Süddeutsche Zeitung - 31.07.2019

(Darren Dugan) #1
München– AmTag danach war das Massa-
ker schon keine große Nachricht mehr. Zu-
mindest dieFolha de São Paulo, die renom-
mierteste Zeitung Brasiliens, beschäftigte
sich auf ihrer Startseite längst wieder mit
anderen Dingen, mit den umstrittenen Plä-
nen von Präsident Jair Bolsonaro etwa, der
seinen Sohn als Botschafter in die USA schi-
cken möchte. Es wirkt, als sei die brasiliani-
sche Öffentlichkeit müde, all diese Blutta-
ten in den Gefängnissen. Am Montag war
es im nördlichen Bundesstaat Pará wieder
zu einem dieser Massaker gekommen. In
der Haftanstalt Altamira waren Häftlinge
aufeinander losgegangen, am Ende waren
57 Menschen tot. 16 von ihnen wurden auf
grausame Weise enthauptet. Die anderen
41 erstickten bei einem Brand, den einige
der Häftlinge gelegt hatten.
Das Massaker ist der nächste, traurige
Höhepunkt einer Krise, die Brasiliens
Gefängnisse seit Jahren erschüttert. Allein
seit Januar 2017 ist es in verschiedenen
Haftanstalten zu mindestens sechs solcher
Bluttaten gekommen, bei denen nach offi-
ziellen Zahlen 227 Menschen getötet wur-
den. Und auch davor waren sie keine Selten-
heit. Im Netz kursieren grausame Videos
von Enthauptungen und Zerstückelungen,
sogar von Kannibalismus ist die Rede.
Betroffen sind vor allem die nördlichen
Bundesstaaten Brasiliens, Pará, Amazonas
und Rio Grande do Norte etwa, wo die
Bevölkerung ärmer ist als im Süden. Es
kam aber auch schon zu Aufständen und
Meutereien in Großstadt-Gefängnissen,
etwa in São Paulo oder in Belo Horizonte.

Der wesentliche Grund für die immer
wieder ausbrechende Gewalt liegt darin,
dass der Staat in den Gefängnissen längst
die Kontrolle verloren hat. Das Sagen ha-
ben dort stattdessen Drogenbanden. Inhaf-
tierte Bosse führen ihre Geschäfte häufig
aus der Zelle heraus weiter. Die Mitglieder
rivalisierender Drogengangs werden in ein
und demselben Gefängnis eingesperrt,
neue Häftlinge schließen sich zudem einer
Gang an, um zu überleben. So war es auch
beim Blutbad von Montag in Altamira.
Dort gingen Mitglieder des „Roten Kom-
mandos“, einem aus Rio stammenden
Drogenkartell, und Anhänger des regiona-
len „Kommandos Klasse A“ aufeinander

los. Das „Kommando Klasse A“ hatte sich
kürzlich mit einem anderen Kartell verbün-
det, das wiederum einer der Hauptrivalen
des „Roten Kommandos“ ist.
Nicht nur wegen der Herrschaft der
Gangs ist der brasilianische Strafvollzug
seit Jahren in einem desolaten Zustand.
Die Gefängnisse sind heillos überfüllt,
etwa 708 000 Menschen sollen einsitzen,
die Gefängnisse aber haben nur eine Kapa-
zität für 416000. Per Gesetz stehen jedem
brasilianischen Häftling eigentlich sechs
Quadratmeter Platz zu, in der Praxis aber
werden mehrere Insassen in enge Zellen
gepfercht. Die Überbelegung ist unter an-
derem eine Folge extrem harter Gesetze
gegen Drogenbesitz und Drogenhandel.
Sie führt dazu, dass Konsumenten und
Kleindealer häufig viele Jahre ins Gefäng-
nis müssen, ohne dass es ausreichend
Platz für sie gäbe. Verschärft wird das Pro-
blem durch Untersuchungshäftlinge, die
wegen überlasteter Gerichte oft jahrelang
auf ihren Prozess warten.
All das ist nicht nur dem amtierenden
Präsidenten Bolsonaro anzulasten, auch
seine Vorgänger haben nichts gegen die
verheerenden Zustände getan. Es ist aber
auch nicht zu erwarten, dass der Amts-
inhaber etwas daran ändern wird. Bisher
zumindest hat Bolsonaro nichts unternom-
men, und vor seiner Zeit als Staatschef
sagte er: „Unsere Gefängnisse sind wunder-
bar. Das sind schließlich keine Sommer-
ferienlager.“benedikt peters Seite 4

