Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

2 POLITIK 8. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 33


ZEIT: Der Vorgang bestätigt einen Verdacht, den
viele haben: Die grüne Spitze überdeckt, dass da-
hinter eine Partei steht, die in Teilen immer noch
fundamentalistisch ist. Wie Habeck sind die
Grünen?
Cohn-Bendit: Man muss fair sein. In Hessen ha-
ben die Grünen in einer schwarz-grünen Koa li tion
gewonnen, das hat niemand für möglich gehalten.
In Baden-Württemberg regieren sie erfolgreich. In
Bayern könnten sie es. Wahr ist, dass es noch Mo-
mente gibt, in denen die Grünen Angst haben,
ihre Identität als radikale Partei zu verlieren. Aber
es gibt historische Sprünge. Und ich glaube nicht,
dass die Grünen wieder eine Rolle rückwärts ma-
chen wollen und können.
ZEIT: Wenn man regiert, gibt es immer den
schmalen Grat zwischen Opportunismus und
Pragmatismus: Macht man zu viele Kompromisse,
wenn man Positionen aufgibt, oder kommt man
dadurch erst in die Lage, mit-
zugestalten?
Cohn-Bendit: Dafür gibt es kei-
ne magische Formel. Man geht
nicht als radikale Opposition in
eine Regierung. Interessant wird
sein, wie die Grünen in einer Re-
gierung mit den radikalen For-
derungen wie etwa von »Fridays
for Future« oder anderen Bewe-
gungen umgehen. Ob sie es
schaffen, zuzuhören, aber nicht
opportunistisch zu sagen: Wir
machen alles, was ihr fordert.
Denn das ist nicht möglich.
ZEIT: Robert Habeck sagt: Radi-
kal ist das neue realistisch. Sie
sagen: Radikal ist heute, Mehr-
heiten zu organisieren.
Cohn-Bendit: Ja, heute ist der-
jenige radikal, der es schafft,
eine Mehrheit in der Gesell-
schaft für die notwendigen
Schritte zu einer ökologischen
Wende zu organisieren und
Ängste zu überwinden.
ZEIT: Sie messen das Radikale
also nicht daran, wie nahe es den
Forderungen von Wissenschaft-
lern kommt, sondern wie sehr
man es schafft, Naturwissenschaft
und Gesellschaft zu verbinden?
Cohn-Bendit: Ich würde es noch
anders sagen. Die Wissenschaft
formuliert klare Horrorzukunfts-
szenarios, die wir nicht wollen.
Diese dürfen wir nicht negieren,
wir müssen sie akzeptieren. Aber
wie nehme ich die Gesellschaft
mit? Traditionelle Parteien sagen
im Wahlkampf: Wählt uns, und
alles wird besser. Wenn die Grü-
nen ehrlich sind, müssen sie sa-
gen: Wählt uns, und alles wird
schwieriger. Die Gesellschaft ist
langsamer als eine Wissenschaft,
die Notwendigkeiten postulie-
ren kann.
ZEIT: Sie zitieren gern den
Künstler Joseph Beuys, der 1979
gesagt hat: »Nur die Grünen
wollen die Neugestaltung des
Lebens.« Was ist, wenn die
Mehrheit keine Neugestaltung
ihres Lebens will?
Cohn-Bendit: Das ist die He-
rausforderung, wenn man mor-
gen im Kanzleramt das Sagen
hat. Auch wenn man »nur« in
einer schwarz-grünen Koa li tion
ist. Selbst wenn die Grünen
stärkste Partei würden, müssten
sie koalieren mit CDU/CSU,
das heißt mit den Dobrindts und
Scheuers dieser Welt. Da ein
Programm zu formulieren, das
die Wissenschaftler zufrieden-
stellt, wird nicht so einfach sein.
ZEIT: Wenn die Mehrheit sagen
würde: Diese Neugestaltung der
Lebensverhältnisse will ich nicht,
müsste man das dann letztlich
akzeptieren?
Cohn-Bendit: Was heißt akzep-
tieren? Man muss es versuchen
um den Preis, dass man auch ab-
gewählt wird, das ist nun mal so.
ZEIT: Es gibt Leute, die sagen: Die Ökodebatte er-
innert mich an die Zeit im Marxismus-Leninismus-
Seminar, als es nur Haupt- und Neben widerspruch
gab. Der Hauptwiderspruch war der Kapitalismus.
Und jetzt muss alles durch die Öko-Brille betrach-
tet werden. Ist das ein doofer Vergleich?
Cohn-Bendit: Nein, das ist eine Lehre aus der Ge-
schichte, die man mitnehmen muss. Es gibt Tot-

