Süddeutsche Zeitung - 31.07.2019

(Darren Dugan) #1
von wolfgang janisch

Karlsruhe– Mankonnte sich schon fra-
gen, was das Bundesverfassungsgericht ei-
gentlich zu mäkeln hat, wo doch die Ban-
kenunion eine wirklich gute Sache ist. Das
jedenfalls war der Eindruck, den man bei
der Verhandlung im November des vergan-
genen Jahres gewinnen musste. Die euro-
päische Bankenaufsicht, eingerichtet im
Jahr 2013, sowie der im Jahr darauf instal-
lierte einheitliche Abwicklungsmechanis-
mus: ein echter Fortschritt hin zur Krisen-
festigkeit des Bankensystems, lobte da-
mals der Präsident der deutschen Finanz-
aufsicht Bafin, Felix Hufeld: „Insgesamt
kann ich bestätigen, dass das Niveau der
Aufsicht deutlich gewonnen hat.“

Nun, acht Monate später, hat das Verfas-
sungsgericht sein Urteil verkündet. Die Eu-
ropäische Bankenunion ist unter den stren-
gen Blicken der Richter „noch hinnehm-
bar“, wie es Gerichtspräsident Andreas
Voßkuhle ausdrückte. Bankenaufsicht
und Abwicklungsmechanismus, die bei-
den Pfeiler der Bankenunion, überschrit-
ten „nicht in offensichtlicher Weise“ die
Grundlagen der europäischen Verträge.
Allerdings zieht sich das Wort „Beden-
ken“ durch die Urteilsbegründung. Wie
schon so oft in den vergangenen Jahren er-
hebt Karlsruhe mahnend den Zeigefinger,
weil Europa sich mal wieder vom demokra-
tischen Zügel der Mitgliedsstaaten losrei-
ßen will. Die Mahnung umfasst voluminö-
se 174 Seiten, fast 30 mehr als vor zehn Jah-
ren das sehr ausführliche Lissabon-Urteil.
Je länger sich das Verfassungsgericht an
Europa abarbeitet, so scheint es, desto län-
ger werden die Urteile.

Gegen die Bankenunion als solche ha-
ben die Richter nichts einzuwenden. Sie
umfasst erstens einen Abwicklungsmecha-
nismus mit einem Notfallfonds für teure
Rettungsaktionen, zweitens die einheitli-
che Aufsicht über „systemrelevante“ Ban-
ken durch die EZB. Das sind insgesamt 114
Geldinstitute, davon 19 aus Deutschland,
wie die Deutsche Bank oder die Commerz-
bank. 1400 deutsche Banken stehen nach
wie vor unter der nationalen Aufsicht der
Bafin. Also eigentlich eine sinnvolle Aufga-
benteilung zwischen der europäischen
und nationalen Ebene.
Warum Karlsruhe hier trotzdem ein Pro-
blem sieht, hat mit einem Urteil des Euro-
päischen Gerichts erster Instanz vom Mai
2017 zu tun. Es ging damals um die baden-
württembergische L-Bank, die sich nicht

der EZB-Aufsicht unterstellen wollte. Das
EU-Gericht schrieb, dass die nationale Auf-
sicht über weniger bedeutende Banken
„keine Ausübung einer autonomen Zustän-
digkeit darstellt, sondern die dezentrali-
sierte Ausübung einer ausschließlichen Zu-
ständigkeit der EZB“. Soll heißen: Im Mo-
ment kümmert sich Europa zwar nur um
die ganz großen Banken, aber im Grunde
ist die EZB für alle zuständig – womit die
Bafin zur europäischen Außenstelle herab-
gestuft würde. Da war es also wieder, das
schwarze Loch Europa, das nationale Zu-
ständigkeiten zu verschlucken drohte –
Karlsruhe war alarmiert. Das Szenario war
nicht untypisch. Als Reaktion auf die Fi-
nanzkrise schuf die EU einen sinnvollen
Mechanismus – und versuchte ganz neben-
bei, den eigenen Machtbereich auszuwei-

