Die Welt Kompakt - 31.07.2019

(lu) #1

22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,31.JULI2019


mit denen sie einfach goldrich-
tig lag. Ohne Plattitüden und
ohne sich irgendwem anzubie-
dern. Sie sprach über die ameri-
kanische Außenpolitik als Ursa-
che der gegenwärtigen Einwan-
derungskrise, über die Notwen-
digkeit von Reparationen für
die Sklaverei und die offen-
sichtliche Unfähigkeit her-
kömmlicher Politik, einen Prä-
sidenten zu besiegen, der eine
herkömmliche Politik verwei-
gert. Zum ersten Mal in mei-
nem Erwachsenenleben sprach
eine Kandidatin für das Präsi-
dentenamt zu mir. Vielleicht
versteht Williamson wirklich
was von Wundern.
Ihre Wirkung lässt sich auf
zwei Thesen herunterbrechen.
Die erste lautet, dass die Präsi-
dentschaft Trumps keine Ano-
malie ist, sondern vielmehr ei-
ne fundamentale Verschiebung
der Geschäftspraktiken Ameri-
kas, und dass diese Verschie-

bung eine psychische Naturka-
tastrophe war. Wie wahr das ist,
zeigt jedes Gespräch, dass man
mit einem Bürger der Vereinig-
ten Staaten führt. Das Ereignis
selbst liegt mittlerweile fast
drei Jahre zurück, aber verar-
beitet hat den Bruch noch nie-
mand. Etwas hat sich verän-
dert. Es ist herzzerreißend.
Und jeder traditionelle demo-
kratische Kandidat ignoriert es.
Die zweite These lautet, dass
Williamson mit ihrem Status
als Promischamanin die Wunde
schließen kann. Einfach mit Po-
litik weiterzumachen, wird
nicht funktionieren, wenn dein
Gegner ein orangenes, vom
Fernsehen geborenes Monster
ist. Um einen Promi zu be-
kämpfen, braucht es jemanden,
der Prominenz versteht, jeman-
den, der die Sprache der Promi-
nenz spricht und wie ein Dema-
goge auf genau die entgegenge-
setzten Emotionen setzt. Wenn
Trump der Kandidat des Hasses
ist, dann ist Williamson die
Kandidatin der Liebe.
Für den Fall, dass Sie an Um-
fragen glauben: Williamson
wird von etwa einem Prozent
der demokratischen Wähler un-
terstützt. Ein grausamer Zufall,
wenn man bedenkt, dass „das
eine Prozent“ zum Kürzel für
die globale Finanz- und Kultu-
relite geworden ist, und es ganz
bestimmt Vertreter dieser
Gruppe waren, die bei Wil-
liamsons Spendengala erschie-
nen. Man erkennt sie, wenn

man sie sieht. Es war schon ei-
ne Weile her, dass ich zuletzt
auf einer Beverly-Hills-Party
war, aber ich erkannte die uni-
formen Erscheinungen gleich
wieder. Menschen mit extrem
viel Geld in neureicher Aufma-
chung. Kosmetisch optimiert.
Die Unterhaltungsindustrie ins
Gesicht geschrieben.
Bevor sie in die Politik ging,
verdankte sich Williamsons Er-
folg ihrer Bereitschaft, sich auf
die seelischen Nöte Holly-
woods einzulassen. Es ist
leicht, sich darüber lustig zu
machen – was schließlich ist ko-
mischer als der emotionale Auf-
ruhr von Reichtum und Ruhm?
–, aber es will mir einfach nicht
gelingen, in dieser Bereitschaft
etwas anderes als ein grundle-
gendes Gut zu sehen. Eine Fra-
ge ihrer Kandidatur ist natür-
lich, ob sich dieses Modell über-
tragen lässt. Ist Amerika der
Spiegel seiner Prominenten
und ihrer Nöte? Und schreit es
nach Heilung?
Der Höhepunkt der Spen-
dengala war eine Rede von Wil-
liamson. Und wieder kein Wort,
dem ich nicht zugestimmt hät-
te. Ich fragte mich schon, ob ich
gerade der nächsten Präsiden-
tin der Vereinigten Staaten zu-
sah und vielleicht irgendwann
erzählen würde, wie ich von An-
fang an dabei war, als Wil-
liamson noch zu einem harten
Kern aus weißen Turbanträge-
rinnen, Drehbuchautor Bob
und einem Mann mit knielan-
gen Hosen und Strumpfhaltern
sprach. Dann wurde mir be-
wusst, dass ich betrunken war.
Dass ich die Zukunft sah, glaub-
te ich immer noch.
Ich gehe nicht davon aus,
dass Williamson Präsidentin
wird. Die amerikanische Politik
kommt unweigerlich zum rich-
tigen Schluss, aber immer zu
spät. Das beste Beispiel dafür
ist vielleicht George W. Bushs
Sieg von 2004. Es war offen-
sichtlich, dass er für das Amt
ungeeignet war, dass der Irak
ein Desaster war und dass jeder
andere besser gewesen wäre.
Bush trug den Sieg davon. Und
dann, zwei Jahre später, wur-
den die Republikaner bei den
Halbzeitwahlen zusammenge-
faltet. Bushs verbleibende
Amtszeit war ruiniert, aber der
Schaden war schon angerichtet.
Die Aussicht auf Trumps
Wahlsieg 2020 quält mich. Falls
ich recht haben sollte, ist das
der Moment, da sich die
psychische Naturkatastrophe
nicht länger ignorieren lässt
und das neue Paradigma offen-
kundig wird. Nach acht Jahren
unter dem Fernsehmonster
wird es dann einen neuen de-
mokratischen Besen brauchen.
Das neue Modell, so kompli-
ziert es sein mag, wird sich
dann durchgesetzt haben. Und
aussehen wird es wie Marianne
Williamson.

