Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1
von lea weinmann

D


as Schaf hat drei Köpfe, der Schä-
fer hat es über seine Schulter
gelegt. Ein Wollknäuel sitzt da,
wo man den Kopf des Mannes
vermuten würde, darunter kommt sein Ge-
rippe zum Vorschein. Das Bild nimmt die
gesamte marode Fassade ein: Seine weiß-,
türkis- und gletscherblauen Farben verde-
cken Fenster und Türen, Stromleitungen,
verdreckten und bröckelnden Putz.
Anfang und Ende liegen in diesem
Kunstwerk im Herzen der Altstadt von Co-
vilhã dicht beieinander. Einerseits hat hier
alles begonnen; die gesamte Streetart-Be-
wegung im Zentrum Portugals hatte in
diesem Bild des Künstlerkollektivs ARM
Collective ihren Ursprung. Andererseits
symbolisiert das Kunstwerk den Nieder-
gang der Wollindustrie Covilhãs: Von der
einstigen Textilhochburg des Landes und
dem ehemals exklusiven Stofflieferanten
für das Königshaus ist nur noch ein skelet-
tierter Schäfer mit Wollknäuel-Kopf übrig.


Lara Seixo Rodrigues hat eine ganz be-
sondere Beziehung zu diesem Kunstwerk.
Hunderte Streetart-Werke hat die Portugie-
sin schon im Entstehungsprozess beglei-
tet. „Der Schäfer und sein Wollschaf waren
mein allererstes Projekt, daheim in mei-
nem Geburtsort“, so Rodrigues, die 40 Jah-
re alt ist, aber jünger aussieht. Zu dritt ha-
ben sie – Rodrigues, ihr Bruder und ihre
Schwägerin – 2011 mit „WOOL“ das erste
Streetart-Festival Covilhãs und des ganzen
Landes organisiert. Nationale und interna-
tionale Künstler kamen in die Stadt, bemal-
ten eine Woche lang Häuserwände und

Mauern. Ein voller Erfolg: Sieben weitere
Festivals sollten folgen. Über die Jahre ist
in Covilhã dadurch eine offizielle Streetart-
Tour mit etwa 40 Bildern entstanden.
Schon der Name WOOL macht deutlich:
Das Andenken der Stadt spielt eine zentra-
le Rolle. In fast jedem Kunstwerk findet
sich der Bezug zur Vergangenheit – mal ist
er offenkundig, wie beim Bild einer klöp-
pelnden Frau mit drei Armen. Bei anderen
braucht es Hintergrundwissen. Beispiels-
weise darüber, dass dieses überlebens-
große Porträt im Stadtzentrum nicht nur
einen alten Mann, sondern einen stadt-
bekannten ehemaligen Fabrikarbeiter
darstellt. Oder dass jene Pflanzen, die eine
Künstlerin auf einer Hauswand zum
Blühen brachte, zum Färben von Wolle
benutzt werden. Jahrzehntelang war das
kleine Städtchen mit den gut 50 000 Ein-
wohnern für seine Textilindustrie über die
Grenzen des Landes hinaus bekannt,
wurde gar als das „Manchester Portugals“
bezeichnet. Tausende verdienten ihr Geld
in den Fabriken der Region. Doch auch vor
Covilhã machte die Globalisierung nicht
halt: Als die Waren aus Afrika und Fernost
den Markt überschwemmten, musste seit
den Achtzigerjahren eine Fabrik nach der
anderen schließen.
Covilhã ist schon geografisch ein span-
nender Ort: Die Stadt krallt sich auf 700
Metern Höhe an den südlichen Hang des
Naturparks der Serra da Estrela. Die „Stadt
der Wolle und des Schnees“, wie viele Por-
tugiesen sie nennen, ist der Ausgangs-
punkt schlechthin für alle Wanderer und

Mountainbiker, die eine Auszeit in den
nicht gerade zahlreichen Bergen Portugals
suchen. Sonst hatte die Stadt touristisch
lange Zeit wenig zu bieten, sagt Luís Veiga,
Geschäftsführer der Natura-IMB-Hotel-
gruppe. Er leitet fünf Hotels in der Region.
„Früher kamen die Leute zu uns, um di-
rekt in die Berge oder die historischen Dör-
fer der Region zu fahren. Niemand schaute
sich Covilhã selbst an“, sagt Veiga. Das sei
nun anders. Der Hotelbesitzer vertraut auf
den positiven Einfluss der Kunst in der
Stadt: „Wir sind dabei, auf diese Art unser
Erbe und unsere Identität wiederzuentde-
cken“, sagt er. Veiga ist so überzeugt, dass
er das Festival als Investor unterstützt und
fleißig Werbung dafür macht. Der Hotelin-
haber möchte von der Streetart profitie-
ren. Ob sich seine Investitionen lohnen,
weiß er nicht. Aber er glaubt daran.
Nicht immer war es für Lara Seixo Rodri-
gues so leicht, die Leute zu überzeugen.
Streetart – das klingt für viele eben nach
illegaler Schmiererei, auch und vor allem
für die lokalen Behörden Portugals. Zwar
ist die Hauptstadt Lissabon weltbekannt
für ihre urbane Kunst, doch die Szene ist in
Portugal noch sehr jung; sie schwappte
erst vor wenigen Jahren aus Spanien her-
über. Die Architektin leistete Überzeu-
gungsarbeit, teilweise über mehrere Jahre.