ten. „Never miss a good crisis“, lautet ein
Karlsruher Spott über EU-Institutionen:
Verpasse niemals die Chancen einer Krise.
Das Urteil des EU-Gerichts ist inzwi-
schen von der nächsten Instanz, dem Euro-
päischen Gerichtshof, im Mai relativiert
worden – in letzter Minute vor dem Karls-
ruher Entscheid. Ein Anspruch auf allum-
fassende europäische Bankenaufsicht
wird darin jedenfalls nicht eindeutig erho-
ben. Aber die Verfassungsrichter wollten
nun auf Nummer sicher gehen. Nur bei
„strikter Auslegung“ sei die Bankenauf-
sicht mit dem Grundgesetz vereinbar, also
nur dann, wenn sie sich allein auf die „be-
sonders bedeutenden“ Banken beschrän-
ke. Würde die EZB sich mehr anmaßen,
dann wären deutsche Wähler in ihrem „An-
spruch auf Demokratie“ verletzt. Das Ver-
fassungsgericht würde dies als eine offen-
sichtliche Überdehnung europäischer Zu-
ständigkeiten rügen.
An dieser Stelle setzt der Zweite Senat –
Berichterstatter war Peter Huber – zu ei-
nem demokratietheoretischen Exkurs
über unabhängige europäische Institutio-
nen an. Sie müsse es geben, man denke nur
an die Währungspolitik, die ohne unabhän-
gige EZB den egoistischen Interessen der
Staaten ausgeliefert wäre. Der Preis dafür
sei aber ein Demokratiedefizit. Wenn im-
mer mehr wichtige Politikfelder von Büro-
kraten gestaltet werden, die keiner wählt
und niemand abberufen kann, dann mag
der Wähler noch so viele Wahlzettel ausfül-
len – sein Votum dringt nicht durch. Des-
halb verlangt Karlsruhe eine Kompensati-
on: Politisch unabhängige Behörden darf
es nur geben, wenn es ausnahmsweise
sachlich gerechtfertigt ist, und sie müssen
ein Minimum an „demokratischer Steuer-
barkeit“ aufweisen, etwa über die Ernen-
nung ihrer Mitglieder oder über Rechen-
schaftspflichten. Und natürlich durch ge-
richtliche Kontrolle. Ein Exkurs – aber ei-
gentlich eine Warnung.  Seite 4

Nach dem Bankenurteil begann in Karlsruhe
die Anhörungfür das umstrittene Anleihe-
kaufprogramm der EZB. Nach Auffassung
seines Senats sprächen „gewichtige Grün-
de“ für die Rechtsansicht der Kläger, sagte
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle zu Be-
ginn der Anhörung.
Die von den Klägern beauftragten Profes-
soren zeigten sich vor allem enttäuscht über
den Europäischen Gerichtshof, dem das Bun-
desverfassungsgericht fünf Fragen zur Vor-
abentscheidung vorgelegt hatte. Der EuGH
habe jegliche kritische Auseinandersetzung
vermissen lassen, sagte der Rechtswissen-
schaftler Hans-Detlef Horn. Besonders im
Hinblick auf die vom EuGH als unzulässig ein-
gestufte Vorlagefrage zur unbegrenzten Risi-
koverteilung bei Ausfällen von Anleihen der
Zentralregierungen sprach sein Kollege Mar-
kus Kerber von einer Fehlannahme und so-
gar einem Rechtsfehler. Die EZB wirke in ei-
ner Art und Weise auf die Wirtschafts- und