TDer Schriftsteller Jarett
Kobek („Ich hasse dieses
Internet“) lebt in Los Angeles.
A. d. Engl. von Wieland Freund.

Marianne Williamson Anfang 2019 in Beverly Hills bei der Bekanntgabe ihrer Präsidentschaftskandidatur


PA / ZUMAPRESS.COM

/PATRICK FALLON

W

enn ich eines im
Leben gelernt
habe, dann dies:
Es hilft, reiche
Freunde zu haben. Es hilft
außerdem, in einem Machtzen-
trum der urbanen Elite zu woh-
nen. Diese Lektionen – und
dass ich sie befolgt habe – erklä-
ren, wie ich auf der West Side
von Los Angeles gelandet bin,
bei einer Spendengala der de-
mokratischen
Präsidentschaftsanwärterin
Marianne Williamson. Der Ein-
tritt kostete Minimum 250 Dol-
lar pro Person. Ich hatte das
Geld nicht und hätte es, weil
ich das politische Spendenwe-
sen ablehne, auch nicht bezahlt,
wäre ich flüssig gewesen. Hin-
gehen wollte ich trotzdem.
Mein Freund Bob, ein erfolgrei-
cher Drehbuchautor, zahlte für
mich. Von allen demokrati-
schen Kandidaten im Rennen
hat Williamson die verrücktes-
te Geschichte. Berühmt gewor-
den ist sie mit Büchern wie
„Rückkehr zur Liebe“, „Das Ge-
setz des göttlichen Ausgleichs“
und „Ein Jahr in Wundern: Re-
flexionen, Gebete und Medita-
tionen für jeden Tag“. Als
Oprah Winfrey noch eine Fern-
sehshow hatte, war Williamson
regelmäßig zu Gast. Millionen
nachmittäglicher Fernsehzu-
schauer erlebten ihre Bühnen-
präsenz, ihre gazeartige Spiri-
tualität und ihr beruhigendes
Gehabe. 2014 trat Williamson
als unabhängige Kandidatin in


Kalifornien bei den Kongress-
wahlen an und verlor.
In den letzten Jahren hat sie
ihre Vorträge bei YouTube
hochgeladen. Ich habe einen
mit dem Titel „Wunder und In-
timität“ angesehen. Und ob-
wohl ich die komplette Stunde
durchgehalten habe, weiß ich
immer noch nicht, worum es
geht. Offen gestanden habe ich
mir Sorgen gemacht, Wil-
liamson könnte vielleicht geis-
teskrank sein.
Aber das ist sie nicht. Den
Statements der übrigen Kandi-
daten nach zu urteilen, habe ich
den Verdacht, dass Williamson
die einzige Kandidatin im Ren-
nen ist, die Donald Trump und
seinen Wahlsieg verstanden
hat. Im Juni habe ich ihren Auf-
tritt bei einer Fernsehdebatte
verfolgt, für den die sozialen
Medien sie fertiggemacht ha-
ben, und war geschockt. Sie ver-
trat eine Reihe von Ansichten,

Die Schamanin


Die Lebenshilfe-Lehrerin


Marianne Williamson wird niemals


US-Präsidentin. Dabei ist sie die


einzige Kandidatin, die Donald Trump


verstanden hat. Ein Besuch bei einer


Spendengala. Von Jarett Kobek

Free download pdf