Handelsblatt - 22.07.2019

(sharon) #1
Sönke Iwersen, Felix Holtermann,
Michael Maisch Düsseldorf, Frankfurt

E


s ist weit mehr als ein Streit zwischen
einem Dax-Konzern und einem Me-
dienhaus. Es geht nicht nur um die Re-
putation eines Unternehmens aus der
Eliteklasse des deutschen Kapital-
markts. Bei der Dauerfehde zwischen Wirecard
und der renommierten britischen Wirtschaftszei-
tung „Financial Times“ („FT“) steht sehr viel Geld
auf dem Spiel, denn auf jeden neuen kritischen Ar-
tikel zu Wirecard folgten in der Regel heftige Kurs-
verluste an der Börse. Der Kern des Streits: Wire-
card beschuldigt die „FT“, falsche Anschuldigun-
gen zu verbreiten, die Zeitung schreibt über seltsa-
me Zahlungsströme und mangelnde Compliance
bei dem Unternehmen.
Jetzt hat die Auseinandersetzung eine neue Di-
mension bekommen: In einem Brief fordert Wire-
card das Medienhaus auf, bis auf Weiteres keine Ar-
tikel mehr über den Konzern zu publizieren und
stattdessen eine interne Untersuchung zu starten,
um Fehlverhalten in den eigenen Reihen aufzude-
cken. Grund: Wirecard behauptet in dem Schrei-
ben, „unwiderlegbare Beweise für eine Zusammen-
arbeit zwischen Mitarbeitern der ,Finan-
cial Times‘ und Shortsellern“ zu
besitzen. Darunter versteht man
Investoren, die auf fallende Kur-
se einer bestimmten Aktie wet-
ten. Die Zeitung solle „von je-
der Veröffentlichung abse-
hen, die direkt oder indirekt
zu Marktmanipulation oder
Insiderhandel im Zusam-
menhang mit Wirecard-Ak-
tien führen könnte“, fordert
Wirecard. Der Brief der An-
waltskanzlei Herbert Smith Free-
hills, die Wirecard vertritt, und das
darin enthaltene Statement des deut-
schen Konzerns liegen dem Handelsblatt
vor.
Auslöser der jüngsten Eskalation ist laut dem
schriftlichen Wirecard-Statement die Tonaufzeich-
nung eines Gesprächs, das sich am vergangenen
Mittwoch in London zugetragen haben soll. Bei
diesem soll der britische Geschäftsmann Nick X.
dem Vertrauten eines anderen Investors von einem
weiteren bevorstehenden kritischen Artikel in der
„Financial Times“ berichtet haben, heißt es in dem
Statement von Wirecard. Er selbst habe bereits ei-
ne Short-Position im Wert von fünf Millionen Pfund
gegen das deutsche Unternehmen aufgebaut in Er-
wartung des negativen Artikels, der in den nächs-
ten 48 Stunden veröffentlicht werde.
Der Geschäftsmann habe seinem Gesprächspart-
ner vorgeschlagen, selbst mit fünf Millionen Pfund
auf einen Kursverfall der Wirecard-Aktie zu speku-
lieren. Als Gegenleistung für seinen Tipp habe er
von dem potenziellen Investor die Hälfte des zu er-
wartenden Gewinns gefordert. Und er habe be-
hauptet, bereits in der Vergangenheit erfolgreich
und mehrfach gegen Wirecard spekuliert zu haben


  • und zwar jeweils auf Basis eines bevorstehenden
    Artikels der „Financial Times“.


Heimlicher Mitschnitt
Wirecard wollte sich offiziell nicht zu der Audioda-
tei und der anwaltlichen Drohung gegen die „Fi-
nancial Times“ äußern. Die Authentizität des Au-
diomaterials konnte bislang nicht verifiziert wer-
den. Der Investor, der den Mitschnitt veranlasste,
wollte sich offiziell gegenüber dem Handelsblatt
nicht äußern. Nick X. war für ein Statement zu-
nächst nicht erreichbar. Unterlagen, die dem Han-
delsblatt vorliegen, zeigen, dass die „FT“ tatsäch-
lich einen weiteren Bericht zu Wirecard recher-
chierte und den Konzern vorab mit einer Reihe
kritischer Fragen konfrontiert hat. Wirecard habe

auf Fragen nach den Bilanzierungs- und Geschäfts-
praktiken „mit einem weiteren Ablenkungsangriff
auf den Journalismus der ,FT‘“ reagiert, heißt es in
einer Stellungnahme der britischen Zeitung. „Es
gab keinerlei geheime Absprachen von Journalisten
der ,Financial Times‘ mit Shortsellern oder ande-
ren dritten Parteien, was den Inhalt oder den Ver-
öffentlichungszeitpunkt von ,FT‘-Artikeln über Wi-
recard angeht“, betont eine Sprecherin der Zei-
tung.

