Die Welt Kompakt - 31.07.2019

(lu) #1

V


ogelküken kommunizieren
schon vor dem Schlüpfen
miteinander, haben spanische
Forscher nach Experimenten
mit Mittelmeermöwen heraus-
gefunden. Sie untersuchten da-
für eine Kolonie südwestlich
von Santiago de Compostela.
Dort stoßen erwachsene Mö-
wen Warnrufe bei Eindringlin-
gen. Die Forscher schreiben in
einem „Nature“-Kommentar,
die Studie deute auf ein Aus-
maß an pränataler Kommunika-
tion hin, „das bislang als un-
möglich galt“. Demnach über-
mitteln die Vibrationssignale
komplexere Informationen als
gedacht. Die Studie wirke sich
beträchtlich auf das Verständ-
nis pränataler Geschwister-
kommunikation aus. dpa/ott

Vibrationsalarmibrationsalarm


unter Geschwisternnter Geschwistern


JOSE C. NOGUERA


DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MITTWOCH,31.JULI2019 WISSEN 27


nomen daher vom „Werther-Ef-
fekt“. Doch im Falle von „13
Reasons Why“, wie die Serie im
Original heißt, ist das Irritie-
rende: Der Anstieg war ledig-
lich bei unter 18-jährigen Jungs
zu beobachten – und nicht bei
Mädchen dieser Altersgruppe.
Es ist nicht klar, ob die Darstel-
lung eines weiblichen Suizids
Jungs zu Nachahmungstaten
animiert. Klar ist aber auf jeden
Fall, dass die USA ein echtes
Suizidproblem jenseits des Ein-
flusses von „13 Reasons Why“
haben, wie Statistiken des Na-
tional Center for Health Statis-
tics offenbaren. Ihnen zufolge
erhöhte sich die Zahl von Suizi-
den zwischen 1999 und 2017 um
33 Prozent – von 10,5 Suizidto-
ten pro 100.000 Menschen auf


  1. In Deutschland hingegen
    liegt die Zahl der Selbsttötun-
    gen zwar über viele Jahre hin-
    weg relativ konstant bei 10.000
    Suiziden pro Jahr. Bei aller
    Konstanz handelt es sich aber
    dennoch um eine recht stattli-
    che Zahl. Zum Vergleich: Im
    Jahr 2018 sind laut dem Statisti-
    schen Bundesamt in Deutsch-
    land rund 3300 Menschen bei
    Straßenverkehrsunfällen ums
    Leben gekommen. „Weit über
    90 Prozent der Menschen, die
    durch Suizid sterben, haben ei-
    ne psychische Erkrankung“,
    sagt Paul Plener, Kinder- und
    Jugendpsychiater an der MedU-


I

m April 2017 schauten meist
junge Zuschauer gebannt
die Netflix-Serie „Tote
Mädchen lügen nicht“. Sie
verfolgten die Geschichte eines
17-jährigen Mädchens, das sich
nach traumatischen Erlebnis-
sen das Leben nimmt. Kurz
nach dem Start wurden unter
Experten die ersten Befürch-
tungen laut: Dient die detail-
lierte und drastische Darstel-
lung des Freitodes nicht am En-
de Nachahmern als Anleitung
dafür, wie sie der Serienfigur in
den Tod folgen können?

VON CHRISTIAN WOLF

Zwei Jahre später scheint
sich diese Befürchtung bestä-
tigt zu haben. Forscher um den
Epidemiologen Jeffrey Bridge
vom Nationwide Children’s
Hospital in Ohio haben sich die
Daten des US Centers for
Disease Control and Preventi-
on zu Suiziden in den USA zwi-
schen 2013 und 2017 vorge-
knöpft. Sie betrachteten den
Zeitraum vor und nach dem Er-
scheinen der ersten Staffel En-
de März 2017. Die Forscher ka-
men zu dem Ergebnis: Die Zahl
der Selbsttötungen von Kin-
dern und Jugendlichen im Alter
zwischen 10 und 17 stieg um
rund 29 Prozent – und zwar ge-
nau im April 2017, dem Monat
also, nachdem die Serie veröf-
fentlicht worden war.
Bei anderen Altersgruppen
konnten sie einen solchen An-
stieg nicht beobachten. Ob der
Anstieg wirklich auf das Konto
der Serie geht, ist unklar. Zwar
können bestimmte Formen der
Berichterstattung über Suizide
in den Medien weitere Selbsttö-
tungen nach sich ziehen. Schon
1774, nach dem Erscheinen von
Goethes „Die Leiden des jun-
gen Werther“, kam es in ganz
Europa zu einer Selbsttötungs-
welle. Die wissenschaftliche Li-
teratur spricht bei diesem Phä-