von cathrin kahlweit

London– Die Rundreise des neuen Premi-
erministers durch das Vereinigte König-
reich verläuft für ihn bisher ziemlich uner-
freulich. Dabei hatte sich der „Minister für
die Union“, zu dem sich Johnson selbst er-
nannt hat, doch aufgemacht, den Briten
die Angst vor einem harten Brexit zu neh-
men und bei ihnen stattdessen die Vorfreu-
de auf neue Märkte und neue Chancen zu
wecken. Das klang dann so: „Ich werde si-
cherstellen, dass alle Ecken des Vereinig-
ten Königreichs die strahlende Zukunft au-
ßerhalb der EU genießen können.“ Oder so:
„Ich werde dafür sorgen, dass sich der Bre-
xit für die britischen Bauern auszahlt.“
Oder so: „Wir werden neue Handelsabkom-
men unterzeichnen, damit unsere großarti-
gen Farmer mehr denn je verkaufen, nicht
nur daheim, sondern in die ganze Welt.“
Aber die Schotten und die Waliser wa-
ren nicht beeindruckt. Am Montag waren
die Buhrufe bei Johnsons Ankunft im
Amtssitz der schottischen Ministerpräsi-
dentin, Nicola Sturgeon, so laut gewesen,
dass Johnson nach dem Gespräch, in dem
ihm Sturgeon die Leviten gelesen hatte, lie-
ber durch den Hinterausgang das Weite
suchte. Er wollte ganz offensichtlich kurz
nach seinem Amtsantritt Bilder vermei-
den, die zeigen, dass nicht alle Briten so be-
geistert von No Deal sind wie die Mehrheit
der 95000 Tories, die ihn zuvor gewählt ha-
ben.

Sturgeon droht regelmäßig mit einem
neuen Unabhängigkeitsreferendum, sollte
sich Großbritannien tatsächlich mit einem
harten Crash aus der EU verabschieden.
Das letzte war 2014 noch knapp für den Ver-
bleib im Königreich ausgegangen, aber
seither hat ihre schottische Nationalpartei
viel Boden gutgemacht. Umfragen deuten
darauf hin, dass ein neuer Anlauf in einen
Scoxitmünden – und mit einem EU-Mit-
glied Schottland enden könnte. Das ist Zu-
kunftsmusik, aber doch real genug, um die
englischen Tories nervös zu machen – wes-
halb Johnson sich als Erstes nach Edin-
burgh begab.
Auch ein Erstarken der traditionell
schwächelnden walisischen Unabhängig-
keitsbewegung wird bereits vermeldet.
Zwar wurde die Region im Südwesten des
Landes bereits im 16. Jahrhundert endgül-
tig in das Königreich eingegliedert, aber
auch hier haben sich Nester von Nationalis-
ten gehalten, die eine Separation der Regi-
on anstreben. Die Regionalpartei Plaid
Cymru (Party of Wales) hat in Umfragen zu-
letzt leicht zugelegt.
Schottland, Wales und Nordirland sind
sogenannte „devolved nations“, die drei
Landesteile haben eigene Parlamente und

