Die Welt - 22.07.2019

(ff) #1

D


ie „Glorreichen Drei“ aus
Mexiko – Alfonso Cuarón,
Guillermo del Toro, Ale-
jandro González Iñárritu


  • haben fünf der letzten
    sechs Regie-Oscars gewonnen. Dabei
    gibt es einen weiteren großen zeitge-
    nössischen mexikanischen Regisseur,
    den unsichtbaren vierten: Carlos Reyga-
    das, der Filme aus zwischenmenschli-
    chen Begegnungen und Beobachtungen
    entwickelt, die er während seiner ausge-
    dehnten Location-Suchen macht. Diese
    realen Ereignisse vermischt er mit kom-
    plexen philosophischen Fragen und gibt
    sie filmisch als sinnliche Erfahrung wie-
    der. „Denn auf diese Weise konstruieren
    wir Realität“,erklärt Carlos Reygadas in
    einer öffentlichen Meisterklasse, die ich
    gemeinsam mit Studierenden der Deut-
    schen Film- und Fernsehakademie Ber-
    lin im Kino Arsenal moderieren durfte.
    Ihm gehe es nicht um das storytel-
    ling, aus dem eh nur infotainment entste-
    hen könne. Reygadas will stattdessen al-
    le Teile unserer menschlichen Existenz
    nebeneinander stellen und diese dem
    Zuschauenden so präsentieren, wie sie
    in der Gegenwart erlebt werden. „Es
    geht alles um die Darbietung. Wie man
    Momente, Menschen und Situationen
    präsentiert. Alles ist konzeptuell und
    politisch.“ 2002 überzeugte der 31-jähri-
    ge Reygadas gleich mit seinem Debüt
    „Japón“ – er hatte Völkerrecht studiert,
    und anstatt eine Filmschule zu besu-
    chen, war er ins Kino gegangen, wo er
    die Grundlagen für sein eigenes künst-
    lerisches Schaffen erlernte.
    Sein Talent, Filme filmisch, also mit-
    tels Bild und Ton zu erzählen, beein-
    druckt heute wie damals. Die steinige,
    karge Berglandschaft in „Japón“ weist
    den Menschen einen fragilen Platz im
    Universum zu, den die Dorfbewohner
    mit Mezcal und Humor zu festigen ver-
    suchen. Dem lebensmüden Städter rei-
    chen diese kleinen Freuden nicht. Der
    namenlose hombre „pilgert“ zu Fuß an
    diesen Ort in den Bergen, der ihm seit
    seiner Kindheit viel bedeutet, um sich
    dort mit einer Pistole zu erschießen.
    Am Ende des kontemplativen Films
    wird der schwermütige Mann um die
    Fünfzig von einer alten Frau um die
    Achtzig erlöst. Ihr Name komme von
    ,Ascención’ (wenn Christus zu den En-
    geln aufsteigt), nicht von ,Asunción’


(Mariä Himmelfahrt), erläutert sie
selbst im Film.
Ascen wird ihm den gemeinsamen
Sex schenken, nach dem er auf einmal
verlangt und der seine Lebensgeister
wieder zu erwecken vermag. Ein tragi-
scher Unfall beendet die Zweisamkeit.
Ascen wird sterben und ihr Tod wird ihn
lehren, dass er seinen Platz auf Erden
zu schätzen weiß. Jede Einstellung in
diesem Werk ist besonders und eigen-
sinnig. Die virtuosen und verspielten
360-Grad-Schwenks verraten viel über
die unbändige Lust des Filmemachers,
die Welt mit dem Kamerauge zu erkun-
den und mit mystischer Aura aufzula-
den. Dass das punktuelle Aufbrechen
der filmischen Illusion – der Dorfrichter
blickt in einem Interview direkt in die
Kamera, Bauarbeiter beschweren sich in
einer Szene über das schlechte Catering
bei den Dreharbeiten – sich gut in die-
sen Film einfügt, zeigt, wie stark er im
Dokumentarischen grundiert ist. Hier
gibt es kein gebautes Filmset, das sich
durch einen Schwenk ins Off offenba-
ren könnte.
Schon in seinem 1999 entstandenen
Kurzfilm „Max Humain“ sucht die
Hauptfigur den Freitod, sehnt sich ver-
geblich nach dem Schutz des Mutter-
schoßes zurück und dem kindlichen,
unschuldigen, ungebrochenen Erleben
von Welt. Ein Topos, der in Reygadas’
filmischem Werk immer wieder auf-
taucht und den man durchaus als re-
gressiv kritisieren könnte. Den durch-
gehend männlichen Protagonisten sei-
ner Filme bleibt wohl auch deshalb nur
im besten Fall die Melancholie, um das
Leben zu ertragen. In einer der letzten
Szenen von „Post Tenebras Lux“ (2012)
— mein persönlicher Favorit in seinem
bisherigen Werk — erinnert sich ein
Sterbender an die beglückende Intensi-
tät der Gefühle als Kind, die er im Ver-
lauf seines Lebens verlor.
Der Film kreist um die Frustration
des wohlhabenden Juan, der mit seiner
Familie von der Millionenmetropole
Mexiko City aufs Land gezogen ist, um
dort ein neues Leben zu beginnen. Sein
verwinkeltes und mit Terrassen durch-
zogenes Holzhaus ist umgeben von ei-
ner paradiesischen Landschaft. Doch
offenbar findet Juan auch hier keine Ru-
he, kein sinnvolles Ventil für seine Le-
bensenergie. Immer wieder bricht sich

