Und
dann gibt es noch Patricia Arquette, die
auch im Film mitspielt – aber mehr als das
gibt dazu eigentlich nicht zu sagen.
„Otherhood“ ist ein typisches Werk der
Filmemacherin Cindy Chupack, die unter
anderem als Produzentin und Autorin für
Serien wie „Sex and the City“ gearbeitet
hat. Eine Gruppe Frauen lebt (über-
durchschnittlich) wohlsituiert, ist ständig
am Saufen und es gibt auch – à la Carrie
Bradshaw – eine Erzählerin, die jedoch
nach den einleitenden Minuten nie wieder
vorkommt.
Die Frauengeschichte ist aber weder in
der Botschaft noch in der Machart so ein-
fallsreich wie man es von Chupack sonst
kennt. „Otherhood“ fühlt sich streckenwei-
se oll und beige an, wie ein Film aus einem
anderen Jahrhundert. Und das liegt nicht
am Alter der Protagonistinnen.
Vielleicht will „Otherhood“ einem
nichts über Mutter-Kind-Beziehungen bei-
bringen, weil die eh so idiosynkratisch
sind, dass man niemandem reinquatschen
sollte. Vielleicht soll der Film einfach nur
auf einen Fakt vorbereiten: Nach der Mot-
herhood kommt die Otherhood. Oder, wie
im Film, sogar noch eine dritte Stufe: die
Grandmotherhood. Die Großmutter-
schaft. magdalena pulz


Otherhood, USA 2019 – Regie: Cindy Chupack.
Buch: Mark Andrus, Cindy Chupack. Mit: Patricia
Arquette, Felicity Huffman, Angela Bassett.
Netflix, 100 Minuten.


Mamablues


Was tun, wenn die Kids groß sind?


Die Netflix-Komödie „Otherhood“


„Die Männer geben ihre
Vorherrschaft und
ihre Vorurteile nur
sehr widerwillig auf.“

„Ich bin ein Kind der Sechzigerjahre“


Die französische Schauspielerin Juliette Binoche über ihr Liebesdrama „So wie du mich willst“,


Gleichberechtigung im Filmgeschäft und ihren Kampf gegen den Klimawandel


NEUE FILME


AngelaBassett und Patricia Arquette in
„Otherhood“. FOTO: NETFLIX


„Bist du bei Insta?“, fragt Alex.
Und Claire muss erst mal googeln,
was das bloß sein soll

10 HF2 (^) FILM Donnerstag, 8. August 2019, Nr. 182 DEFGH
„Irgendwie spürte ich, dass da eine interessante Psychologie dahintersteckte“: Juliette Binoche in „So wie du mich willst“. FOTO: ALAMODE

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