Währungsunion ein, wie es in den Verträgen
nicht vorgesehen sei, monierte Christoph De-
genhart. Das Recht auf Demokratie drohe da-
durch „zerrieben“ zu werden.
Auch Dietrich Murswiek betonte die feh-
lende demokratische Legitimation der Anlei-
hekäufe durch die EZB und kritisierte, dass
der EuGH mit keinem Wort auf diese Legiti-
mationsproblematik eingegangen sei. „Das
Bundesverfassungsgericht hat im OMT-Ver-
fahren versucht, eine Verständigungsbrücke
zum EuGH herzustellen, der EuGH sieht das
aber wohl eher als Kommandobrücke“, mein-
te Horn. Das deutsche Gericht habe jetzt die
Aufgabe zu retten, was zu retten ist. Auch
Bundestag und Bundesregierung müssten
endlich aktiv werden. Demgegenüber be-
harrte der Berliner Finanzstaatssekretär
Jörg Kukies für die Bundesregierung darauf,
dass die EZB angesichts der komplexen Mate-
rie einen weiten Beurteilungsspielraum be-
nötige. ANIKA BLATZ

„Noch hinnehmbar“


Wie weit darf die EZB bei der Kontrolle der deutschen Banken gehen? Das Bundesverfassungsgericht hat nun
eine Grenze gezogen – und eine grundsätzliche Warnung hinterhergeschickt

München –Für Anleger klingt es nach ei-
nem göttlichen Zustand. Wenn alles am Fi-
nanzmarkt steigt, dann muss das finanziel-
le Paradies angebrochen sein. Wenn Ak-
tien steigen, wenn Anleihekurse steigen
und selbst die Goldnotierungen. Es klingt
nach einem Fantasieszenario, doch selbst
lang jährige Finanzexperten glauben der-
zeit daran. Sie sagen sogar: Das Paradies
dürfte nicht erst in ferner Zukunft anbre-
chen, sondern schon bald. Genauer, be-
reits am Mittwochabend deutscher Zeit.
Denn dann tritt in den USA eine einfluss-
reiche Runde an die Öffentlichkeit, die sich
hinter dem etwas technischen Titel Fed-Of-
fenmarktausschuss verbirgt. Im Klartext:
jenes Gremium, das über die Leitzinsen in
den Vereinigten Staaten entscheidet.
Wenn die Anleger die Äußerungen der No-
tenbanker aus den vergangenen Wochen
aktuell richtig deuten, dann dürften die
Zentralbanker dort erstmals seit Jahren
die Zinsen nicht hochschrauben, sondern
senken – um genau 0,25 Prozentpunkte.
Es ist genau jener Viertelprozentpunkt, je-
ne Wende, die in den Augen vieler Anleger
für das Finanzparadies sorgen dürfte.
Doch auch wenn alles so schön klingt: Anle-
ger sollten sich nicht täuschen lassen.
Denn das Szenario, in dem alles steigt, dürf-
te nicht von langer Dauer sein. Was Anle-
ger nun wissen müssen.

Aktien: Vorsichtig herantasten
Klar, Zinssenkungen sind für Aktien in der
Regel Zucker. Denn wenn die Zinsen sin-
ken, werden Anleihen für Investoren weni-
ger attraktiv – und sie schieben mehr Geld
an die Börsen. „Dieser Zucker dürfte in den
US-Kursen aber nur drei Monate vorhal-
ten“, sagt Jürgen Michels, Chefvolkswirt
der Bayern LB. Was den USA danach wirt-
schaftlich blühen könnte, ist kein Grund
für Optimismus. Noch sieht es zwar ganz
gut aus, aber die Insider in den Firmen
sind zunehmend skeptisch: 48 Prozent der
Finanzchefs US-amerikanischer Unterneh-
men glauben an eine Rezession bereits bis
Mitte des kommenden Jahres. „Die Gefahr
für Enttäuschungen ist groß“, sagt Bay-
ern LB-Mann Michels. Alles andere ist eine
Wette darauf, dass eine Zinssenkung der
US-Konjunktur nachhaltig Triebkraft gibt.
Und nicht nur einen Zuckerrausch.
In Deutschland ist die Gefahr am Aktien-
markt sogar ungleich größer als in den Ver-
einigten Staaten. Denn deutsche Aktien
hängen deutlicher stärker am Faden des
Exports und damit des Welthandels. „In
den vergangenen Wochen hatten wir des-
wegen schon einige Hiobsbotschaften“,
sagt Vermögensverwalter Andreas Görler
von Wellinvest. Denn inzwischen hat eine
ganze Reihe von Unternehmen vor dras-
tisch sinkenden Gewinnen gewarnt. Zwar