Mit der Stadtverwaltung von Covilhã
kämpft sie jedes Jahr wieder um die finan-
ziellen Mittel für WOOL. Jedes Festival
könnte das letzte gewesen sein. Ob es 2020
stattfindet, ist noch unklar.
Der Erfolg des Projekts hat sich aller-
dings schnell in der ganzen Region herum-
gesprochen, und so passiert es immer häu-
figer, dass die Stadtverwaltungen anderer
Orte selbst auf Rodrigues zukommen. So
zum Beispiel jene von Estarreja, einem
unscheinbaren Dorf etwa 50 Kilometer
südlich von Porto. „Streetart ist für uns ei-
ne strategische politische Entscheidung“,
sagt die dortige Kulturverantwortliche,
Isabel Pinto. Vor drei Jahren versuchte sich
Estarreja an seinem ersten Streetart-Fest;
seitdem gab es schon zwei weitere Festi-
vals. Mithilfe der Kunst will die Stadt-
verwaltung die Plätze im Ort verschönern,
ihnen „einen Mehrwert geben“, sagt Pinto.
Klar, Freiluftkunstwerke lassen sich
wesentlich leichter vermarkten als die
teils heruntergekommenen Fassaden –
morbider Charme hin oder her.
Früher waren in Estarreja viele Chemie-
werke angesiedelt. Die Gemeinde war in
der Region vor allem für den Gestank
bekannt, der von den Fabriken zur nahe ge-
legenen Autobahn waberte. Zwar will man
dieses negative Image nicht verleugnen,

doch die lokalen Behörden versuchen,
dem Ort ein neues Gesicht zu geben – und
Streetart hilft dabei. Auch in Estarreja ist
man bemüht, mit den Kunstwerken einen
Bezug zur Identität des Ortes zu schaffen.
„Die Leute hier sollen sich mit dem, was sie
sehen, identifizieren können“, sagt Pinto.
Deshalb werde die Gemeinde in das Festi-
val eingebunden: „Das ist fundamental
wichtig.“ Es soll keine Aktion sein, bei der
Künstler aus aller Welt anreisen, die Stra-
ßen verzieren und wieder verschwinden.
Die Einwohner sind aufgefordert mitzu-
machen: Es gibt Streetart-Workshops,
geführte Touren und Gespräche.

Viele Städte im Zentrum Portugals wol-
len Streetart für ihre Zwecke nutzen. Man-
che, wie Estarreja, versuchen das auf sen-
sible Weise. Andere Politiker betrieben da-
mit schlicht Wahlkampf, sagt Rodrigues.
Wie solche Vorhaben enden können, wird
in Viseu deutlich, das etwa 100 Kilometer
nordwestlich von Covilhã liegt. Auch hier
werden die Fassaden während eines Festi-
vals in Kunstwerke verwandelt. Schön

