Süddeutsche Zeitung - 08.08.2019

(Darren Dugan) #1

Jerusalem– DieUN und die EU-Staa-
ten haben die Genehmigung für weitere
2304 Wohneinheiten für jüdische Sied-
ler im Westjordanland scharf kritisiert.
Die EU bezeichnete „alle Siedlungsakti-
vitäten“ als „illegal nach internationa-
lem Recht“. In einer eigenen Stellung-
nahme erklärte das Auswärtige Amt in
Berlin, diese Planungsschritte „laufen
dem Ziel einer verhandelten Zwei-Staa-
ten-Lösung zuwider“. Der neue briti-
sche Außenminister Dominic Raab
sprach von einer „effektiven Annexion
des Westjordanlandes“. Das von Israels
Premierminister Benjamin Netanjahu
geführte Verteidigungsministerium
hatte zuvor grünes Licht für weitere
Wohnbauten gegeben in Gebieten, die
für einen zu gründenden palästinensi-
schen Staat vorgesehen sind. 70 Prozent
der Wohnungseinheiten sollen sich laut
der Organisation Peace Now außerhalb
von bisher bestehenden Siedlungsblö-
cken befinden. Ein Außenposten soll
unmittelbar neben dem Beduinendorf
Khan al-Ahmar entstehen, das von
Abriss bedroht ist. Während Netanjahus
zehnjähriger Regierungszeit wurden
rund 20 000 Wohneinheiten für Siedler
genehmigt. afs


London– In Großbritannien verschärft
sich nur zwei Wochen nach der Amtsüber-
nahme der neuen Regierung unter Boris
Johnson der Streit, ob und wie das Parla-
ment einen vertragslosen Austritt des Lan-
des aus der EU am 31. Oktober verhindern
könnte. Johnson hat angekündigt, das Kö-
nigreich werde in jedem Fall aus der EU
austreten, mit oder ohne Deal. Seither hat
sich Downing Street nicht mit neuen Vor-
schlägen an die EU gewandt; vielmehr hat
der britische Chefunterhändler, David
Frost, bei seinem Antrittsbesuch in Brüs-
sel wissen lassen, man werde unter allen
Umständen gehen – auch ohne Deal.
Seither werden im Unterhaus, das ei-
nem harten Brexit mehrheitlich ableh-

nend gegenübersteht, zahlreiche Varian-
ten diskutiert, wie das zu verhindern wäre.
Labour hat bereits angekündigt, ein Miss-
trauensvotum gegen Johnson einbringen
zu wollen, wenn die Abgeordneten Anfang
September wieder zusammenkommen –
allerdings nur, wenn die Erfolgsaussichten
gut seien. Sollte ein solches Misstrauensvo-
tum erfolgreich sein, hätte Johnson zwei
Wochen Zeit, um eine neue Regierung zu
bilden. Gelänge das nicht, würde er Neu-
wahlen ansetzen. Allerdings könnte die Re-
gierung diese Wahlen mit taktischen Ge-
schick auf einen Termin nach dem 31. Okto-
ber legen, sodass der Brexit bereits vollzo-
gen wäre, den die Abgeordneten mit ihrem
Sturz der Regierung verhindern wollten.

In Downing Street wird allerdings auch
laut über das Szenario nachgedacht, dass
Johnson im Fall einer Abstimmungsnieder-
lage im Unterhaus nicht notwendig zurück-
treten müsste. Das Parlament kann ihn da-
zu nicht zwingen. Allerdings wäre ein sol-
cher Schritt, wie der prominente Remainer
und Jurist Dominic Grieve sagte, präze-
denzlos und ein Angriff auf die Demokra-
tie. Grieve sagte auf Sky News am Diens-
tag, ein erfolgreiches Misstrauensvotum
führe nicht automatisch zu Neuwahlen,
wenn sich in den 14 Tagen nach dem Vo-
tum eine neue Regierung finde, um John-
son abzulösen. Grieve spielte damit auf ei-
ne „Regierung der nationalen Einheit“ an,
die hinter den Kulissen verhandelt wird.