begrenzte Gesetzgebungskompetenzen.
Nur England als größte Nation wird vom
britischen Parlament vertreten. Dass der
Brexit mit einem Auseinanderbrechen der
Union einhergehen könnte, nimmt nach ak-
tuellen Umfragen eine Mehrheit in der Kon-
servativen Partei in Kauf. Die letzte Premi-
erministerin, Theresa May, hatte unter an-
derem aus Angst vor diesem Szenario ei-
nen No Deal für inakzeptabel erklärt.
Am Dienstag reiste nun ihr Nachfolger
nach Wales, das, anders als Schottland,
2016 mehrheitlich für den Brexit gestimmt
hatte. Auch hier war schon vor seiner Anrei-
se die Stimmung gedrückt und die Rheto-
rik aggressiv. Vor Johnsons Besuch hatte
der walisische Bauernverband bereits mit
„Aufständen“ für den Fall eines No Deal ge-
droht. In der BBC sagte eine Regionalver-
treterin des britischen Schafzüchterver-
bandes, Helen Roberts, ein harter Crash

würde eine „Katastrophe“ für die Branche
bedeuten. Das Wort „Katastrophe“ nahm
dann auch der Ministerpräsident von Wa-
les, Mark Drakeford, auf. No Deal, twitter-
te er, bevor Johnson ihm überhaupt in Car-
diff seine Aufwartung gemacht hatte, wer-
de „Landwirtschaft und Industrie schaden
und die Union zerstören. Der Premiermi-
nister muss schnellstens aufhören, mit
dem Feuer zu spielen“.

Tatsächlich scheint es erst jetzt vielen
Walisern zu dämmern, was der Brexit, für
den sie sich mit 53 Prozent Stimmanteil
ausgesprochen hatten, für sie bedeutet.
Für Schaf- und Lammprodukte, ein wichti-

ges Exportgut in Wales, drohen nach ei-
nem harten Brexit Tarife von 40 Prozent.
Und von den 40 Prozent der Lammfleisch-
produktion, die das Land verlassen, gehen
wiederum 90 Prozent in die EU: die Expor-
te dürften also einbrechen. Schafzüchter
warnen bereits vor Massenschlachtungen.
Umgekehrt fließen jährlich etwa 300 Milli-
onen Euro EU-Subventionen aus der Ge-
meinsamen Agrarpolitik an Wales. Diese
Lücke müsste in Zukunft London füllen.
Der neue Parlamentsminister und Bre-
xit-Fan Jacob Rees-Mogg hat zwar bereits
tröstend wissen lassen, für die betroffenen
Bauern werde „gesorgt“. Viele Landwirte
haben allerdings mittlerweile Zweifel, ob
das Geld weiter fließen wird. Johnson fuhr
daher am Abend mit der Aufforderung in
die Downing Street zurück, er solle nicht
länger „russisches Roulette“ mit der Wirt-
schaft des Landes spielen.

Auch noch weiter westlich, auf der iri-
schen Insel, macht sich Angst vor den Fol-
gen einer Politik breit, gegen die 56 Pro-
zent der Nordiren gestimmt hatten. John-
son hatte am Dienstag, nach langem Zö-
gern, endlich mit dem Premier der Repu-
blik Irland, Leo Varadkar, telefoniert und
behauptet, eine harte Grenze lasse sich
durch technische Lösungen vermeiden.
Wo er die auf die Schnelle hernehmen will,
da sein Land bereits am 31. Oktober die EU
verlässt, sagte er nicht. Varadkar dürfte
derweil zugleich aufmerksam nach Belfast
geschaut haben, wo die Chefin der republi-
kanischen Sinn-Féin-Partei, Mary Lou
McDonald, eine programmatische Rede
hielt. Die Menschen in Nordirland setzten
angesichts des Irrsinns in London ver-
stärkt auf Führung aus Dublin, sagte sie.
Die Vision eines vereinigten Irlands sei so
real wie nie zuvor.

