Die Welt Kompakt - 31.07.2019

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KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,31.JULI2019 SEITE 20


Ü

ber ein Jahr ist es her,
dass Mariette Rissen-
beek, 62, und Carlo
Chatrian, 47, als Nach-
folger von Dieter Kosslick bei der
Berlinale vorgestellt wurden, sie
als Geschäftsführerin, er als
künstlerischer Leiter. Seitdem
hatten sie sich ein Schweige-
gelübde auferlegt, um Kosslick
bei dessen Abschied nicht die
Schau zu stehlen. Dies ist ihr ers-
tes Interview.

VON HANNS-GEORG RODEK

WELT:Wird bei der Berlinale
gearbeitet, oder sind noch
Sommerferien?
MARIETTE RISSENBEEK: Hier
herrscht dieses Jahr eine Art Aus-
nahmezustand, weil Carlo und
ich seit Wochen fast jede Stunde
Termine wahrnehmen, um uns
einen Überblick über Strukturen
und Abläufe zu verschaffen.
CARLO CHATRIAN:Ich hatte mir
nach meinem Abschied von Lo-
carno ein halbes Sabbatjahr ge-
nommen. Aber mit Cannes habe
ich im Mai wieder richtig begon-
nen, Filme zu sehen.

Eine Berlinale-Tradition be-
steht darin, dass der/die Neue
beim letzten Festival des Vor-
gängers mitläuft. Haben Sie das
im Februar mit Kosslick auch
gemacht?
RISSENBEEK:Wir waren schon
bei vielem hinter den Kulissen
dabei, zum Beispiel bei der Be-
grüßung der Teams von den
Wettbewerbsfilmen.
CHATRIAN:Ich war bisher nur
als Kritiker und Programm-
gestalter auf der Berlinale und
habe erstmals Festivalteile gese-
hen, die mir verborgen waren.
Wir waren eine Art Schatten von
Kosslick.

Kosslick hat an einem Berlina-
le-Tag rund 35 Termine absol-
viert, vom einfachen Hände-
schütteln bis zum Redenhalten.
Teilen Sie die in Zukunft auf?
RISSENBEEK:WWWährend des Fes-ährend des Fes-
tivals geht es vor allem um das
Programm, also wird Carlo mehr
Termine absolvieren als ich, ver-
mute ich.
CHATRIAN: 3 5! Ich bin beein-
druckt. Für mich ist das Festival
der Ort, an dem ich an der Seite
der Filmemacher stehe, und zwar
nicht nur bei denen im Wettbe-
werb. Das möchte ich gerne wei-
ter so halten, denn das ist der
schönste Part an meinem Beruf.
In Locarno habe ich um die sie-
ben Filme pro Tag vorgestellt.
RISSENBEEK: Dann habe ich
vielleicht doch mehr Termine.
(beide lachen)

Sind Sie Roter-Teppich-Typen
wie Kosslick?
RISSENBEEK:Ein roter Teppich
gehört zum Film dazu. Es ist ein
Stück des Vergnügens, im Film-
bereich zu arbeiten.
CHATRIAN:Der Ablauf des roten
Teppichs in Berlin ist ganz an-
ders als in Cannes, was auch am
Festivalpalast liegt. Die Künstler

müssen keine Treppe erklimmen,
um an deren Ende von dem Festi-
valdirektor empfangen zu wer-
den, der ganz oben thront. Die
Berlinale ist ein Ereignis für die
ganze Stadt, und der Teppich ist
der Ort, wo dieses Ereignis mit
ihren Bewohnern geteilt wird.

Sie haben eine weitere Reihe
namens „Encounters“ ange-
kündigt. Welche Art von Fil-
men soll sie zeigen?
CHATRIAN:Ich wollte eine Reihe
für jene Filme schaffen, die mit
eher kleinem Budget gedreht
werden, Produktionen, die viel-
leicht nicht so stark in der Indus-
trie verankert sind, aber auf star-
ken cineastischen Konzepten be-
ruhen und sich an ein ganz be-
stimmtes Publikum wenden.
1600 Zuschauer im Berlinale-Pa-
last sind dafür oft nicht das ge-
eignete Publikum, aber für solch
einen Film kann ein Festival der
Ort sein, der über sein Wohl oder
Wehe entscheidet. „Encounters“
ist eine Art Kontrapunkt zum
großen Wettbewerb für neue
Stimmen des Kinos. Außerdem:
Jedes große Festival hat inzwi-
schen zwei Wettbewerbe.