Frust in aggressiven Schüben Bahn. Erst
quält er Hunde, dann sich selbst mit
übermäßigem Pornokonsum. Von einer
Gruppe anonymer Alkoholiker — die
skurrile Codenamen wie R2-D2 oder
The Seven tragen und sich in einem al-
ten Schuppen treffen — will er sich
nicht helfen lassen. Statt sich selbst zu
therapieren, setzt er zum Leidwesen
seiner Frau Natalia lieber auf Linderung
durch Ersatzhandlungen. Natalia wird
von Juan massiv unter Druck gesetzt,
mit ihm all seine Sexphantasien in die
Tat umzusetzen.
Schonungslos und präzise wird in
diesem Film die toxische Männlichkeit
von Juan erkundet: sein Desinteresse
für die Emotionen seiner Natalia, die
sexuelle Objektivierung seiner Ehefrau,
sein Narzissmus und das Sich-Suhlen
im eigenen Leid. Die Erzählweise des
Films ist dabei nicht psychologisch,
sondern als Bewusstseinsstrom ange-
legt. Scheinbar zusammenhangslose
Fragmente, die sich aus Vergangenheit,
Zukunft und Gegenwart, aus Erinne-
rungen, Vorstellungen und Träumen
speisen. Ein formales Wagnis, das von
der Struktur her ein wenig an Tar-
kowskis „Der Spiegel“ erinnert, dessen
Filme für Reygadas dem eigenen Bekun-
den nach eine wichtige Inspirations-
quelle darstellen.
In „Post Tenebras Lux“ wie auch in
seinem zweiten Film „Battle of Hea-
ven“ (2005) — der von den vergebli-
chen Versuchen des Chauffeurs Mar-
cos handelt, eine schwere Schuld zu
verdrängen — spielen die rassisti-
schen Strukturen der Klassengesell-
schaft und das ökonomische und so-
ziale Gefälle in Mexiko eine zentrale
Rolle. Als Juan in „Lux“ seinen ehema-
ligen Arbeiter und jetzigen Freund The
Seven dabei überrascht, wie er Elek-
trogeräte aus seinem Holzhaus klaut,
wird ihm dieser in einer unnötig er-
scheinenden Trotzreaktion mit einer
WWWaffe eine Kugel in den Rücken jagen.affe eine Kugel in den Rücken jagen.
Rätselhaft und nüchtern ist diese un-
nötige Gewalttat inszeniert, opernhaft
und etwas aufgeblasen dagegen der
Schluss des Films, in dem nach einer
Selbstenthauptung ein Blutregen vom
Himmel fällt. In diesem von Drogen-
kriegen verrohten Land dreht sich die
Gewaltspirale immer weiter. Allein im
Jahr 2017 sind diesem innerstaatlichen

Krieg über 25.000 Menschen zum Op-
fffer gefallen.er gefallen.
Reygadas versammelt für einen lan-
gen Drehzeitraum ein kleines Team und
für seine Besetzung keine Schauspiele-
rInnen, sondern ihm nahestehende
Menschen um sich. Diese Arbeitsweise
ermöglicht ihm nicht nur, eine —
manchmal auch unangenehm ausge-
stellte — Intimität von Körpern vor der
Kamera herzustellen, sondern auch ma-
lerische Lichtstimmungen und Wolken-
konstellationen von atemberaubender
Schönheit einzufangen.
Legendär ist die Anfangssequenz sei-
nes dritten Films „Stellet Licht“(2007),
der in einer Mennoniten-Kolonie spielt
und eine einfache Geschichte von ei-
nem Familienvater erzählt, der eine
Frau liebt, die nicht die seine ist. Erst
wird ein nächtlicher Sternenhimmel ge-
zeigt, und dann schaut man der Sonne
beim Aufgehen zu. Fünf Minuten lang
fährt die Kamera durch eine Landschaft.
Auf der Tonebene hört man Grillenzir-
pen, nach einer Weile Vogelgezwitscher.
Die Sonnenstrahlen bringen das Licht
und in der Ferne beginnen die Rinder zu
brüllen. Mehrere Monate verbringt Rey-