dürfte eine Zinssenkung der amerikani-
schen Notenbank Aktien auch hierzulande
ein paar Tage Schubkraft geben, dann dürf-
ten allerdings schnell wieder die Handels-
sorgen in den Fokus geraten. Wer jetzt eine
größere Summe in Aktien schieben will,
sollte das nicht auf einmal tun. „Wir emp-
fehlen die Scheibchentaktik“, sagt Felix
Herrmann vom Vermögensverwalter
Blackrock. Heißt: Nicht alles auf einmal in-
vestieren, sondern immer mal wieder ein
bisschen. Und dann lange dabeibleiben.

Anleihen: Nichts für Ungeübte
Die niedrigen Zinsen sorgen für eine Zei-
tenwende am Anleihemarkt: Inzwischen
hat sich am Finanzmarkt ein 13-Billionen-
Dollar-Berg von negativ rentierenden An-
leihen angestaut. Das heißt im Klartext:
Wer heute eine solche Anleihe kauft und
sie behält, bis der Herausgeber den Betrag
in einigen Jahren zurückzahlt, macht da-
mit ein Minusgeschäft. Er muss die Anlei-
he derzeit so teuer kaufen, dass selbst die
regelmäßigen Zinszahlungen nicht rei-
chen werden, um unter dem Strich ins Plus
zu kommen. Wer aber gar nicht vorhat, An-
leihen auf Jahre bis zur sogenannten End-
fälligkeit zu halten, kann profitieren. Der
Clou: Die Anleihen, die jetzt auf dem Markt
sind, bringen ja noch mehr Zinsen, als die
Anleihen, die bald erst herauskommen

und dann weniger Zinsen bringen dürften.
Anleger jagen auf dem Anleihemarkt der-
zeit nach diesen aktuell noch besser ver-
zinsten Papieren. Das macht diese Titel im-
mer teurer, lässt ihre Kurse steigen. „Anle-
ger sollten sich mehr auf diese Kursgewin-
ne als auf Kuponzahlungen konzentrie-
ren“, sagt Chefvolkswirt Jürgen Michels.
Das ist allerdings nur etwas für Finanzpro-
fis, denn viele Privatinvestoren dürfen An-
leihen nur kaufen, wenn sie mindestens
10.000 oder 100.000 Euro anlegen. „Das
ist vollkommen unrealistisch“, sagt Vermö-
gensberater Andreas Görler. Denn so viel
in eine Anleihe zu stecken, dürfte für nor-
male Anleger meist zu riskant sein. Von da-
her gilt: Finger weg. Auch von Expeditio-
nen in Anleihen von Schwellenländern soll-
ten Privatanleger absehen, rät Görler.

Gold: Dürfte glänzen
In der normalen Welt hat Gold einen Ma-
kel: Es bringt keine Zinsen, sondern ver-
staubt im Tresor. Wenn aber die Zinsen sin-
ken, wird dieses Argument immer neben-
sächlicher. „Im aktuellen Umfeld kann
Gold glänzen“, sagt Anlagestratege Felix
Herrmann vom Vermögensverwalter
Blackrock. Auch viele Notenbanken kau-
fen derzeit Gold. Anleger sollten jedoch ma-
ximal zehn Prozent ihres Vermögens in das
edle Metall schieben. victor gojdka