Massaker im Gefängnis


57 Tote bei Kämpfen zwischen brasilianischen Banden


Langsam dämmert es


Eigentlich wollte Boris Johnson auf seiner Tour den Briten die Angst vor einem harten Brexit nehmen und stattdessen die Vorfreude


Kabul –Die Luftangriffe und Bodenein- auf neue Märkte und neue Chancen wecken. Aber die Schotten und die Waliser waren zumeist nicht beeindruckt
sätze der afghanischen Regierungstrup-
pen und ihrer internationalen Verbünde-
ten fordern zunehmend zivile Opfer.
Die Zahl der bei Einsätzen regierungs-
treuer Truppen verwundeten und getö-
teten Zivilisten stieg im ersten Halbjahr
um 31 Prozent auf 1397. Das geht aus
einem Bericht der UN-Mission in Afgha-
nistan (Unama) vom Dienstag hervor.
Zählt man nur die getöteten Zivilisten,
sind die regierungstreuen Truppen das
zweite Quartal in Folge für mehr Opfer
verantwortlich als die Aufständischen.
Die USA haben laut Statistiken der US-
Luftwaffe seit 2017 die Zahl der Abwür-
fe von Bomben und anderer Munition
fast verdoppelt. Washington spricht
derzeit direkt mit Taliban-Vertretern
über ein Ende des Konflikts. dpa


Hongkong –Demonstranten in Hong-
kong haben ihren Protest auf den öffent-
lichen Nahverkehr ausgedehnt. Am
Dienstagmorgen zur Hauptverkehrszeit
blockierten sie Türen von U-Bahnen,
was zu hitzigen Diskussionen mit Pend-
lern führte. Der Verkehrsbetrieb MTR
meldete Verspätungen und teilweise
Ausfälle. Es wurden Minibusse einge-
setzt, um die verspäteten Bahnen zu
ersetzen. Die Störung des Nahverkehrs
ist Teil der demokratischen Protestbe-
wegung, die in diesem Sommer bereits
Hunderttausende Menschen gegen die
Regierung der Sonderverwaltungszone
auf die Straße gebracht hat. Die Protes-
te in Hongkong hatten sich zunächst
gegen ein Auslieferungsgesetz gerich-
tet, das die Überstellung Verdächtiger
nach Festlandchina vorsah und inzwi-
schen ausgesetzt wurde. ap


Bukarest– Rumäniens Innenminister
Nicolae Moga ist nach nur sechs Tagen
Amtszeit zurückgetreten. Er reagierte
damit am Dienstag auf massive Vorwür-
fe gegen die Polizei im Zusammenhang
mit Ermittlungen zur mutmaßlichen
Tötung zweier junger Frauen. Das The-
ma könnte nach Meinung von Beobach-
tern angesichts der Präsidentenwahlen
im November weitere politische Folgen
haben. Eine 15-Jährige und eine 18-Jäh-
rige sind offenbar von einem Mann in
der südrumänischen Stadt Caracal ver-
gewaltigt und getötet worden. Die
15-Jährige hatte mehrmals mit einem
Mobiltelefon per Notruf die Polizei dar-
über verständigt, dass sie in Caracal
gefangengehalten werde. Dennoch
wurde sie nicht gerettet. dpa


Moskau –Nach den Massenfestnah-
men bei den Protesten in der russischen
Hauptstadt Moskau sind mehr als 60
Demonstranten zu Arreststrafen verur-
teilt worden. Zusätzlich seien 160 Teil-
nehmer, Organisatoren und Oppositio-
nelle mit Geldstrafen belegt worden,
teilte das Moskauer Stadtgericht am
Dienstag der Agentur Interfax mit.
Der bekannte Kremlkritiker Ilja Jaschin
erhielt in zwei Fällen insgesamt 20 Tage
Arrest(FOTO: IMAGO), ein Mitstreiter von
Alexej Nawalny wird 30 Tage einge-
sperrt. Der Oppositionelle Nawalny war
bereits vor den Protesten zu 30 Tagen


