Neue Zürcher Zeitung - 17.07.2019

(Grace) #1

30 FEUILLETON Mittwoch, 17. Juli 2019


Der Frauenkörper in Feindeshand

Radka Denemarková ist die bedeutendste Schriftstellerin Tschechiens. Einmalmehr schreibt sie brillant über ein düster es Thema


FRANZ HAAS


Noch vor den Zeiten von #MeToo ist
der tschechischenAutorinRadka De-
nemarkováin ihremRoman «Ein Bei-
trag zur Geschichte derFreude» ein
kunstvoller Spagat gelungen, ein geist-
reiches Buch über das Grauen.Auf den
ersten Blick ist es eine wilde Erzählung
um «drei alteDamen», die es sich zur
Lebensaufgabe gemacht haben, welt-
weitRache anVergewaltigern zu neh-
men und besonders in Prag männliche
Unmenschen zur Strecke zu bringen.
Aber der verworrene Krimi ist nur ein
Vorwand für sprachlich brillante und
kompliziert verästelteReflexionen über
die universelle Gewalt gegenFrauen,
von Naziverbrechen inPolen bis zu Mas-
senvergewaltigungen in Indien und der
Zwangsprostitution von Minderjährigen
in Tschechien.
Zu Beginn der Geschichte wird in
Prag ein vermeintlicher Selbstmörder
erhängt aufgefunden. Ein polizeilicher
«Ermittler», der immer nursogenannt
wird, findet bald heraus, dass derTote
ein sexueller Unhold war, dass ihm aber
«bei der Erhängung jemand behilflich
gewesen» sei. Bei seinen Ermittlungen
verliebt er sich in die ebenfalls namen-
lose attraktive«Witwe», weshalber den
ganzenRoman lang um den heissen Brei
herumforscht.Dabei stösst er auf eine
Villa mit einem gigantischen Archiv zur
Dokumentation von sexueller Gewalt in
allerWelt, das die drei besagten älteren
Frauen angelegt haben – Birgit, Diana
und Erika. IhreVorgeschichten, Beweg-
gründeund drastischen Aktionen stehen
im Mittelpunkt dieses inhaltlich stacheli-
gen und formal virtuosen Buches.


«Wörter mit der Peitsche»


Kritisch äussert sichRadka Denemar-
kováoft auch zu anderen heiklenThe-
men, zur illiberalen populistischen
Schlagseite derPolitik in Tschechien
oder zur totalen digitalen Überwachung
in China,wobei sie immer streitbaran-
eckt. In diesemRoman geht es aber
nicht nur um frauenfeindlicheVerbre-
chen, denn in seinem Mittelpunkt ste-
hen auch die Sprache und das sarkasti-
sche Spiel, das dieAutorin mit ihr treibt:
«Man mussWörter mit derPeitsche mal-
trätieren.Damit sie präzise und schlag-
kräftig werden»,sagt eine der Haupt-
figuren. Scharfzüngig wie ElfriedeJeli-


nek, aber mit mehr sprachlicher Grazie
traktiert Denemarková die Leserin mit
literarischenVerwirrspielen,eindring-
lich wie IngeborgBachmann irritiert sie
den Leser mitTr agödien um «ausgewei-
dete»Frauen «inFeindeshand» bezie-
hungsweise «imFeindesland».
Die ältlichen Hauptfiguren, drei
weiblicheRacheengel, agieren auch im
Angedenken an ihreFreundin Ingrid,
di e einst von Nazischergen vergewal-
tigt worden war, später zu derenKom-
plizin wurde und sich nach dem Krieg
umbrachte. Zuvor hatte sie sich vergeb-
lich dafür eingesetzt, dass«Vergewalti-
gung als Kriegsverbrechen» geahndet
werde. Sie war auch umsonst zu Simon
Wiesenthal nachWien gereist, um die-
sen Nazijäger für ihre Sache zu gewin-
nen. Die drei überlebendenFreundin-
nen hatte es dann in alleWelt verschla-
gen, siekommen nur noch selten nach

Prag zurück, nun aber mit einer ganz be-
sonderen Absicht.

Das Wissen der Schwalben


Der Grossteil desRomans spielt denn
auch in der tschechischen Gegenwart.
Das schöne «Prag, das Herz von Europa»,
ist auch der Schauplatz von grässlichem
Missbrauch: Die15-jährigeJulie,ein
Unterschichtkind, mit Alkohol und Dro-
gen gefügiggemacht und durch Erpres-
sung zur Prostitution gezwungen, ist
schwanger geworden. Geködert wurde
sie von einer Schulfreundin, die zugleich
Täterin und Opfer ist, denn sie ist ihrer-
seits demRestaurantbesitzerYusuf hörig,
der von sich meint, er sei «ein guter Mus-
lim und ein guter Mensch», der sie aber
an andere Männer verschachert. Sie
möchte trotzdem mit ihm flüchten und
«würde sogar eine Burka tragen».