gadas in der Tonmischung, um so ein in-
tensives Hörerlebnis herzustellen. Das
Kino ist der Ort, wo Hingabe möglich
ist. Hierfür kämpft Reygadas mit sei-
nem Werk.
In dem letztes Jahr auf dem Filmfest
Venedig uraufgeführten Film „Nuestro
Tiempo“, der derzeit in den deutschen
Kinos zu sehen ist, geht es um ein Paar,
das eine offene Beziehung führt. Der
Dichter Juan versucht, die Kontrolle zu-
rückzugewinnen, indem er sich mit ei-
nem von Esters Liebhabern heimlich
verbrüdert und für sie zugleich eine an-
dere Affäre einfädelt. Der Film insistiert
mit einer beeindruckenden Beharrlich-
keit darauf, diesen Konflikt in all seinen
Facetten auszuleuchten. Konsequent
wird keine Peinlichkeit der männlichen
Hauptfigur ausgespart, was zu einigen
ausgesprochen komischen Szenen
führt. Schade ist nur, dass sich der Film
für die Peinlichkeiten der Frau sowie für
ihre Entscheidungsfindungen und Be-
weggründe wenig interessiert.
Eine vielfältige Repräsentation von
Begehren und Geschlechtsidentitäten
sucht man in Reygadas Filmen verge-
bens. Der biologisch zugewiesene
Mann verhält sich männlich, die Frau
weiblich im Sinne der gesellschaftli-
chen Norm. In Reygadas filmischen
Universum wird das Verhalten nicht als
erlernt gezeigt, sondern als biologi-
sches Schicksal. Das Balzverhalten von
Tieren, in „Nuestro Tiempo“ Stieren,
kommentiert durch die Montage expli-
zit den Handlungsverlauf. Gewalt ent-
springt natürlichen Urkräften und ist
nicht Folge soziologischer Bedingun-
gen. Bereits in der Ouvertüre agieren
kleine Jungs wie Krieger, während
Mädchen sich gemeinsam die Haare
kämmen und Konversation betreiben.
Zumindest wird im letzten Drittel des
Films ein Brief von Ester vorgetragen,
in dem sie ihre Sicht auf die Geschichte
erläutern kann. Überraschend trans-
ffformiert sich dieser sinnlich poetischeormiert sich dieser sinnlich poetische
Film, der auf einer Ranch spielt, die ei-
ne Stierzucht für Stierkämpfe betreibt,
zu einem Kammerspiel aus dem 18.
Jahrhundert. Reygadas räumt hier der
Sprache in Form von ausführlichen
Emails, SMS-Texten und Dialogen viel
Platz ein, was in seinem Werk durchaus
ein Novum darstellt.
Nach der Vorführung des Films – im
Rahmen der Berliner Werkschau –
wehrte Reygadas eine auf die konven-
tionellen Geschlechterrollen abzielende
Publikumsfrage ab und behauptete,
dass er diese Dreiecksgeschichte genau-
so in einer anderen Geschlechterkon-
stellation — also: Frau zwingt ihren un-
treuen Mann zum Sex mit anderen
Frauen — hätte drehen können. Es
bleibt ein schönes Gedankenspiel, sich
diesen Film einmal so vorzustellen.

TNicolas Wackerbarth, geboren 1973,
ist Filmemacher, Autor und Mitheraus-
geber des Filmmagazins „Revolver“.
Nach seinem Studium an der DFFB
drehte er mehrere Spielfilme, zuletzt
„Casting“, der auf der Berlinale lief.
Wackerbarth lehrt an Kunst- und Film-
hochschulen.

Ein Mann ist,


was ein Mann


sein muss


Del Toro, Iñárritu, Cuarón: Mexikanische


Regisseure holen Oscars in Serie. Doch da ist


noch ein vierter: Carlos Reygadas. Warum man


ihn kennen muss. Von Nicolas Wackerbarth


DAS DREIECK


KÖNNTE AUCH EIN


ANDERES SEIN:


FRAU, MANN


UND FRAU


,,


Ménage à trois: Juan und Ester (oben), Esters Liebhaber und Juan (unten) in „Nuestro Tiempo“

PHIL BURGERS

(2)

Carlos Reygadas, Regisseur

CARLOS REYGADAS

22



  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
22.07.1922.07.1922.07.19/1/1/1/1/Kul2/Kul2MAGERKOP 5% 25% 50% 75% 95%

22 FEUILLETON DIE WELT MONTAG,22.JULI2019


© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2019-07-22-ab-22 3719180dc8cc34b1bad8f97f1d36cefb

РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS

РЕЛИЗ

ПОДГОТОВИЛА

ГРУППА

"What's

News"

VK.COM/WSNWS
Free download pdf