DEFGH Nr. 175, Mittwoch, 31. Juli 2019 HF3 15


von alexander hagelüken

I


st es schon wieder soweit? Deutsch-
lands Arbeitgeber fordern längeres
Kurzarbeitergeld – und rufen damit
Bilder der großen Krise hervor. Vor zehn
Jahren schrumpfte die Wirtschaft um
fünf Prozent. Millionen Bürger bangten
um ihren Job. Soweit jedoch ist es heute
gottlob nicht. Es birgt Gefahren, jetzt Pa-
nik zu schüren. Und ja, Kurzarbeit hilft bei
Rezessionen. Das wird allerdings nicht rei-
chen. Es kommt in nächster Zeit darauf
an, ob die Firmen insgesamt Verantwor-
tung für Beschäftigte übernehmen.
Als die Finanzakteure die Welt 2008 an
den Abgrund spekulierten, musste der
Staat einspringen. Die Bundesregierung
agierte pragmatisch. Sie spendierte eine
Prämie für den Kauf neuer Autos und zahl-
te bis zu zwei Jahre Kurzarbeitergeld,
wenn Firmen den Geschäftsbetrieb redu-
zierten. Das war richtig, obwohl es nicht
im marktliberalen Lehrbuch steht. An-
ders als in früheren Rezessionen behiel-
ten viele Deutsche ihren Job. Während wei-
te Teile Europas von der Finanz- in die Eu-
rokrise rutschten, stand die Bundesrepu-
blik auch wegen dieser pragmatischen
Maßnahmen bald wieder gut da.


Damit wäre beschrieben, wann Kurzar-
beit besonders nötig ist: In einer tiefen Re-
zession. Momentan erlebt die Bundesre-
publik erst eine Konjunkturdelle. Noch
wird erwartet, dass die Wirtschaft dieses
Jahr ein wenig wächst – und 2020 wieder
stärker. Der Arbeitsmarkt zeigt sich rela-
tiv stabil. Donald Trumps Zollattacken
und Chinas Schwächeln treffen eben vor
allem die Industrie, nicht die Dienstleis-
tungen, die inzwischen die meisten Ar-
beitsplätze im Land stellen.
In dieser Situation wäre es gefährlich,
massenhafte Kurzarbeit an die Wand zu
malen. Übertriebene Angst löst eine Krise
erst richtig aus. Weil Firmen nicht mehr in-
vestieren und Kunden nicht mehr kaufen.
Worum es geht, zeigt eine Umfrage der Be-
ratungsfirma EY, wonach schon jeder
zweite Beschäftigte im Maschinenbau sei-
ne Stelle für unsicher hält. Da gilt es, man-
che Panik zu besänftigen, bevor sich Fir-
men und Bürger Hals über Kopf in eine
echte Wirtschaftskrise sparen.
Bevor die Bundesregierung das Kurzar-
beitergeld ausdehnt, sollte sie ein Investi-