Arrest verurteilt worden. Nawalny und
sein Team hatten am Wochenende zu
einem Protest vor dem Moskauer Rat-
haus aufgerufen, weil Dutzende Opposi-
tionelle nicht zur Regionalwahl im Sep-
tember zugelassen werden. Die Behör-
den hatten die Demonstration nicht
genehmigt. Etwa 1400 Menschen wur-
den dabei festgenommen. Das harte
Durchgreifen der Moskauer Polizei
wurde von der EU, den Vereinten Natio-
nen und auch von deutschen Politikern
kritisiert. Die Oppositionellen riefen für
Samstag zu einer neuen Kundgebung
auf. Sie verhandeln mit der Stadtverwal-
tung über einen Ort. dpa


Washington –In den USA haben die
Kirchen deutlich an Ansehen verloren.
Bei einer Erhebung gaben 52 Prozent
der Befragten an, Kirchen und religiöse
Institutionen hätten einen positiven
Einfluss auf die Gesellschaft, wie das
Forschungsinstitut Pew Research Cen-
ter mitteilte. Das waren elf Prozent-
punkte weniger als im Jahr 2000.
Die Einstellung zur Kirche hängt dabei
stark von der parteipolitischen Präfe-
renz ab. Während 68 Prozent der Anhän-
ger der Republikaner erklärten, die
Kirchen hätten eine positive Wirkung
auf die US-Gesellschaft, waren unter
den Wählern der Demokraten nur 38
Prozent dieser Auffassung. Für die Un-
tersuchung wurden im Juli etwa 1500
Erwachsene in allen 50 Bundesstaaten
befragt. Dabei stellte sich auch heraus,
dass die Mehrheit der US-Amerikaner
die etablierten nationalen Medien kri-
tisch sieht. epd


Tel Aviv– Die Beziehung zwischen der isra-
elischen Regierung und der palästinensi-
schen Autonomiebehörde hat sich in den
vergangenen Wochen massiv verschlech-
tert. Wegen eines Streits mit Israel über die
Auszahlung von Steuern und Zöllen kün-
digte Ministerpräsident Mohammed Schta-
je nach der Kabinettssitzung in Ramallah
massive Einsparungen im öffentlichen
Sektor an. Wo genau, ließ Schtaje offen,
nur in einem Punkt wurde er konkret: Die
Beschäftigten der Autonomiebehörden be-
kommen nächste Woche nur 60 Prozent ih-
res Gehalts ausbezahlt. Schon in den ver-
gangenen zwei Monaten wurden Gehälter
nicht zur Gänze überwiesen.
Der Ministerpräsident forderte die Uni-
versitäten auf, von den Studenten, deren
Eltern für die Autonomiebehörde arbeiten,
nur die Hälfte der Studiengebühren zu ver-
langen. Das hat einen Dominoeffekt: Die
weitgehend autonom agierenden Universi-
täten, die stark von den Einnahmen aus
Studiengebühren abhängig sind, haben be-
reits Probleme, Gehälter ihrer Angestell-
ten vollständig auszuzahlen.
Die Autonomiebehörde hat Kredite auf-
genommen, um zumindest die dringends-
ten Ausgaben begleichen zu können. Minis-
terpräsident Schtaje hat in einem Inter-
view mit derNew York Timesvor Kurzem
gemutmaßt, die Behörde könne noch im
Sommer kollabieren. Nach Ansicht der Pa-
lästinenser hält Israel in einem „Akt der Pi-
raterie“, so Schtaje, Gelder zurück, die der
Autonomiebehörde zustünden.