Sollte sich Labour mit anderen Oppositi-
onsparteien und einigen Tory-Rebellen zu-
sammentun und gemeinsam einen Premi-
er wählen, der in Brüssel um Aufschub
oder neue Verhandlungen bittet, könne, so
die Überlegung, No Deal gestoppt werden.
Als Übergangspremier ist der konservative
Remainer und langgediente Parlamentari-
er Kenneth Clarke im Gespräch.
Dominic Cummings, Brexit-Berater des
Premierministers, widersprach Grieve öf-
fentlich. Er soll, wie mehrere britische Me-
dien berichten, seinen Mitarbeitern in
Downing Street mitgeteilt haben, Johnson
könne das Ergebnis des Misstrauensvo-
tums und sogar die Bildung einer alternati-
ven Regierung ignorieren und Neuwahlen

für Ende Oktober oder Anfang November
ausrufen, um dann mit der Botschaft „das
Volk gegen die Politiker“ in den Wahl-
kampf zu ziehen und sich als Erfüller des
wahren Volkswillens zu inszenieren.
Die Remainer müssten verstehen, so Do-
minic Cummings, dass sie sich „nicht aus-
suchen können, welche Abstimmungen sie
respektieren und welche nicht“. Er spielte
auf den Vorwurf an, dass Brexit-Gegner
das Ergebnis des Referendums von 2016
negierten. Im Unterhaus wird für den Fall,
dass Johnson trotz Abwahl nicht zurücktre-
ten sollte, nachgedacht, die Queen zu invol-
vieren. Als Staatsoberhaupt müsse sie wo-
möglich am Ende eine Entscheidung fäl-
len. cathrin kahlweit  Seite 4

von matthias kolb

Brüssel– Für die wenigen in Brüssel ver-
bliebenen Diplomaten begann die Woche
mit einer ernüchternden Erkenntnis. „Es
sind nur noch wenige Wochen, aber wir ste-
hen genau an dem Punkt, wo wir vor drei
Jahren waren“, lautete die Bilanz eines Mit-
glieds des Brexit-Taskforce. Die Basis für
weitere Gespräche fehle. Informiert wur-
den die Vertreter der 27 verbleibenden EU-
Mitglieder (EU-27) über den Besuch von
David Frost, dem neuen Chefunterhändler
Londons, der nach Brüssel gereist war, um
mit Stéphanie Riso sein Gegenüber im Ver-
handlungsteam von Michel Barnier ken-
nenzulernen. Er traf auch die Büroleiterin
von Jean-Claude Juncker und die amtieren-
de Generalsekretärin der Kommission.
„Kurz“ seien die Gespräche gewesen, be-
richteten beide Seiten später, denn Frost
wiederholte nur, was sein Chef Boris John-
son seit Amtsantritt sagt: Großbritannien
werde „unter allen Umständen“ zum 31.
Oktober die EU verlassen und solange der
umstrittene Backstop für die irische Insel
nicht verschwindet, werde man gar nicht
verhandeln. Konkrete Ideen? Fehlanzeige.
Da mögen britische Diplomaten noch so
sehr beteuern, dass Johnson „unbedingt ei-
nen Deal“ wolle, um das Chaos eines „har-
ten Brexit“ zu vermeiden: Für die EU-27 ist
das im November 2018 ausgehandelte Ab-
kommen weiter die beste Lösung, da es mit
dem Backstop sicherstelle, dass Grenzkon-
trollen zwischen zu Großbritannien gehö-
renden Nordirland und dem EU-Mitglied
Irland vermieden werden. Brüssel weigert
sich, den rechtlich bindenden Austrittsver-
trag aufzuschnüren und ist nur bereit, die
politische Erklärung über das künftige bi-
laterale Verhältnis anzupassen.

In den täglichen Pressekonferenzen ver-
sichern die Sprecherinnen der Kommissi-
on seither, das „No Deal“-Szenario abwen-
den zu wollen. Natürlich sei man „stets er-
reichbar“ für Gespräche, falls die Briten
„ihre Positionen mit mehr Details erläu-
tern“ wollten. Damit rechnet aber kaum je-
mand. Um Folgetermine habe Frost nicht
gebeten und Johnson hat noch keine einzi-
ge EU-Hauptstadt besucht. Auch Chefun-
terhändler Barnier sieht momentan keine
Möglichkeit, die Blockade aufzulösen.
„Vor Biarritz passiert nichts“, heißt es
aus dessen Brexit-Taskforce, wo mehrere
Experten wie Barnier selbst wegen des Still-
stands in Rufbereitschaft sind. Im französi-
schen Biarritz findet vom 24. bis 26. Au-
gust der G7-Gipfel statt, an dem Johnson
ebenso teilnimmt wie Kanzlerin Angela
Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron und Giuseppe Conte aus Italien.
Mit Donald Tusk und Jean-Claude Juncker
kommen auch die Präsidenten des Europäi-
schen Rats und der EU-Kommission.

