Neue Zürcher Zeitung - 17.07.2019

(Grace) #1

Mittwoch, 17. Juli 2019 FEUILLETON 29


Die tschechische Autorin Radka Denemarková hat


ein geistreich es Buch über das Grauen geschriebenSEITE 30


Scorsese s «Rolling Thunder Revue» über Bob Dylans


legendäre Tour dürfte für viele eine Erleuchtung sein SEITE 31


Verlegene Leere in der verdichteten Stadt

In Aarau vernetzt eine Neuplanung ein Industrieareal mit der Zukunft – doch mittendri n fehlt etwas.Von Sabi ne von Fischer


Die Schweizer Eigenart weiss mit dem
Kleinteiligen viel besser umzugehen als
mit der Grösse. Der delikatenVielfalt
im Kleinen verdanken wir, dass unsere
Städte und Dörfer so lebenswert sind
und in den internationalenRankings
Toppositionen einnehmen. Diese Qua-
litäten haben ihren Ursprung in der
Sorgfalt,mit derLandschaften und Sied-
lungsstrukturen austariert, feinpoliert,
sogar mikroperforiert werden.
Wenn es aber ums Grossräumige
geht, sind wir verloren.Da reicht der
schweizerischeFeinsinn nicht mehraus.
Bou levards,Alleen, Stadtplätze? Noch
kaum imRepertoire der hiesigen Stadt-
gestalter. DerVersuch der grossen Geste
erzeugt vorerst vor allemVerlegenheit,
das wiederum führt zu Sparsamkeit,
dann wird die Grösse weggespart – und
am Ende bleibt eine Leere, die eigent-
lich niemand wollte.


Bald mehr Stadt als die Altstadt


Das unterdessen bewohnteAeschbach-
quartier in Aarau ist eine kleine Stadt
hinter der Stadt und bald mehr Stadt als
die Altstadt selbst.In einem ehemali-
gen Industriegebiet bot sich die Chance,
Grundstücke zusammenzulegen und
einen ganzen Stadtteil neu zu planen.
Innerhalb weniger Jahre entstanden
hier über 250Wohnungen,1400Arbeits-
plät ze, Geschäfte, eine Event-Location
und Restaurants, und das alles autofrei
über zweiTiefgaragen.
Zeugen derVergangenheit stehen
auch noch: Im Zentrum und als innere
Wegkreuzung steht da dieAeschbach-
halle , und zwischen der Hochspannungs-
apparate-Prüfhalle und derFabrikan-
tenvilla (heute eine Kindertagesstätte)
spannt sich eine längliche, kleine Grün-
fläche auf.Der Oehlerpark ist der Cen-
tral Park en miniature der neuen Stadt.
Es ging schnell:Wer das Areal auf
den gängigen Kartenportalen imInter-
net sucht, findet je nach Anbieter Luft-
bilder eines intakten Gewerbevier-
tels mitFabrikbauten undParkfeldern
oder eine riesigeBaustelle. Die zent-
rale grosse Halle ist nun umgebaut zum
Herzstück eines «neuen,auf regenden
Stücks Stadt» mit «urbanem Flair», wie
die Vermarktungsbroschüreanpreist.
Wie die Zürcher Europaallee liegt
auch das Aeschbachquartier auf der
Rück- und Südseite der Bahngleise.
An beiden Ortenkonnte dasTeam von
KCAP Architects & Planners, einer ur-
sprünglich niederländischenFirma mit
Stan dortenin Rotterdam, Zürich und
Schanghai, den Studienauftrag für sich
entscheiden. Zweimal haben sie exempla-
risch verdichtet und die überbaute Fläche


pro Quadratmeter Boden je nachBaufeld
geschätzt um das Zwei-, das Drei- oder
sogar dasFünffache intensiviert.
An der Europaallee wie imAesch-
bachquartier flossen enorme Energien
in dieBauvolumen undFassaden, in die
Zufahrten und die Nutzungsmischung –
nur derAussenraum kam zu kurz.Wer
das Areal über den neu angelegtenTor-
feldplatz betritt, steht neben dem Gas-
troSocialTower auf desolatem Asphalt.
Da kommen einem fast dieTränen,
wenn zwischen dem wenigen Gras in
den abgesenktenVersickerungsflächen
nur graue Fläche denWeg zeigt. Die
vereinzelten, einsam aufgestelzten Sitz-