Der Gewinner des Hauptwett-
bewerbs erhält den Goldenen
Bären. Und der Gewinner Ihres
Zweitwettbewerbs?
CHATRIAN:Diese Frage diskutie-
ren wir gerade. Ein anderes Tier
wird es aber eher nicht.

Verraten Sie etwas über Ihren
Filmgeschmack!
RISSENBEEK:Der Film, der mich
zuletzt am meisten beeindruckt
hat, war „Burning“ aus Südkorea.
CHATRIAN:Da werde ich Ihnen
meine filmische Initiation erzäh-
len. Der frühste Film, der mich bis
heute beeindruckt, war Alain Res-
nais’ „Hiroshima, mon amour“,
den ich mit 19 gesehen habe. Da-
rin steckt viel von dem, was ich in

einem Film suche. Ich möchte in
eine Märchenwelt gezogen wer-
den, darin aber eine Realität vor-
finden. Beides in ein und demsel-
ben Film, das ist selten. Auch
„Persona“ von Ingmar Bergman
ist mir bis heute in Erinnerung.

Könnten wir etwas näher an die
Gegenwart heran?
CHATRIAN:Na gut, einer, den ich
vor ein paar Jahren auf der Berli-
nale sah: „Call Me by Your Na-
me“. Eine Art Märchen, eine Er-
wachsen-werden-Geschichte und
voll von Geheimnissen. Und ei-
ner, den ich von dem Regisseur
Luca Guadagnino so nicht erwar-
tet hätte.

Wenn Sie die letzten Berlinalen
Revue passieren lassen, ent-
facht da ein Film Ihre cineasti-
sche Leidenschaft?
CHATRIAN:Mehrere. Der erste,
der mir einfällt, ist „Tabu“ von
Miguel Gomez. Oder „Boyhood“
von Richard Linklater. „Pardé“
von Jafar Panahi oder „Nader
und Simin“ von seinem Lands-
mann Asghar Farhadi. Oder
„Transit“ von Christian Petzold.
Die Berlinale erwischt jedes Jahr
Filme, die lange Bestand haben.

Um diese Zeit im Sommer
pflegte Dieter Kosslick zur
Filmschau nach Amerika zu
fliegen. Sie auch?
CHATRIAN:Ich war im April in
Los Angeles und werde im Sep-
tember wieder hinfliegen, nach
dem Festival von Toronto. Viel-
leicht auch nach New York. Au-
ßerdem war ich beim Festival im
arabischen Doha, alle waren wir
in Cannes, dazu kommen im
Herbst China und Korea und
London und Paris und Rom.

Und Deutschland? In dem neu-
en Auswahlkomitee sind von
acht Mitgliedern nur noch zwei
Deutsche.

RISSENBEEK:Carlo hat in seiner
Zeit in Locarno eine Menge deut-
sche Filme eingeladen und kennt
schon einen Teil der deutschen
Branche. Linda Söffker, die die
deutsche Reihe kuratiert, ist eine
sehr starke Verbindung. Und ich
habe bei German Films viele Jah-
re mit der hiesigen Branche zu
tun gehabt und werde immer ein
Auge offen halten – aber nicht
mit auswählen.