Aus der Taskforce heißt es, dass Frost
bestätigt habe, was stets klar war: Der
Backstop allein ist nicht der Grund, warum
der Deal im Unterhaus scheiterte. Er sieht
vor, dass Nordirland de facto im Binnen-
markt bleiben und damit anders behan-
delt würde als der Rest des Vereinigten Kö-
nigreichs, wenn kein Freihandelsabkom-
men vereinbart wird. In Brüssel denken vie-
le, dass die neue Regierung den Backstop
deswegen ablehne, da er ihrem Ziel einer
weiteren Deregulierung entgegen stehe.
Die Einigkeit unter den EU-27 sei weiter
groß, versichern Diplomaten, ebenso die
Solidarität mit Irland. Gewiss: Ein No-Deal-
Brexit würde die EU-27 treffen, aber die
wirtschaftlichen Schäden für London sei-
en größer. „Wir sind vorbereitet“, versi-
chert die Kommission: 19 Legislativvor-
schläge wurden umgesetzt, zudem 63
Rechtsakte ohne Gesetzescharakter erlas-
sen und 93 Hinweise veröffentlicht. Flug-
verkehr und Erasmus-Programme seien
erst einmal geschützt. Unterstützung gibt
es aus der Wirtschaft. Es sei „vernünftig“,
dass Bundesregierung und Kommission
zu dem ausgehandelten Deal stünden, teilt
der Bundesverband der Deutschen Indus-
trie mit. Der Binnenmarkt habe Priorität.

Zur täglichen Brüsseler Routine gehört
der Appell des britischen Sprechers an die
EU, ihre „Verweigerungshaltung“ aufzuge-
ben: Neue Gespräche würden „mit größter
Energie und Hingabe sowie im Geiste der
Freundschaft“ geführt. Dabei sind es wei-
ter eher feindliche Töne, die aus London zu
vernehmen ist. Die beleidigte Klage von Mi-
chael Gove, dem für die No-Deal-Planung
zuständigen Minister, die EU sei Schuld
am Stillstand, wird in Brüssel folglich igno-
riert. An dieses „blame game“ ist man eben-
so gewöhnt wie an unerwünschte Ratschlä-
ge: So forderte Brexit-Minister Stephen
Barclay Barnier auf, sich ein neues Ver-
handlungsmandat zu holen, denn schließ-
lich seien 61 Prozent der EU-Abgeordneten
neu. „Völliger Quatsch“, sagt ein EU-Diplo-
mat dazu, denn die neue Brexit-Gruppe
des Europaparlaments unterstütze den bis-
herigen Rahmen: Es nennt als zentrale
Punkte Frieden auf der irischen Insel, glei-
che Rechte für Bürger sowie die Erfüllung
der finanziellen Verpflichtungen Londons.
Unabhängig vom Verlauf der Gespräche
in Biarritz wird es von September an viel Ar-
beit für die Brexit-Taskforce geben. Denn
wenn der No Deal zum 31. Oktober nahen
sollte, müssen Gespräche mit dem künfti-
gen Drittstaat Großbritannien vorbereitet
werden. Das Mandat müssten die Staats-
und Regierungschefs Mitte Oktober beim
nächsten Gipfel erteilen. Welche Fragen zu
klären sind, bevor man über Handel und
Marktzugang ringt, haben Barnier und Jun-
cker schon benannt. Sie sind altbekannt:
Bürgerrechte, Irland und Finanzen.