tionsprogramm auflegen. Damit ist nicht
gemeint, kurzfristig Milliarden zu verbal-
lern. Straßen ins Nirgendwo schaffen kei-
ne Arbeit, höchstens die Illusion davon.
Aber es gibt genug Möglichkeiten, sinn-
voll Geld in Deutschlands malade Infra-
struktur zu stecken – und Firmen zu Inves-
titionen anzuregen. Das schafft Zuver-
sicht und wirkt der Panik entgegen.
Was die Kurzarbeit angeht, hat die Re-
gierung den Zeitraum ohnehin vor eini-
gen Jahren auf zwölf Monate ausgedehnt.
Eine weitere Verlängerung sollte es erst in
einer schweren Krise geben. Kurzarbeit
kommt die Allgemeinheit teuer. Die Aus-
dehnung nach der Finanzkrise kostete
fast zehn Milliarden Euro. Die Unterneh-
men dürfen sich nicht einfach darauf ver-
lassen, dass der Staat ihr Personal bezahlt.
Zuvor sollten sie selbst zeigen, dass Be-
schäftigte für sie nicht austauschbar sind
wie Druckerpapier. Es hat für die Firma ei-
nen Wert, eingearbeitete Kräfte zur Verfü-
gung zu haben, sobald die Konjunktur wie-
der anspringt. Viele kleinere und mittlere
Betriebe gehen da gerade mit gutem Bei-
spiel voran. Sie halten die Mitarbeiter,
auch wenn es gerade nicht so boomt.
Einem Trugschluss sollte niemand er-
liegen: Klassische Kurzarbeit hilft zwar ge-
gen Konjunkturkrisen, nicht aber gegen
den Strukturwandel. Das zeigt das Bei-
spiel der Autoindustrie. Wenn künftig vor
allem Elektroantriebe gebraucht werden,
schadet es, bei der Produktion von Ver-
brennungsmotoren ausdauernd kurzar-
beiten zu lassen. Liberale Ökonomen argu-
mentieren zu Recht, dass ein solches Vor-
gehen den Strukturwandel unnötig teuer
verzögert.
An diesem Fall lässt sich erkennen, vor
welchen Herausforderungen die Wirt-
schaft insgesamt steht. Da ist die aktuelle
Konjunkturflaute, aber auch der spezielle
Wandel einzelner Branchen. Und oben-
drauf die Digitalisierung. Allem zusam-
men lässt sich nur durch ein neues Be-
wusstsein begegnen: Arbeitnehmer müs-
sen dauernd weiterqualifiziert werden –
manchmal für andere Berufe. Die Bundes-
regierung gibt die richtige Richtung vor:
Sie finanziert nicht mehr vorrangig die
Weiterbildung von Arbeitslosen. Auch
wer seinen Job noch hat, bekommt Geld
für die Qualifizierung. Die IG Metall möch-
te bei der Transformation nun auch Kurz-
arbeitergeld einsetzen. Solche Modelle
sollte sich die Regierung genau anschau-
en. Die Gefahr besteht, dass die Allgemein-
heit zu viel zahlt. Auch die Unternehmen
können ihren Beitrag dazu leisten, dass Ar-
beitnehmer fit für die Zukunft werden.

Viel Kritik am EuGH


PaigeAdele Thompson hat einen für Pro-
grammiererinnen recht ordentlichen Le-
benslauf. Zwar hat sie das Informatikstudi-
um am College in Bellevue abgebrochen,
dennoch beherrscht die Frau aus Seattle
rund zehn Programmiersprachen und hat
unter anderem für Amazons Cloud-Anbie-
ter AWS gearbeitet. Mit solch einem Le-
benslauf, so die Spekulation in einem Web-
Forum für Systemadministratoren bei Red-
dit, könne man problemlos 100 000 Dollar
im Jahr verdienen. Insofern sei es völlig un-
verständlich, dass sich Thompson der Cy-
berkriminalität zuwende. Doch genau das
hat die 33-Jährige laut einer von einem Ge-
richt in Seattle veröffentlichten Strafanzei-
ge getan.
So habe die Bank „Capital One“ am 17. Ju-
li über eine eigens dafür eingerichtete
E-Mail-Adresse einen Hinweis erhalten,
dass Thompson im Besitz von gestohlenen
Daten der Bank sei. Der Strafanzeige zufol-
ge hat sich Thompson über eine falsch kon-
figurierte Firewall Zugang zu einem Server
der Bank verschafft. Dort war es ihr mög-
lich, sich ein Konto mit weitreichenden Pri-
vilegien für den Cloud-Speicher der Bank
anzulegen. Die Lücke, die Thompson aus-
nutzte, wurde laut Capital One geschlos-
sen. Der Cloud-Konzern wird in der Anzei-
ge nicht genannt, Thompsons ehemaliger
Arbeitgeber AWS hat allerdings bereits be-
stätigt, dass die Daten dort lagerten. Die Si-
cherheitsmechanismen hätten jedoch wie
geplant funktioniert.
Ausgestattet mit den Login-Privilegien,
ließ sich Thompson die dort gelagerten Da-
tentöpfe der Bank anzeigen und kopierte
den Inhalt. Der hat es in sich: Es soll sich
um Daten von 100 Millionen US-Amerika-
ner und weiteren sechs Millionen Kanadi-
ern handeln, überwiegend von Anträgen
für Kreditkarten: Darunter seien Sozialver-
sicherungsnummern, Namen und Geburts-
daten, Angaben zum Einkommen und zur
Kreditwürdigkeit der Antragssteller.