anzusehen sind sie, doch irgendetwas ist
anders als in Covilhã. In Viseu veranstaltet
die Stadtverwaltung das Festival eigen-
ständig – und sie hat eine sehr genaue
Vorstellung davon, wie dieses Fest und sei-
ne Kunstwerke auszusehen haben. Den
Künstlern bleibt offensichtlich nur wenig
kreativer Raum. Das sieht man den Bil-
dern an: Ihnen fehlt es an Leidenschaft –
Viseu liegt in einer Weingegend, jahrelang
machte die Stadt deshalb den Wein zum
Thema des Festivals. Trauben und Wein-
gläser säumen die Hauswände, daneben
findet sich der banale Spruch „In vino veri-
tas“. Die Überraschung bleibt meistens
aus.
Solch „traurige Wände“ will Lara Seixo
Rodrigues bei den Festivals, die sie organi-
siert, unbedingt verhindern. Sie versorgt
ihre Künstler vorab mit Informationen
über die jeweilige Region, die Stadt, stellt
ihnen Fragen, besucht mit ihnen Museen
und bringt sie mit den Einwohnern ins Ge-
spräch. Dann lässt sie ihnen freie Hand.
Nicht immer entstehen dabei Kunstwerke
mit tieferer Bedeutung. Im Strandort Figu-
eira da Foz etwa hat Rodrigues viele Street-
art-Künstler begleitet, deren Malereien
einfach nur hübsch anzusehen sind – ins-
besondere in Verbindung mit den für den
Ort typischen bunten Häuschen.
In ihrer Heimatstadt Covilhã geht das
Konzept der 40-Jährigen auf. Unter den
Einwohnern finde sich kaum jemand, der
auf die Streetart schimpfen würde. Dem
Klischee zum Trotz seien gerade die Älte-
ren neugierig und stellten viele gute
Fragen, sagt Rodrigues und erzählt eine Ge-
schichte: So sei das erste Werk in Covilhã,
der Schäfer und sein Schaf, auf einer Fassa-
de direkt neben der örtlichen Kirche ent-
standen. Sonntags kamen die älteren Ein-
wohner zur Messe. Doch statt die Kirche zu
betreten, trugen sie kurzerhand Stühle her-
bei, schauten den Künstlern zu und löcher-
ten sie mit Fragen. Der Gottesdienst war
für diesen Sonntag vergessen.

Elf Jahre stand alles still. Bis unters Dach
stapelte sich die Wolle in den Hallen, in den
Büros darüber sammelten sich die Spinn-
weben. Elf Jahre trieb Francisco Afonso die
Frage um, was er mit diesem, seinem Erbe
anfangen sollte. Sein Vater hatte dem
heute 62-Jährigen den Familienbetrieb
hinterlassen, eine Wollfabrik in Covilhã.
Die Bergstadt im Nordosten Portugals war
jahrzehntelang weltbekannt für ihre Textil-
industrie. Zu Spitzenzeiten arbeiteten
420 Menschen in der Fabrik der Afonsos;
sie spannen die rohe Wolle der Schafe aus
den Bergen der Serra da Estrela zu Fäden
und woben sie zu feinen Stoffen.
In den Achtzigerjahren stürzte das Tex-
tilgewerbe jedoch in eine wirtschaftliche
Krise, fast alle Fabriken der Stadt mussten
aufgeben. Die Afonsos hielten lange durch,
erst 2002 beschlossen sie, zu schließen. Zu
einem Verkauf konnte sich Francisco aber
nicht durchringen. Sein ganzes Leben
hatte er in der Wollfabrik verbracht. „Auch
nach der Schließung ging er oft in die ver-
staubten Hallen. „Inmitten der alten Wolle
hat er sich an seine Spinnmaschine ge-
setzt“, erzählt seine Frau Ana Paula Costa.
Afonso haderte, viele Jahre, bis die Chefin
der Tourismusbehörde ihn im Jahr 2013
dazu aufforderte, aus der Fabrik endlich
etwas zu machen. Der 62-Jährige ist ein
schüchterner Mann. Vielleicht hatte er nur


den kleinen Anstoß gebraucht. Jedenfalls
fingen er und seine Frau an aufzuräumen.
Schon zwei Wochen später eröffneten
sie das „New Hand Lab“, ein „Kreativlabor
für Künstler“, wie sie es nennen. Im Ober-
geschoss hat das Ehepaar 13 Ateliers einge-
richtet: Modedesigner, Maler, Fotografen,

Multimedia- und Modellkünstler arbeiten
hier Tür an Tür zusammen – aus der ehe-
maligen Fabrik ist ein Coworking-Space
entstanden. Einzige Mitmachbedingung:
„Der Leitfaden dieses Projekts ist immer
die Wolle“, sagt Afonso.
Ein Designer aus dem Künstlerkollektiv
verwendet für seine Kleidungsstücke
beispielsweise das Gewebe Burel, einen
typischen filzähnlichen Wollstoff aus der
Region. Die Jacken, Pullover, Schals und
sogar wollbezogenen Schuhe werden hier
zum Verkauf angeboten. Dazwischen

finden sich wollene Sitzkissen, Stoffpup-
pen und dekorative Einrichtungsgegen-
stände. Nicht bei jedem Künstler ist der
Bezug zur Wolle offensichtlich. So lichtet
ein Fotograf die Kollektionen des Desi-
gners ab; ein Multimediakünstler hinge-
gen arbeitet mit altem Ton- und Bildmate-
rial aus den Textilfabriken der Region.
Die Ergebnisse können Besucher in den
großen Hallen im Untergeschoss der
Fabrik, dem Höhepunkt des New Hand
Labs, betrachten: Dort öffnet sich ihnen
eine sehenswerte Mischung aus Museum
und kreativer Kunstwerkstatt. Kurze Fil-
me flimmern auf Leinwänden; von den
Decken hängen gewebte Kunstinstallatio-
nen. Dazwischen stehen immer noch die
Webmaschinen der früheren Fabrik.
Auch im alten Arbeitszimmer von
Afonsos Vater sieht es so aus, als wäre die
Wollfabrik gestern erst geschlossen wor-
den: Auf dem schweren Holztisch steht
noch das Tintenfass, daneben liegen zwei
Füller. „Den einen hat mein Vater nur zum
Schreiben benutzt, den anderen zum Zeich-
nen“, erklärt Afonso. Kein Staubkorn liegt