München– Angesichtsdes US-Handels-
verbots gegen seine Regierung hat sich
Venezuelas autoritärer Staatschef Nicolás
Maduro an den Sicherheitsrat der Verein-
ten Nationen gewandt. Per Brief rief er den
Rat dazu auf, er solle „eine Weltmacht
stoppen, die sich wie ein Banditenstaat
verhält“. Am Montag hatte US-Präsident
Donald Trump ein Handelsverbot gegen
die venezolanische Regierung verfügt, es
untersagt US-Bürgern und -firmen, mit
ihr Geschäfte zu machen. Zudem wurde
das in den USA befindliche Vermögen der
venezolanischen Regierung eingefroren.
Trumps Sicherheitsberater John Bolton
warnte auch ausländische Firmen und Per-
sonen davor, mit der Maduro-Regierung
Handel zu treiben. „Sie sollten ihre wirt-
schaftlichen Interessen in den USA nicht
dadurch gefährden, dass sie ein korruptes
und im Sterben liegendes Regime unter-
stützen“, sagte Bolton auf einer Konferenz
in Lima. Dort traf Bolton auf Vertreter von
59 Staaten, die Maduros Herausforderer
Juan Guaidó unterstützen. Dieser hatte
sich im Januar zum legitimen Präsidenten
ausgerufen, auch Deutschland hatte ihn an-
erkannt. Auf der Konferenz in Lima waren
auch Repräsentanten der Europäischen
Union zugegen. Brüssel setzt sich eigenem
Bekunden zufolge für den Dialog zwischen
dem Maduro-Regime und der Opposition
ein. Eine zu diesem Zweck eingerichtete
„Kontaktgruppe“ kam aber bisher nicht
voran. Derzeit laufen Gespräche zwischen
beiden Lagern auf Barbados, diese zeigten
aber bisher ebenfalls kaum Fortschritte.
Während der Oppositionelle Guaidó das
Handelsverbot begrüßte, bezeichnete es
die Maduro-Regierung als „schwere Ag-
gression“, die auf ein „Scheitern des politi-
schen Dialogs“ abziele. bepe

Islamabad– Im Kaschmir-Konflikt will
Pakistan den indischen Botschafter
ausweisen. Das sagte Außenminister
Shah Mahmood Qureshi am Mittwoch
in einem Interview. Zugleich werde
Pakistans neu ernannter Botschafter
für Indien erst gar nicht nach Neu-Delhi
entsandt, Premier Imran Khan habe
zudem das Militär angewiesen, wach-
sam zu bleiben, hieß es in einer Erklä-
rung der Regierung am Mittwoch. Die
diplomatischen Beziehungen zum Nach-
barland würden überdies herunterge-
fahren, der bilaterale Handel ausge-
setzt. Auslöser ist die Entscheidung
Indiens, dem von ihm beherrschten Teil
Kaschmirs die bisherigen Sonderrechte
zu nehmen. reuters


Kabul– Bei der Explosion einer Auto-
bombe sind in Kabul nach Angaben der
afghanischen Regierung 18 Menschen
getötet und mehr als 100 verletzt wor-
den. Die radikal-islamische Taliban-Mi-
liz reklamierte die Tat für sich. Die Bom-
be war im morgendlichen Berufsver-
kehr vor einer Polizeiwache gezündet
worden. Die meisten Opfer seien Zivilis-
ten, darunter Frauen und Kinder. Den
Anschlag habe ein Selbstmordattentä-
ter verübt, so ein Sprecher des Innenmi-
nisteriums. Ziel sei eine Rekrutierungs-
stelle gewesen. Viele Soldaten und Poli-
zisten seien getötet oder verletzt wor-
den, sagte der stellvertretende Innenmi-
nister Khoshal Sadat. reuters


Kritik an Siedlungsbau


Variationen eines Themas


In London spielt man alle Möglichkeiten durch, die Premier Johnson für den Brexit bleiben – aber auch die der Opposition. Die Optionen reichen bis zur Queen


Konkrete Ideen? Fehlanzeige


Nach Treffen mit den britischen Unterhändlern betont die EU, beim Brexit das
Schlimmste verhindern zu wollen. Doch ein „No Deal“ wird wahrscheinlicher

Maduro protestiert


bei den UN


Ankara– Eine neue türkische Offensi-
ve im Osten Syriens scheint vorerst
abgewendet. Nach dreitägigen Verhand-
lungen verkündeten die Türkei und die
USA am Mittwoch die Einrichtung eines
Operationszentrums, mit dem der Auf-
bau einer Sicherheitszone in Syrien
koordiniert werden soll. Die Türkei
möchte östlich des Euphrats eine 30 bis
40 Kilometer tiefe Zone einrichten, in
der keine syrisch-kurdischen Kämpfer
sind, und hatte mit Militäroperationen
gedroht. Die Türkei sieht die syrisch-
kurdische Miliz YPG als Terroristen und
Verbündete kurdischer Aufständischer
in der Türkei. Die USA unterstützen
hingegen die YPG. ap


Rom– Die populistische Fünf-Sterne-
Bewegung riskiert mit ihrem Nein zur
Bahntrasse zwischen Turin und Lyon
(Tav) eine Regierungskrise in Italien.
Für die Partei ist die Ablehnung des
Milliardenprojekts ein Kernpunkt. Die
rechte Lega befürwortet den Bau, für
den sich auch der parteilose Premier
Giuseppe Conte (FOTO: AP) ausgespricht.