Anzeige der Aufsicht
In dem Statement an die Londoner Wirtschaftszei-
tung beschreibt Wirecard die Genese der umstritte-
nen Tonaufzeichnung wie folgt: Der Konzern habe
in den vergangenen Tagen Informationen erhalten,
dass Nick X. versuche, vor einem weiteren negati-
ven „FT“-Artikel Geld für eine kurzfristige spekula-
tive Attacke auf Wirecard zu sammeln. Zu diesem
Zweck hätten sich Nick X. und ein Geschäftspart-
ner am Morgen des 17. Juli mit potenziellen Investo-
ren in London getroffen. Dieses Gespräch sei „legal
und in Übereinstimmung mit allen anwendbaren
britischen Gesetzen“ aufgenommen worden. Die
Aufzeichnung habe man inzwischen zusammen
mit weiterem Beweismaterial und Dokumenten an
die Strafermittlungsbehörden in Deutsch-
land und Großbritannien weiterge-
reicht, heißt es in dem Statement
von Wirecard. Nach Informatio-
nen des Handelsblatts ist das
Material inzwischen bei der
Staatsanwaltschaft München
eingegangen.
Die Behörde ermittelt be-
reits seit dem vergangenen Fe-
bruar gegen potenzielle Short-
seller und Kontaktleute im Fall
Wirecard. Ein Anleger hatte da-
mals in München Strafanzeige ge-
gen die „Financial Times“ gestellt.
Ein Londoner Börsenhändler hatte ver-
sichert, schon vor Erscheinen eines größeren
Artikels am 30. Januar informiert worden zu sein. In
der Folge reichte Wirecard Zivilklage gegen die „Fi-
nancial Times“ ein. Im April stellte dann auch noch
die deutsche Finanzaufsicht Bafin Strafanzeige ge-
gen eine einstellige Zahl von Personen, darunter
auch „FT“-Journalisten.
Die Zeitung hatte wiederholt über dubiose Vorgän-
ge und eine Durchsuchung in der Wirecard-Nieder-
lassung in Singapur berichtet. Ende März räumte
der Konzern ein, dass sich Angestellte nach lokalem
Recht strafbar gemacht haben könnten.
Nach Erkenntnissen der deutschen Finanzauf-
sicht Bafin, über die das Handelsblatt vor einer Wo-
che berichtete, sind 2019 kaum neue Shortseller im
Umfeld der „FT“-Berichte in die Spekulation einge-
stiegen. Vielmehr handele es sich um altbekannte
Akteure. Die 2019 aktiven Shortseller seien „inso-
fern bekannt, als dass sie überwiegend auch schon
in der Vergangenheit Netto-Leerverkaufspositionen
in der Wirecard AG hielten“, erklärte das zuständi-
ge Bundesfinanzministerium.
Gegen Wirecard wird seit Jahren spekuliert, von
2016 bis 2018 registrierte die Bafin fünf Attacken.
Hinweise darauf, dass Shortseller ihre Positionen ge-
stückelt haben, um unter der Meldeschwelle von ei-
nem halben Prozent Grundkapital zu bleiben, liegen
dem Ministerium nicht vor. Deutlich angestiegen
seien die Positionen ab dem 1. sowie ab dem 7. Fe-
bruar 2019. Nach Hinweisen auf geplante Attacken
hatte die Bafin am 18. Februar ein befristetes Leer-
verkaufsverbot für Wirecard-Aktien erlassen – ein
beispielloser Schritt. Das Verbot lief im April aus.
Am vergangenen Freitag hätten die von Wire-
card so gefürchteten Shortseller auf das falsche
Pferd gesetzt, denn der Kurs des Konzerns kletterte
vor dem Wochenende um 4,9 Prozent. Grund: Der
Discounter Aldi wird einer der größten Kunden des
Unternehmens.