auf dem Tisch. Im Gedenken an seinen Va-
ter will er das New Hand Lab weiter ausbau-
en. Die Kosten für den Umbau der Fabrik
hat das Ehepaar aus eigener Tasche begli-
chen; von den lokalen Institutionen gab es
keine Unterstützung. „Die Künstler müs-
sen keine Miete für ihre Werkstätten zah-
len“, sagt der Inhaber. Dafür gehe ein klei-
ner Anteil ihres Umsatzes in einen gemein-
samen Topf, durch den das New Hand Lab
finanziert wird. „Wir wollen keinen Ge-
winn damit machen“, betont Afonso. Das
Projekt solle sich einfach selbst tragen. Die
Anzahl der Bewerber übersteigt mittlerwei-
le die Kapazitäten des „Kreativlabors“.
Seit wenigen Monaten ist das Projekt
offiziell als Kulturverein eingetragen. Die
Räume werden auch immer wieder für
kulturelle Veranstaltungen genutzt, bei
denen alle Künstler mit anpacken müssen.
Er wisse aber noch nicht, in welche Rich-
tung sich das Projekt entwickle. Wichtiger
sei die Intention: „Es geht uns nicht nur
um das Gebäude, sondern um Identität“,
sagt Afonso: Das New Hand Lab sei „eine
Hommage an alle, die in der Wollindustrie
gearbeitet haben.“ lea weinmann

Kostenlose Besichtigungen sind täglich von 14.30
bis 16 Uhr möglich. Führungen (5 Euro) immer um
15 Uhr, newhandlab.com

Installation im Keller: Eine Künstlerin hat einen alten VW-Käfer mit Wolle ver-
ziert, dort, wo in der Fabrik die Spulen mit dem Garn standen. FOTO: JOAO PEDRO SILVA

Ein Designer macht aus
dem alten Stoff Burel moderne
Kleider und Schuhe

Die Graffiti-Szene ist hier noch
sehr jung, sie kam erst vor
ein paar Jahren aus Spanien

Die Einwohner vergaßen sogar,
in die Messe zu gehen,
weil sie mit Künstlern diskutierten

Lissabon

Porto

PORTUGAL

50 km SPANIEN
SZ-Karte: Mainka/Maps4News

Viseu

Estarreja

Covilhã

Figueira da Foz Coimbra

ATLANTIK

Kreativlabor


Eine ehemaligeTextilfabrik in Covilhã wird von Künstlern und Handwerkern neu genutzt


Ran an

die Wolle

In Portugal haben Städte, die früher


von der Textilindustrie lebten, das touristische


Potenzial von Streetart erkannt


Anreise:Flug nach Porto, von dort weiter im Mietwa-
gen,www.flytap.com
Unterkunft:z.B. Puralã Wool Valley Hotel & Spa in Co-
vilhã. DZ ab ca. 90 Euro, puralahotel.com.pt; Hotel
Grão Vasco in Viseu, DZ ab 86 Euro, hotelgraovasco.pt
Streetart:Start am besten in Estarreja, eine Stunde
vom Flughafen Porto entfernt. Von dort an der Küste
entlang Richtung Süden. Weiter nach Figueira da Foz,
wo sich die Straßenkunst mit den kleinen Häuschen
verbindet. Richtung Osten, bis nach Viseu (Restau-
rant: MuralhadaSe.pt); Den Abschluss bildet die Stadt
Covilhã, (z.B. Restaurant: casadasMuralhas.pt);
Weitere Auskünfte:centerofportugal.com; visitportu-
gal.com


„Die Einwohner sollen
sich damitidentifizieren
können.“ Streetart-Werke
in Covilhã und Estarreja
greifen oft Themen
auf, die eine Bedeutung
für die Orte haben:
der Webstuhl, die Feuer-
wehr, die gegen Waldbrände
kämpft, der seltene
Purpurreiher oder die
typischen Kacheln.
FOTOS: RUTE FERRAZ (2), SARA PINHEIRO
, PEDRO SEIXO RODRIGUES (2)

30 REISE Donnerstag, 8. August 2019, Nr. 182 DEFGH

Free download pdf