bänke wirken wie eine Geste ausVer-
legenheit.Verlegen sind auch die Ant-
worten auf die Nachfrage, ob der Platz
denn so fertig gebaut sei.
Da sitzt auchkeiner – erst vorne,
beimAeschbachplatzim Aussenbereich
des Bistros, wo eine riesige Metallskulp-
tur mit ihremWasserplätschern denVer-
kehrslärm der umliegenden Hauptstras-
sen maskiert.Auch hier ist das meiste
Grün in den Absenkungen für das mög-
licheJahrhunderthochwasser versenkt.
Dies verstärkt den Eindruck,dass es gar
nicht betreten werdensoll.
Im Kleinen entwickelt das Quar-
tier dagegen durchaus Charme. In der
neu angelegten Gasse Im Klee zwi-
schen denTownhouses, den gereihten
vierstöckigen Einfamilienhäusern nach
niederländischemVorbild und der ehe-
maligenFabrikmauer am Ostrand des
Arealsregt sich das Leben:Fahrräder,
Liegen und Grillstellen imFreiluftvor-
zimmer hinter dem Gartentor inden zur
freienAneignung ausgelegtenVorzonen
geben jedem Haus schon draussen, vor
der Haustüre, seine Individualität. Es
sind diese kleinteiligenRänder, die das
Grosse erst zumFunktionieren bringen.

Die grosse Geste von Plätzen und
Park mitden Feinheiten der Sockel-
zonen undDurchgänge zu verbinden,
daran arbeiteten die leitende Planungs-
firma KCAP und das StudioVulkan,
eines der führenden Schweizer Büros
für Landschaftsarchitektur, über acht
Jahre lang. KCAP entwarf nicht nur das
städtebauliche Leitbild, sondern auch
mehrere Gebäude.Vor allem das Herz-
stück, die Industriehalle und die daran
angebautenWohntürme, hat es selbst in
die Hand genommen.

Dichte mit Durchblick


Die niederländischen Planer taten, was
sie schon immer tun, hier aber erstmals
in der Schweiz: Sie brachtenKontinui-
tät in die Stadtentwicklung und ver-
knüpften in einem ganzheitlichen An-
satz den Massstab der Stadt mit jenem
der Häuser – so wie es in den Niederlan-
den dieRegel, in der Schweiz aber noch
die Ausnahme ist. Dies tat KCAP zu-
sammen mit der Immobilienentwickle-
rin Mobimo in einem langjährigen Pro-
zess, nicht in einemTotalentwurf. Des-
halb haben die Planer-Architekten von

den fünfzehn Gebäudeentwürfen dann
sieben selbst ausformuliert und die wei-
teren acht von zwei anderen Architek-
turbüros gestalten lassen.
Bei aller Grösse und Dichte ist ein
menschlicher Massstab spürbar, und die
Häuser wirken, als ob sie schon immer
da gewesen wären.Vielfalt machtStadt,
so auch imAeschbachquartier: Die ver-
schiedenen Erdtöne der Klinker und
Backsteine prägen die Atmosphäre von
etwas Zusammengehörigem, aber nicht
Immergleichem.
Wunderschön fügen sich die neuen
Bauten mit ihren backsteinverkleideten
Sockelzonen fast nahtlos in dieFabrik-
Reminiszenzen ein.Von der Proportio-
nierung der grossenVolumen bis zur
Mörtelfarbe ist alles durchdacht. Die
Vorzonen, Gassen und Gärten lassen
vergessen, wiebreit und hoch hier man-
ches Gebäude ist.
«Es gibt diese Durchsichten, den
Blick in dieWeite, das nimmt der Dichte
ihr Gewicht.» Ute Schneider, Partnerin
von KCAP, zeigt zwischen den Stadt-
villen, in denen auf vier Geschossen je
vier Eigentumswohnungen liegen, auf
die Fassade des Mietwohnungsbaus

über derAeschbachhalle.Die Wohn-
häuser sind hoch, teilweise achtgeschos-
sig. Einmal ähnlich, aber nie gleich,
andernortskomplementär. Sie ergän-
zen sich und stehenin Gruppen, leicht
versetzt, und formen ein abwechslungs-
reichesWegenetz zwischen den grossen
Volumen. DieseVielfaltgibt der Dichte
die nötige Selbstverständlichkeit.