Die Fünf Sterne hatten im Senat den
Stopp des Projekts beantragt, was die
Lega am Mittwoch bei einer Abstim-
mung im Senat ablehnte. Schon im
März wäre die Koalition am Streit um
die Strecke fast zerbrochen. Die Bauar-
beiten für die 270 Kilometer lange Tras-
se mit 60 Kilometern Tunnel durch die
Alpen laufen bereits. Lega-Chef und
Innenminister Matteo Salvini hatte
noch am Montag gesagt, wer Nein zur
Tav sage, gefährde die Regierung. Medi-
en zufolge forderte er Lega-Parlamenta-
rier auf, nicht weit in die Ferien zu fah-
ren, was Indiz für eine Vertrauensab-
stimmung sein könnte. Der Chef der
oppositionellen PD, Nicola Zingaretti,
sagte: „Die Regierung hat keine Mehr-
heit mehr“, Conte solle dem Präsiden-
ten ihr Scheitern erklären. sz Berlin– Flüchtlinge und Migranten aus
dem Nahen Osten sowie aus Afrika beschäf-
tigen die Kriminalpolizei hierzulande auf-
fallend oft. Das Bundeskriminalamt (BKA)
hat dazu gerade wieder eine Analyse er-
stellt. Deren Kernaussagen hat man schon
in früheren Analysen lesen können. Sie
sind aber immer mal wieder neu interpre-
tiert worden, und gerade wieder durch Bay-
erns Innenminister Joachim Herrmann
(CSU). In derPassauer Neuen Pressesagte
Herrmann: „Da kommen unübersehbar
Menschen aus anderen Kulturkreisen zu
uns, in deren Heimat die Gewaltlosigkeit,
wie wir sie pflegen, noch nicht so selbstver-
ständlich ist.“ Diese Aussage lohnt einen ge-
naueren Blick.
Tatsächlich fällt keine andere Gruppe
der Polizei so negativ auf, keine andere
Gruppe beschäftigt die Ermittler so inten-
siv wie Asylbewerber, Flüchtlinge und „Ge-
duldete“; das BKA fasst sie in seiner jüngs-
ten Auswertung „Kriminalität im Kontext
von Zuwanderung“ (Stand: 31. März 2019)
als „Zuwanderer“ zusammen. Diese Men-
schen, die großteils seit 2015 nach Deutsch-
land gekommen sind, machen zwar nur
zwei Prozent der Bevölkerung aus, rund 1,
Millionen Menschen. Aber keine andere
Gruppe ist in der Kriminalstatistik so stark
überrepräsentiert. 2018 machten sie ganze
elf Prozent der Verdächtigen von Körper-
verletzungen aus, 15 Prozent der Verdächti-
gen von Tötungsdelikten, 12 Prozent bei
den Verdächtigen von Vergewaltigungen
und schweren sexuellen Nötigungen.
Es ist natürlich kein ganz fairer Ver-
gleich. Unter diesen Migranten sind sehr
viele junge Männer. Bei jungen Männern
sind in allen Gesellschaften und zu allen
Zeiten die höchsten Kriminalitätsraten zu


verzeichnen. Das verzerrt die Statistik und
kann den Blick vernebeln. „Unter allen
Asylantragstellern der Jahre 2015 und
2016 waren 34 Prozent Männer im Alter
von 16 bis 29 Jahren“, sagt der Kriminologe
Christian Walburg, der an der Universität
Münster lehrt. Dieser Anteil ist vier Mal so
hoch wie in der deutschen Gesamtbevölke-
rung. Schon deshalb wäre aus dieser Grup-
pe mehr Gewalt zu erwarten. Das wäre
dann noch kein Indiz dafür, dass ein „Kul-
turkreis“ stärker zu Gewalt neigt als ein an-
derer.
Hinzu kommt, dass sich bei vielen Zu-
wanderern besonders viele soziale Proble-
me ballen: Arbeitslosigkeit, wenig Bil-
dung, eigene Erfahrung als Opfer von Ge-
walt. Das sind Faktoren, die auch bei Deut-