Wirecard


Aufstieg mit


Fragezeichen


A


m Freitag verkündete Wirecard erneut
positive Nachrichten. Der Zahlungs-
dienstleister aus Aschheim bei München
hat einen neuen Kunden gewonnen: den Super-
marktriesen Aldi (Nord und Süd). Zahlen Kunden
an der Kasse mit Kredit- oder internationalen De-
bitkarten wie „Visa Pay“, sorgt Wirecard künftig
dafür, dass das Geld bei Aldi landet. Ausgenom-
men bleiben die deutlich häufigeren Zahlungen
per Girocard, der früheren EC-Karte. Die Mög-
lichkeit einer darüber hinausgehenden Koopera-
tion werde geprüft, teilte der Konzern mit. Die
Analysten der Baader Bank bezeichnen die Ko-
operation als „große Chance für Wirecard“ und
empfehlen die Aktie zum Kauf. Nach Branchen-
daten bezahlen Kunden bei Aldi mehr als 1,7 Mil-
liarden Euro im Jahr mit Visa- und Mastercard-
Kreditkarten oder Debitkarten.
Die jüngste Erfolgsmeldung ist nur eine von
vielen. Fast täglich verschickt Wirecards Presse-
stelle Mitteilungen über neue Geschäftspartner,
darunter Bäckereiketten in Bayern und Luxus-
kaufhäuser in Schweden. Wirecard wächst und
beflügelt als einer der wenigen deutschen Tech-
nologieriesen die Aktionärsfantasie. So hat sich
der Umsatz seit 2013 vervierfacht. 2018 betrug er
mehr als zwei Milliarden Euro, bei einem Vor-
steuergewinn (Ebitda) von 560 Millionen Euro.
Allein im vergangenen Jahr hat der Konzern drei-
mal die Gewinnprognose angehoben.
Wirecards Geschäftsmodell ist komplex. Der
profitabelste Bereich ist die Zahlungsabwicklung:
Einzelhandelskunden wie etwa Aldi werden hier
immer wichtiger, groß geworden ist Wirecard
aber im E-Commerce. Die Firma übernimmt dort
eine wichtige Mittlerfunktion, prüft die Kredit-
würdigkeit von Kunden und garantiert deren
Zahlung. Als Makler zwischen Käufer und Händ-
ler erhält der Konzern einen Anteil des Zahlbe-
trags sowie Kundendaten. Kleiner ist der Bereich,
der sich direkt an Endkunden richtet: Die Wire-
card-Bank gibt virtuelle Prepaid-Kreditkarten he-
raus, mit denen Smartphonenutzer unabhängig
von Banken und Telefonieanbietern bezahlen
können. Darüber hinaus bieten die Aschheimer
ihre Banklizenz Start-ups als Plattform an und
übernehmen auf Händlerwunsch die Abrech-
nung von Kreditkartenumsätzen. Fast unbedeu-
tend ist der defizitäre Callcenter-Bereich.
Schwierig für Außenstehende: Bei vielen Ange-
boten der Firma steht nicht Wirecard drauf. Und
in manchen Geschäftsfeldern steckt noch nicht
einmal Wirecard drin. So stammen mehr als die
Hälfte aller Transaktionen, die Wirecard in der
Bilanz verbucht, aus Regionen, in denen der Kon-
zern keine lokalen Lizenzen hält: etwa den USA,
Lateinamerika und Asien. Dort arbeitet er mit
Partnerfirmen zusammen, die die Transaktionen
für Wirecard abwickeln. Große Hoffnungen setzt
der Konzern in die beschlossene Zusammen -
arbeit mit dem japanischen Technologieriesen
Softbank, der per Wandelschuldverschreibung in
Höhe von 900 Millionen Euro bei Wirecard ein-
gestiegen ist und den Konzern mit seinem Portfo-
lio an Digitalunternehmen vernetzen soll.
Trotz der positiven Aussichten bereitet kriti-
schen Investoren und Beobachtern vor allem eine
Baustelle Kopfzerbrechen: Wirecards Compliance-
Mängel. So hat der Konzern dubiose Buchungen in
Singapur eingestanden und die laut eigenen Anga-
ben inzwischen beendete Zahlungsabwicklung für
betrügerische Trading-Seiten. Die interne Aufsicht
hat mit dem rasanten Wachstum in der Vergan-
genheit ganz offenbar nicht Schritt gehalten. Auch
die Kommunikation bei Verfehlungen und Proble-
men wird von Investoren immer wieder kritisiert.
„Wir sind ein Wachstumsunternehmen und ma-
chen Fehler. Auch ich“, räumte Vorstandschef
Markus Braun vor Kurzem ein. Klar ist: Seit dem
Aufstieg in den Dax darf der junge Konzern keine
Nachsicht mehr erwarten. Felix Holtermann

Es gab keinerlei


geheime Absprachen


von „FT“-Journalisten


mit Shortsellern.


Kristina Eriksson
Sprecherin der „Financial Times“

Finanzen & Börsen


MONTAG, 22. JULI 2019, NR. 138


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