schlagargumente. Wenn ich zum Beispiel sage: Die
Erderwärmung muss gestoppt werden und meine
Strategien sind die einzig möglichen, sonst geht
die Welt unter, habe ich überhaupt keinen Spiel-
raum mehr. Dann bin ich schachmatt. Dann lande
ich in der alten Diskussion, wo ich sage: Eine Re-
gierung der Wissenschaftler, der Philosophen muss
Vorgaben machen und sie durchsetzen, denn die
Menschen sind zu schwach. Solche Tendenzen
sieht man in China. Ich gebe Ihnen ein Beispiel,
wie man das aufdröseln kann. In Deutschland ha-
ben wir den Ausstieg aus der Atomenergie durch-
gesetzt. Das hat mit Klimawandel wenig zu tun.
ZEIT: Sie wollen eine neue Debatte über
Atomkraft?
Cohn-Bendit: Ich bin immer noch gegen Atom,
ich sage nur: Wenn man die Priorität des Klima-
wandels ernst nimmt, muss man den Ausstieg aus
der Atomenergie vielleicht ganz anders diskutieren
und über verschiedene Geschwindigkeiten spre-
chen. China kann nicht gleichzeitig aus der Atom-
energie aussteigen und aus der Kohleindustrie. Die
ökologische Bewegung muss in der Lage sein, das
neu zu diskutieren.
ZEIT: Reden Sie da auch über Deutschland?
Cohn-Bendit: Für Deutschland ist das vorbei. Die
Frage ist vielmehr: Wie schaffen sie es in Ländern
wie Polen oder China oder Indien mit einer großen
Abhängigkeit der Kohleindustrie, was sind die
Alternativen? Und wenn einer kommt und sagt:
Ich baue ein modernes Atomkraftwerk mehr, um
schneller aus der Kohle auszusteigen, würde ich
nicht sagen: Zukunftskiller!
ZEIT: Lassen Sie uns einmal nach Frankreich
schauen. Sie sind ein Grüner, haben aber Emma-
nuel Macron beraten und unterstützt. Warum?
Cohn-Bendit: Er hat eine Sicht auf die Notwen-
digkeit der Veränderungen, die für Frankreich ab-
solut richtig ist. Die Grünen werfen ihm vor, er sei
nicht ökologisch. Ich sage: Hey, niemand ist als
Ökologe geboren, wir auch nicht. Viele waren
Marxisten-Leninisten, bevor sie glühende Ökolo-
gen wurden, und haben einen Unsinn formuliert,
der haarsträubend war! Ich halte Macron für
Frank reich für einen Glücksfall, weil er alte Struk-
turen einfach aufbricht. Und er eignet sich eine
ökologische Position an.
ZEIT: Na ja, so einfach bricht er die Strukturen
nicht auf. Die Gelbwesten-Proteste haben Macron
gezwungen, seine Ökosteuerreform abzumildern.
Cohn-Bendit: Stimmt. Macron hatte um die
25 Prozent Wählerstimmen im ersten Wahlgang für
sich. Aber die anderen 75 Prozent haben ihn nicht
gewählt. Im zweiten Wahlgang haben viele vor al-
lem gegen Ma rine Le Pen gestimmt. Ähnlich wird
es sein, wenn die Grünen in die Regierung gehen.
ZEIT: Was können die Grünen also von Macron
lernen?
Cohn-Bendit: Er hatte es schwerer, weil er auf dem
Arbeitsmarkt Reformen machen musste, die
Deutschland schon hinter sich hatte. Aber man
kann es sicherlich auch besser machen. Man muss
Maßnahmen finden, um zum Beispiel der unter-
schiedlichen Situation in der Stadt und auf dem
Land gerecht zu werden. Auf dem Land braucht
man ein Auto, das ist klar. Auch ein paar Bus- und
Bahnlinien mehr werden das nicht ändern. Das
heißt, die Grünen müssen sich differenzierte Maß-
nahmen überlegen, wie man Menschen, die vom
Auto abhängig sind, so unterstützen kann, dass sie
das Auto weniger benutzen.
ZEIT: Das klingt extrem pragmatisch. Dabei wa-
ren gerade Sie doch mal als radikaler Revolutionär
gestartet.
Cohn-Bendit: Aber das ist Radikalität! Radikalität
heute bedeutet nicht alles oder nichts und ohne
Rücksicht sein notwendiges Programm durchzudrü-
cken, sondern Widersprüche zu überwinden.
ZEIT: Läuft das dann nicht auf das hinaus, wovon
Sie vorhin gesagt haben, das gibt’s eigentlich nicht:
radikale Veränderungen, die niemandem wehtun?
Cohn-Bendit: Das ist ja der Clou: Früher waren
die Wähler sauer, wenn politische Versprechungen
gebrochen wurden. Heute müssen sie es ertragen,
wenn diese gehalten werden. Das werden sie nur
dann tun, wenn das, was von ihnen gefordert wird,
Sinn macht und perspektivisch auch ihnen etwas
bringt. Das muss man vermitteln.
ZEIT: Gibt es das Wort »Flugscham« eigentlich in
anderen europäischen Sprachen?
Cohn-Bendit: Ich glaube nicht. Das scheint mir
ein typisch deutsches Wort, wie Waldsterben.
ZEIT: Schämen Sie sich, wenn Sie fliegen?
Cohn-Bendit: Nee, wieso soll ich mich schämen?
Ich mache schon unheimlich lange keine unsinni-
gen Flüge mehr, also von Berlin nach Frankfurt
oder so. Und wenn ich fliege, muss ich entweder
unbedingt zu einer Veranstaltung, oder ich kom-
me da sonst nicht mehr weg. Oder ich will einfach
nur nach New York. Ich verbinde rationale Argu-
mente mit meinem Lustprinzip! Und deswegen
brauche ich mich nicht zu schämen.