ni Wien. „Vor allem affektive
Störungen wie Depressionen
spielen hier eine Rolle.“ Aber
auch psychologische Faktoren
wie Hoffnungslosigkeit oder
das Gefühl, dass man in einer
Situation gefangen ist. Zudem
sind Arbeitslosigkeit und sozia-
le Isolation Risikofaktoren. „Bei
Jugendlichen spielt darüber hi-
naus Mobbing eine massive
Rolle“, sagt Plener. Die gute
Nachricht ist: Prävention kann
äußerst sinnvoll sein. Medien
können wie gesehen zwar eine
äußerst unrühmliche Rolle
spielen. Das muss aber nicht
sein. Schließlich haben die
Weltgesundheitsorganisation
WHO und in Deutschland das
Nationale Suizidpräventions-
programm extra Leitlinien für
die Medien ausgetüftelt. Dem-
nach ist es ein absolutes No-Go,
den Selbstmord bis in die letz-
ten grausigen Einzelheiten dar-
zustellen, wie es die US-Net-
flix-Serie tat. Informationen
über die konkrete Technik der
Selbsttötung sowie eine sensa-
tionsheischende Berichterstat-
tung über Suizide von Promi-
nenten können zum Nachah-
men einladen. Stattdessen soll-
ten Medien über die psy-
chischen Hintergründe einer
Tat und über Möglichkeiten der
Prävention und Hilfe berichten.
Neben den klassischen Me-
dien haben das Internet und so-

ziale Medien in den letzten Jah-
ren großen Einfluss auf das Le-
ben der Menschen gewonnen.
Welche Bedeutung sie beim
Thema Suizid haben, dazu gibt
es bislang leider wenig For-
schung. „Sie sind ein zwei-
schneidiges Schwert“, sagt Bar-
bara Schneider, Chefärztin an
der LVR-Klinik Köln und Vorsit-
zende des Nationalen Suizid-
präventionsprogramms für
Deutschland. „Es gibt zum ei-
nen im Internet Suizidforen, in
denen sich Menschen zum
Selbstmord verabreden oder
Tipps austauschen, wie man
sich am besten umbringt.“ Zum
anderen könne aber positiv un-
terstützend wirken, wenn ande-
re zeitnah auf die Selbstmord-
gedanken eines Betroffenen
mit Anteilnahme reagieren. Ge-
nerell gilt: Je früher Aufklärung
über Suizide in die Köpfe der
Menschen gelangt, desto bes-
ser. Das Thema Suizid ist in der
Gesellschaft schließlich weiter-
hin ein großes Tabu, über das
man nicht gerne spricht. „Men-
schen sollten so früh wie mög-
lich lernen zu erkennen, wenn
es anderen nicht gut geht“, sagt
Barbara Schneider. „Und sie
sollten lernen sie darauf anzu-
sprechen.“ Schneider nennt als
fiktives Beispiel eine Elfjährige,
die von ihrer gleichaltrigen
Freundin erfährt, dass diese
Selbstmordgedanken hegt.
„Dann ist es wichtig, dass sie
auch Hilfe von Erwachsenen,
beispielsweise von Lehrern hin-
zuzieht, auch wenn sie ihrer
Freundin versprochen hat, es
für sich zu behalten.“ Gerade
schulische Präventionspro-
gramme für Suizidgefährdung
seien wissenschaftlich evidenz-
basiert, sagt Paul Plener. So hat
das europäische Programm „Sa-
ving and Empowering Young
Lives in Europe“ verschiedene
Präventionsstrategien auf die
Probe gestellt. „Als effektiv hat
sich eine Strategie herausge-

stellt, bei der man unter ande-
rem über Handouts, Diskussio-
nen und Rollenspiele Jugendli-
che darüber aufklärt, was es
überhaupt an Stresssituationen
gibt.“ Im Zuge der Prävention
hatte sich über einen Zeitraum
von zwölf Monaten die Zahl der
Suizidversuche und ebenso die
Zahl derer, die über Suizid
nachdachten, halbiert.
Dagegen fand sich in der Stu-
die kaum eine positive Wirkung
einer Schulung von Lehrperso-
nal. Dennoch macht es nach
Meinung von Paul Plener Sinn,
Lehrer und Sozialarbeiter darü-
ber aufzuklären, wie sie reagie-
ren sollen, wenn sich ein Ju-
gendlicher über Selbsttötungs-
absichten äußert. Denn die Be-
troffenen sind meist froh, wenn
sie über das Thema sprechen
können. Gelegenheit dazu be-
kommen Menschen mit Suizid-
gefährdung zum Beispiel bei ei-
ner Verhaltenstherapie. Diese
Form der Behandlung kann
nachgewiesenermaßen das Sui-
zidrisiko senken. Das gilt be-
sonders für die Dialektisch-Be-
haviorale Therapie für Heran-
wachsende, die unter anderem
auf Elemente der Zenmeditati-
on zurückgreift. „Ein wichtiger
Wirkfaktor ist, dass die Familie
in die Therapie miteinbezogen
wird“, betont Paul Plener. „Da-
bei werden die Angehörigen et-
wa über Frühwarnzeichen in-
formiert und bekommen Stra-
tegien vermittelt, wie sich der
Jugendliche gegenüber seiner
Familie äußern kann, wenn sich
ihm wieder Suizidgedanken
aufdrängen.“
Wenn Sie Suizidgedanken ha-
ben, sprechen Sie darüber. Hilfe
finden Sie rund um die Uhr bei der
Telefonseelsorge (0800/1110111 oder
0800/1110222) oder im Internet
auf http://www.telefonseelsorge.de. Die
Deutsche Gesellschaft für Suizid-
prävention hat eine Liste von wei-
teren Anlaufstellen zusammenge-
stellt.

Der


gestreamte


Tabubruch


Hängt die steigende Zahl von Suiziden


unter Jugendlichen in den USA mit


einer Netflix-Serie zusammen?

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