Gemäß dem Oslo-Abkommen erhebt Is-
rael für die Palästinenser Steuern und Zöl-
le – etwa, wenn Waren über israelische
Häfen in die palästinensischen Gebiete ge-
langen. Seit Februar kürzt Israel die Über-
weisungen, es geht um umgerechnet 125
Millionen Euro pro Jahr. Das ist jene Sum-
me, die die Palästinenser nach israelischer
Darstellung an die Familien von Attentä-
tern oder Gefangenen, die in Israel einsit-
zen, überweisen. Die Israelis sehen in dem
sogenannten Märtyrerfonds einen Anreiz,
weitere Attentate zu verüben. Für die Paläs-
tinenser ist dies eine Unterstützung für Fa-
milien, die ihren Ernährer verloren haben.
Nach der angekündigten Kürzung der
Überweisungen hat Präsident Mahmud Ab-

bas entschieden, dass gar keine Gelder
mehr von Israel angenommen werden. Isra-
el überweist insgesamt umgerechnet
2,2 Milliarden Euro pro Jahr. Die Autono-
miebehörde hängt zu rund 70 Prozent von
den Finanztransfers ab. Kürzungen der Ge-
hälter der 130000 Beschäftigten haben weit-
reichende Auswirkungen: Von jedem Ge-
halt leben bis zu zehn Familienangehörige.
Die meisten Beschäftigten sind im Sicher-
heitsbereich tätig. Seit sie mit israelischen
Behörden zusammenarbeiten, gibt es weni-
ger Attentate. Vertreter der israelischen
Armee und der Geheimdienst haben ihre Re-
gierung deshalb vor einer Kürzung der Gel-
der für die Palästinenser gewarnt, weil sie
das Ende der Kooperation befürchteten.
Präsident Abbas hat nun die Aufkündi-
gung aller Abkommen mit Israel angekün-
digt – aus Verärgerung über die einbehalte-
nen Gelder und die Demolierung von Häu-
sern von Palästinensern in Ostjerusalem
vergangene Woche durch Israel.

Marc Frings, Leiter der Konrad-Adenau-
er-Stiftung in Ramallah, erwartet aller-
dings keinen Kollaps der Autonomiebehör-
de. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass
es nie an finanzieller Unterstützung für die
Palästinenser gefehlt habe. „Aber ich glau-
be, dass es eines Vermittlers aus der Arabi-
schen Liga bedarf, um die angespannte La-
ge zu lösen. Vor den israelischen Parla-
mentswahlen im September wird Israels
Premier Netanjahu keinen Grund haben,
Zugeständnisse gegenüber Ramallah zu ar-
tikulieren.“ Seiner Einschätzung nach hat
Abbas „selten so klar“ seine Drohung for-
muliert. „Aus seinem Umfeld weiß ich
aber, dass bislang nichts dergleichen unter-
nommen wurde.“
In den vergangenen vier Jahren gab es
insgesamt sieben Drohungen, die Zusam-
menarbeit mit Israel aufzukündigen oder
die Anerkennung des Staates Israels zu-
rückzunehmen.
alexandra föderl-schmid

DEFGH Nr. 175, Mittwoch, 31. Juli 2019 (^) POLITIK HMG 7
Nahm am Ende lieber den Hinterausgang: Boris Johnson zu Besuch bei der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon. FOTO:DUNCAN MCGLYNN/POOL VIA REUTERS
Der Aufstand in der Haftanstalt Altami-
ra im Staat Pará war einer von vielen in
Brasiliens Gefängnissen. FOTO: REUTERS
Nach dem jüngsten Abriss mehrerer palästinensischer Häuser in Ostjerusalem will
Präsident Mahmud Abbas alle Verträge mit Israel aussetzen. FOTO: GHARABLI/AFP
Der walisische Bauernverband
drohte bereits mit „Aufständen“
für den Fall eines No Deal
Die Lücke der EU-Subventionen
muss künftig von
London gestopft werden
Die Überbelegung ist eine Folge
extrem harter Gesetze gegen
Drogenbesitz und Drogenhandel
Seit die Palästinenser mit Israels
Behörden zusammenarbeiten,
gibt es weniger Attentate
Zivile Opfer in Afghanistan
U-Bahnen lahmgelegt
Rücktritt nach Frauenmord
Haftstrafen in Russland
US-Kirchenverlieren Ansehen
AUSLAND
Streit um „Märtyrerfonds“
Die palästinensischeAutonomiebehörde steht kurz vor dem finanziellen Kollaps

Free download pdf