Die Fragen stellte Tina Hildebrandt

TITELTHEMA: WIE GRÜN SIND DIE GRÜNEN?


DIE ZEIT: Sie haben einmal gesagt, Robert Habeck
oder Annalena Baerbock könnten »eines Tages«
Kanzler sein. Kann dieser Tag vielleicht schon 2020
oder 2021 kommen?
Daniel Cohn-Bendit: Ja. Das ist eine realistische
Möglichkeit. Und das ist das Neue an der politi-
schen Landschaft in Deutschland: Eine Partei
kann mit 25, 26 Prozent den Kanzler stellen. Ich
finde aber, wir sollten aufhören zu sagen, Habeck
oder Baerbock. Für mich ist Robert Habeck ganz
klar die Person, die als erster grüner Bundeskanzler
in die Geschichte eingehen kann. Nicht dass ich es
Annalena Baerbock nicht zutrauen würde, aber
Robert Habeck ist heute die grüne politische Per-
sönlichkeit, die zum Kanzleramt führen kann.
ZEIT: Sollten die Grünen ihn als Kanzlerkandida-
ten aufstellen?
Cohn-Bendit: Ja. Mein Wunsch wäre, dass Anna-
lena Baerbock ihn vorschlägt und ein Parteitag
Robert Habeck aufstellt. Ich
traue ihr diese Klugheit absolut
zu.
ZEIT: In der Partei gibt es Sorge
vor der »Westerwelle-Falle«: Der
FDP-Chef ließ sich eine 18 auf
die Schuhsohlen drucken, trat
als Spitzenkandidat an und en-
dete bei 7,4 Prozent.
Cohn-Bendit: Der Vergleich ist
Quatsch. Westerwelle hatte ja
nie 18 Prozent. Die Grünen lie-
gen stabil bei 26 Prozent. Es gibt
eine Sehnsucht nach etwas
Neuem, die Habeck verkörpert.
Die muss man kultivieren! Das
ist Politik!
ZEIT: Die Grünen sind aller-
dings traditionell besser in Um-
fragen als in Wahlen. Sie waren
vor einigen Jahren schon einmal
bei 23 Prozent und landeten
dann bei unter 10. Diesmal ist es
anders?
Cohn-Bendit: Ja. Da kommen
ein paar Dinge zusammen: ei-
nerseits das Bewusstsein über
den Klimawandel und dessen
Herausforderungen. Diese Mo-
bilisierung in der Gesellschaft ist
nicht identisch mit dem, was die
Grünen sagen. Aber die Rich-
tung wurde bis jetzt nur von ih-
nen formuliert. Hinzu kommt
die Art und Weise, wie Habeck
und Baerbock Politik machen.
Das hat die Grünen verändert.
Und diese fragende, nicht apo-
diktische Art trifft die Stimmung
von vielen.
ZEIT: Wie weit kommt man mit
Fragen, wenn man regiert? Dann
werden Antworten erwartet.
Cohn-Bendit: Das ist die He-
rausforderung. Die Grünen
müssen sich darauf einstellen,