schen ein kriminelles Verhalten „begünsti-
gen“, wie der Forscher Walburg sagt. Je
mehr man diese Faktoren herausrechne,
desto mehr verblassten die Unterschiede
zwischen Zuwanderern und Deutschen in
der Statistik wieder, betont der Forscher.
Eher linke Kriminologen wie der Bochu-
mer Professor Thomas Feltes argumentie-
ren deshalb, dass die „Kultur“ der Täter
letztlich kaum eine Rolle spiele. „Nicht die
Herkunft, sondern die soziale Umgebung
begünstigt Straftaten“, sagt Feltes.
Interessant ist dann aber, wie groß die
Unterschiede zwischen den Herkunftslän-
dern der Zuwanderer ausfallen. Auch dies
beleuchtet das BKA. Kriegsflüchtlinge aus
Afghanistan, dem Irak und Syrien fallen
demnach vergleichsweise wenig mit Straf-

taten auf. Und wenn doch, dann meist mit
Raufereien untereinander – etwa die Hälf-
te ihrer Körperverletzungen werden in
Flüchtlingsunterkünften verübt – oder
mit typischen Arme-Leute-Delikten. Bei
den „Vermögens- und Fälschungsdelik-
ten“, die den größten Anteil ausmachten,
handele es sich zu 51 Prozent um bloße Be-
förderungserschleichung, vulgo Schwarz-
fahren, schreibt das BKA. Und: „Im Bereich
der Diebstahlsdelikte dominierten Fälle
von Ladendiebstahl (67 Prozent).“
Zuwanderer aus den Maghreb-Staaten
hingegen – also aus Algerien, Marokko
und Tunesien – seien „deutlich“ öfter tat-
verdächtig, so das BKA. Genauso wie Zu-
wanderer aus den afrikanischen Ländern
Gambia, Nigeria und Somalia. Der Krimi-
nologe Christian Pfeiffer, ehemals Leiter
des Kriminologischen Forschungsinsti-
tuts Niedersachsen, hat dafür eine Erklä-
rung, die dem CSU-Politiker Joachim Herr-
mann durchaus entgegenkommt. Pfeiffer
spricht von einer „Machokultur“ in Nord-
afrika, die zur Gewaltbereitschaft jeden-
falls mit beitrage.
Eine andere Erklärung: Viele der jun-
gen, alleinstehenden Männer aus dem Ma-
ghreb und aus Subsahara-Afrika haben
kaum Perspektiven, einen Aufenthaltssta-
tus zu erlangen, der Zugang zu Integrati-
onskursen und zum regulären Arbeits-
markt eröffnet. Das unterscheidet sie
stark von den Bürgerkriegsflüchtlingen
aus dem Nahen Osten – stärker als die Ma-
chokultur, die es ja hier wie dort gibt. Jun-
ge Männer aus dem Maghreb, so sagt der
Münsteraner Forscher Christian Walburg,
seien für Sozialarbeiter und Polizei oft
„schwer zu erreichen – weil sie wenig zu
verlieren haben“. ronen steinke

6 HF3 (^) POLITIK Donnerstag, 8. August 2019, Nr. 182 DEFGH
Im nordirischen Belfast demonstrieren Bürger gegen den Brexit und seine Folgen. Ein Austritt ohne Abkommen würde
Großbritanniens Wirtschaft am stärksten treffen, heißt es in Brüssel. FOTO: LIAM MCBURNEY/DPA
Der Backstop allein ist nicht
der Grund, warum der Deal
im Unterhaus scheiterte
An feindliche Töne aus London
hat man sich ebenso gewöhnt
wie an unerwünschte Ratschläge
Rohheitsdelikte/
Straftaten gegen
die persöhnliche Freiheit
Diebstahl Vermögens-/
Fälschungs-
delikte
Sonstige
Straftaten
Rauschgift-
delikte
Straftaten gegen
sexuelle Selbst-
bestimmung
Straftaten
gegen das
Leben
Wenn Migranten kriminell werden
Straftaten mit mindestens einem tatverdächtigen Zuwanderer, in Tausend
2017 2018 1. Quartal 2019
71
(^7674)
35
27
5,
0,
(^7372)
69
39
33
6,
0,
14 12 17
(^97)
1,0 0,
SZ-Grafik; Quelle: BKA
Botschafter unerwünscht
Schwerer Anschlag in Kabul
Einigung zu Sicherheitszone
Weitere Zerreißprobe in Rom
AUSLAND
Vernebelte Statistik
Flüchtlingebegehen verhältnismäßig viele Straftaten. Kriminologen sehen dafür vor allem soziale Ursachen

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