Mini-Central-Park in Aarau


Warum denn die Häuser so teuer ge-
baut würden und der Zwischenraum
nur asphaltiert sei – dieseFrage hört
Schneider oft, wenn sie Gäste aus dem
Ausland durch die Zürcher Europaallee
und neuerdings auch durch das Aarauer
Quartier führt. Die Sorgfalt in derFassa-
dengestaltung steht inkeinemVerhältnis
zu den spärlichen Oberflächenbehand-
lungen undAusstattungen imAussen-
raum – da draussen erkennen die börsen-
kotierten Immobiliengesellschaften den
Gewinn nicht, obwohl genau hier doch
die Qualität einer Stadt lebt oder stirbt.
Wenn so viel Feingefühl für die
Plätze verwendet würde wie für dieBal-
konbrüstungen, Fensterleibungen und
Küchen – wir müssten nicht mehr über
Geisterstädtereden. Diese Stadträume
könnten dasPortal, die Gegenwelt zum
privaten Universum derWohnungen
und das pulsierende Herz desAesch-
bachquartiers werden.Dann müsste das
offizielle Pressematerialkein Foto von
zwei jungenMännern zeigen, die draus-
sen an Abfallsammelcontainer ange-
lehnt am Boden sitzen.
Echte Grosszügigkeit gibt es im
Aeschbachquartier also vorerst nur im
Innern, in der umgenutztenAeschbach-
halle , derenPatina ausRost, Fabrikbe-
schilderungen und Sprayereien weit-
gehend erhalten und nur durch feine
Akustikvorhänge verschleiert ist. Diese
industrielleReverenz zu bewahren, war
nicht immer einfach.Vor allem als die
ganze Halle für denBau derTiefgarage
auf Stelzen gesetzt wurde, bangte Ute
Schneider, dass alles einstürzenkönnte.
DasTonnendach auf der Ostseite tat es
auch, ein Zeitzeuge weniger.
Unter den feinen Stahldeckenträ-
gern der Halle aus alten Zeiten aber
erscheint die Alt-Neu-Balance stim-
mig. Stimmungsvoll jedenfalls in der In-
szenierung von Marc und Ueli Biesen-
kamp, die bereits inThun erfolgreich
eine Industriehalle als Event-Location
übernommenhaben und nun in Aarau
den Betrieb führen. Gastronomie, Café,
Musik, Kongressraum und Zigarren-
Lounge,Co-Working-Space, Apart-
hotel, alles bestückt in einerArt laufen-
den Designausstellung.

Den Aussenraummitdenken


Dichte heisst eben, nicht an derFassade
mit dem Denken aufzuhören. Am Ende
ist es weder die Grösse noch die Höhe
eines Gebäudes, die darüber entscheidet,
ob wir uns in einemRaum beengt oder
verloren fühlen. Es sind vielmehr die
Beziehungen zwischen den Häusern, die
Durchgänge, dasWegenetz und das Nut-
zungsangebot auf den Grünflächen – und
das lässtsich hier i mAeschbachquartier
in Aarau exemplarisch studieren.
Wie jedes Einfamilienhausseinen
Garten pflegt, muss auch jeder Block,
Riegel undTurm in der Stadt seinen
Aussenraum bewirtschaften, infolge der
hundertfachen Grösse mitebensolcher
Intensität.ZumGlückkönnen Plätze
und Boulevards – einfacher als die Häu-
ser selber – auch überJahre noch verän-
dert, austariert und mi t neuen Belägen
stattAsphalt ausformuliert werden.Das
könnte in Aarau ja noch passieren.Da-
mit das Leben nicht in derTiefgarage er-
stickt. Es ist nämlich die Angst vor der
Leere, die schliesslich Leere produziert.

Dichte heisst eben,
nicht an der Fassade
mit dem Denken
aufzuhören.

Im Aeschbachquartiergibt es neben und über der neu unterkellertenIndustriehalleWohnungen allerFacetten. BEAT SCHWEIZER
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