dass sie ab jetzt daran gemessen
werden, was sie konkret vor-
schlagen, damit es in einer Re-
gierung umgesetzt wird.
ZEIT: Hat die Partei schon reali-
siert, was das bedeutet?
Cohn-Bendit: Nicht immer.
Wenn ich das Verhalten der Eu-
ropa-Grünen bei der Wahl der
Kommissionspräsidentin sehe ...
ZEIT: Sie haben Ursula von der
Leyen nicht gewählt.
Cohn-Bendit: ...dann sage ich:
Das war ein Fauxpas. Da haben
die Grünen traditionell gehan-
delt und dogmatisch eine Po si-
tion vertreten. Sie haben nicht
gemerkt, dass sie ihrer Ver-
antwortung nicht gerecht wer-
den, wenn sie sagen, es ist fünf
vor zwölf, aber wir mischen in
Europa nur dann mit, wenn un-
sere Forderungen übernommen
werden. Und das ist ja noch
nicht zu Ende!
ZEIT: Ursula von der Leyen ist
knapp gewählt.
Cohn-Bendit: Aber die Kommis-
sion muss als Kommission im
Herbst bestätigt werden. Und
wenn sich die Grünen nach dem
Sommer weiterhin ins Abseits manövrieren, ist das
ein Problem für die Grünen in Berlin. Darüber
habe ich mit Habeck gesprochen. Ich habe gesagt:
Robert, du musst dir die Frage stellen, was du ma-
chen würdest, wenn du Kanzler wärst. Du musst
diese Entscheidung mitgestalten.
ZEIT: Was war seine Antwort?
Cohn-Bendit: Ich weiß, ich weiß.


»Habeck kann


Kanzler werden«


Der Grüne Daniel Cohn-Bendit über Kompromisse in der


Ökologie, das Vorbild Macron und die neue Macht seiner Partei


Daniel Cohn-Bendit im
August im Garten
des Café Laumer
in Frankfurt am Main

Grüen-Stimmanteile nach Tätigkeit

2 6 % (+12*)
25 (+10)
17 (+6)
14 (+7)
11 (+6)

Angestellte
Selbstständige
Arbeitslose
aller Fahrradfahrer
wählen grün

Mitglieder zählte der Bundesverband
Anfang Juli 2019.
Das ist ein Zuwachs von 10.
Mitgliedern in diesem Jahr

Arbeiter
Rentner

*im Vergleich zu 2014

Grünen-Stimmanteile nach Altersgruppen

34 % (+16*)
2 5 (+9)
24 (+9)
24 (+10)
18 (+11)

18–24 Jahre
2 5–34 Jahre
35–44 Jahre
45–59 Jahre
60–69 Jahre
70 und älter 9 (+6)

SUV-Fahrer wählen

35,6 %
16 ,
16,
11,
9,

CDU/CSU
Die Grünen
AfD
FDP
SPD

ZEIT- GRAFIK/Quellen: Bündnis 90/
Die Grünen, Civey, Infratest dimap

2 9 % 8 5.


Grüner Wandel


Wie der Höhenflug
die Partei verändert

Foto: Markus Hintzen für DIE ZEIT; Illustrationen: Cynthia Kittler für DIE ZEIT
Free download pdf