Die Berlinale hatte bisher in
vielen Ländern Scouts.
CHATRIAN:Dieses System ha-
ben wir geändert. Es gibt weiter
Repräsentanten für große oder
knifflige Länder. So hält Ryan
WWWerner für uns in den USA Aus-erner für uns in den USA Aus-
schau, der nicht nur Cineast ist,
sondern als PR-Berater mit vie-
len Oscarkampagnen zu tun
hat. Jacob Wong vertritt uns
weiter in China. Wir haben ein
sehr internationales Auswahl-
komitee zusammengestellt, und
das hat die Aufgabe, selbst das
Angebot auszukundschaften.
Jemand, der nur ein Land oder
eine Region betreut, wird zu ei-
ner Art Torwächter. Ich finde es
besser, wenn Kolleginnen und
Kollegen irgendwohin reisen,
aber nicht fest dort verwurzelt
sind. Reisen müssen sein, aber
vor allem geht es um das Netz-
werk, das jemand hat. Es gibt
genug technische Möglichkei-
ten, Kontakt zu halten.

Wo muss man weiterhin per-
sönlich vorsprechen?
CHATRIAN:Ich fühle manchmal
etwas wie Nostalgie, wenn ich
daran denke, wo meine Vorgän-
ger in den Zeiten von Moritz de
Hadeln oder Wolf Donner überall
hingefahren sind. Die Anzahl der
produzierten Filme war damals
viel geringer, sie konnten sich
den Luxus leisten, den Film vor
Ort anzusehen und den Regis-
seur zu treffen. Das ist heutzuta-

LITERATUR

Werner Heiduczek
gestorben

Der Schriftsteller Werner Hei-
duczek ist im Alter von 92
Jahren an den Folgen eines
Schlaganfalls in einer Klinik
bei Leipzig gestorben. Der 1926
in Oberschlesien im damaligen
Hindenburg (heute: Zabrze)
Geborene war zunächst Gym-
nasiallehrer und seit den 60er
freier Schriftsteller. 1999 wurde
er mit dem Bundesverdienst-
kreuz geehrt. Zu seinen wich-
tigsten Werken zählt der Kurz-
roman „Mark Aurel oder Ein
Semester Zärtlichkeit“.

KUNST

Wiens Albertina
erhält Schenkung

Der Galerist und Kurator Rafa-
el Jablonka bringt seine 400
Werke umfassende Sammlung
amerikanischer und deutscher
Kunst der 1980er-Jahre in eine
an der Albertina in Wien ver-
ankerte Stiftung ein. „Für
Wien ist die Sammlung kunst-
historisch unendlich wichtig“,
meinte Albertina-Direktor
Schröder.

KOMPAKT


D


eutschlands Freibäder
sind gefährliche Orte.
Schon mehrfach muss-
ten Einrichtungen geräumt wer-
den, nachdem es zu bedrohli-
chen Vorfällen gekommen war.
Immer wieder werden unschul-
dige Badegäste einfach nass ge-
spritzt oder müssen mit den
AAAuswirkungen einer Arschbom-uswirkungen einer Arschbom-
be klarkommen. Dazu lauern
auch noch Gefahren wie Son-
nenbrand, Chlorvergiftung,
Nappo und Pommes Mayo. Es
wird fieberhaft an neuen Sicher-
heitskonzepten gefeilt. In Düs-
seldorf darf man ein Freibad nur
mit einem gültigen polizeilichen
Führungszeugnis betreten und
nachdem man eine Kaution von
1 000 Euro hinterlegt hat. Jeder
Badegast ist verpflichtet, eine
Urinprobe abzugeben, damit
man erkennen kann, wer sich
unerlaubterweise ins Becken er-
leichtert hat. Schwimmer, die
sich im Nichtschwimmerbe-
reich aufhalten, können wegen
Betrug des Freibades verwiesen
werden. Jugendliche im gefähr-
lichen Alter von 13 bis 18 müssen
rote Badehosen und -kappen
tragen. Der Beckenrand soll mit
Stacheldraht gesichert werden,
damit keine Sprünge möglich
sind, und auf demZehnmeter-
brett dürfen keine E-Scooterab-
gestellt werden.

Zippert


zappt


„Wir suchen


unsere Filme


nun anders


aus“


Das erste Gespräch mit den neuen


Berlinale-Chefs Carlo Chatrian


und Mariette Rissenbeek:


Was sie alles ändern werden und


welche Filme sie lieben

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