Die Beweisführung für die Staatsanwalt-
schaft ist in diesem Fall deutlich einfacher
als bei Cyberkriminalität üblich. Während
professionelle Hacker nach einem derarti-
gen Coup ihre Spuren sorgfältig verwi-
schen würden, prahlte Thompson beinahe
öffentlich mit ihrer Tat. Ihre Beweggründe
sind unklar. Geld scheint weniger eine Rol-
le gespielt zu haben als möglicherweise
psychische Probleme und ein gewisser Gel-
tungsdrang. Auf Twitter schrieb sie davon,
dass sie sich nach der anstehenden Ein-
schläferung ihrer Katze selbst auf unbe-
stimmte Zeit in eine Psychiatrie einweisen
wolle. Auf diversen Plattformen hinterließ
Thompson Hinweise auf ihren Datendieb-
stahl. So fanden die Ermittler in einem ver-
gleichsweise leicht zugänglichen Kanal auf
der Teamarbeits-Plattform Slack diesen
Austausch zwischen Thompson und einem
anderen Nutzer:
„Ziemlich zwielichtige Sache, bitte geh
nicht ins Gefängnis.“ –„Keine Sorge. Ich so
>ipredator >tor >s3 bei der ganzen Sache.
Ich will den Kram nur von meinem Server
runterbekommen.“
„S3“ ist das Programm, das Amazon für
die Datenspeicherung verwendet. Bei
„IPredator“ und „Tor“ handelt es sich um
Programme zur Verschleierung der eige-
nen Identität im Netz. Thompson fühlte
durch den Einsatz der Tools offenbar si-
cher vor Strafverfolgung. Über den glei-
chen Kanal fanden die Ermittler jedoch
auch eine Tierarztrechnung mit der Wohn-
adresse der Hackerin. Bei einer Hausdurch-
suchung ergaben sich weitere Hinweise
auf den Datendiebstahl.
106 Millionen Daten, damit dürfte der
Datendiebstahl bei Capital One einer der
größten Hacks einer US-Bank sein, den es
jemals gab. Die betroffenen Kunden könn-
ten allerdings Glück im Unglück gehabt ha-
ben: Es gibt aktuell keine Hinweise darauf,
dass Thompson die Daten bereits weiter-
verteilt hatte. max muth

WIRTSCHAFT


KONJUNKTURFLAUTE

Wann Kurzarbeit nötig ist


Ein Haus für alle – das geht nicht, urteilt das Verfassungsgericht. Die EZB muss sich auf die „besonders bedeutenden“ Banken beschränken. FOTO: BORIS ROESSLER/DPA

NAHAUFNAHME


„Ichwill den Kram
nur von meinem Server
runterbekommen.“
Paige Adele Thompson
FOTO: OH

Alle schauen nach Washington


Die amerikanische Notenbank Fed dürfte die Zinsen senken – das hat Folgen in jedem Winkel des Finanzmarkts


Der Kick beim Hacken


Amerikanerin soll Millionen Bankdaten geklaut haben


Nach der Finanzkrise zahlte der


Staat lange für den Lohnausfall.


Soweit ist es noch nicht


Politisch unabhängige Behörden
brauchen ein Minimum an
„demokratischer Steuerbarkeit“
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