Abgründe dieser Art und noch
Schlimmeres schildert die Autorin
in sprunghaften Assoziationen, und
die Lektüreist oftein Hindernislauf,
dochdieMühen werdenreichlich mit
Sprachwitz belohnt.Auch die Sexuali-
tät ist in diesemRoman nicht immer
nur ein Unheil, sie kann auch ganz
schön erfreuen. Und im Guten wie im
Argen sind stets symbolisch flatternde
Schwalben als Botinnen dabei. Sie
«sammeln Beiträge für die Geschichte
derFreude» und sind nicht nur Zeu-
ginnen von grässlichen Schändungen.
Denn der zweideutigeRomantitel be-
zieht sich auch auf dieFreude der«jubi-
lierendenKörper», etwa wenn der «Er-
mittler» und die«Witwe» in ihrer Lie-
besgeschichte zueinander finden und
wennRadka Denemarková (mitunter
sehr emphatisch) das Hohelieddes
Sexus anstimmt.Dann hat das Zwit-

schern derVögel und des Fleisches gar
nichtsFürchterliches.
Dennoch überwiegt bei weitem der
Schrecken in diesem Buch. «DerKör-
peralsSchlachtfeld», so derTitel eines
Kapitels, ist fast immer weiblich, auch in
derGeschichtedes 20.Jahrhunderts, von
den«Trostfrauen» für japanische Solda-
ten bis zu den «Ehrenmorden» inPaki-
stan, von denethnischenVergewalti-
gungen in denJugoslawienkriegen bis
zum heutigen Mädchenhandel in Prag.

Und diePeiniger sind fast immer Män-
ner. Um «Männerspiele» geht es auch
im letzten Kapitel, in das dieAutorin
ein wenig zu viel des Schlechten hinein-
gepackt hat: die Geschichte der Tsche-
choslowakei und die Psyche ihres Prä-
sidenten Edvard Beneš, dieVerbrechen
von Hitler und Stalin, dasWüten der
Engländer in Indien – und sogar «die
Wiedergeburt des Islam».
BestenskenntRadka Denemarková
den Horror derWeltgeschichte. Noch
besser beherrschtsie dasRätselspiel
und die sprachlicheVerschlüsselung der
Widrigkeiten in den schrecklichen Ge-
schichten rund um den Besuch der drei
al tenDamen in Prag. Der «Ermittler»
betrachtet sie zunächst alsrachsüchtige
und «gierige Greisinnen», die im Namen
der Gerechtigkeit zur weiblichen Selbst-
justizgreifen.«Wir sind SimonWiesen-
thal imRock», erklärt ihm später eine
von ihnen kokett.Letztlich traut er
ihnen alles zu,ist dannaber doch über-
rumpelt davon, wie die Geschichte aus-
geht, wenn die distinguiertenDamen
sich den Mädchenschänder und -händ-
lerYusuf vorknöpfen.

Radka Denemarková: Ein Beitrag zur Ge-
schichte der Freude. Roman.Aus dem Tsche-
chischen von Eva Profousová. Verla g Hoffmann
undCampe, Hamburg 2019. 336S., Fr. 35.90.

«DerKörper als Schlachtfeld» ist fast immerweiblich. –Von einemFanatiker mit Säure verätzte jungePakistanerin.KHALIDTANVEER / AP

Ob schwarz oder weiss – schön sieht hier keiner aus


1968 entwirft Yambo Ouologuemein provokatives Bild afrikanischer Geschichte. Heute ist seinRoman ein Klassiker


CLAUDIA KRAMATSCHEK


Selbst auf höchster Ebene scheint es
noch immer salonfähig,Afrika als den
dunklenKontinent abzutun. 20 18 be-
schimpfte DonaldTr ump einenTeil der
afrikanischenLänder als «Dreckslö-
cher»; einJahr zuvor hatte Emmanuel
Macron diagnostiziert, dass derKonti-
nent vor gänzlich anderen Herausfor-
derungenals Europa stehe,weil man
denAufbau einer Zivilgesellschaft noch
vor sich habe. Solche Denkungsart hat
imWestenTr adition:Voltairewie Hegel
waren davon überzeugt, dass Afrika
ein Ort ausserhalb der Geschichte sei.
Die Unterhaltungsindustrie wiederum
impfte Generationen von Kindern das
Bild von halbnackten tumbenWilden
ein, die einzig im Kannibalismus Glück-
seligkeit finden.
Tatsächlich aber ist Afrikareich an
Jahrhunderte alten Zivilisationen. So
entsandte schon rund fünfzigJa hre
vorKolumbus’Aufbruch der dama-
lige Herrscher des heutigen Mali, Abu
Bakr II., zweimal Forschungsexpedi-
tionen von über 200 Schiffen, um die
äussersten Grenzen des Atlantischen
Ozeans zu erkunden.Dass er selber
die zweite Expedition anführte und nie
mit ihr zurückkehrte,weiss man aus
der Überlieferung seines Nachfolgers


Mansa Musa, der 1312 an die Macht
kam und selber mit grossemPomp
lebte: Unter anderem sollen 14000
SklavenmädchenTeil seiner Entourage
am Hof gewesen sein.
Es ist insofern derWesten,der seine
Version von Afrikas Geschichterevidie-
ren und neu schreiben muss. Umso er-
freulicherist, dass nun im kleinen Els-
ter-Verlag mit «Das Gebot der Gewalt»
endlich eine Neuauflage jenesRomans
erschienenist, der sich bereits1968 an-
schickte, solch eine neue historischePer-
spektive anzulegen, und das aus afrika-
nischer Sicht.

OhneWeichzeichner


Geschriebenhat denRomanYambo
Ouologuem;1940 kam er als Sohn eines
Grossgrundbesitzers im heutigen Mali
zurWelt. Sein gesellschaftlicher Sta-
tus erlaubte ihm den Erwerb mehrerer
Sprachen, unter anderem auch desFran-
zösischen.1960 ging er zum Studium
nachParis – als dort achtJahre spä-
ter seinRoman erschien, wurde dieser
erst zu einemKultbuch, dann zu einem
Gegenstand erhitzter Debatten, sowohl
in Europa als auch in Afrika.
Vor allem das sich damals von den
einstigenKolonisatoren emanzipierende
Afrika war empört: OuologuemsRo-

man liefert zwar vordergründig eine lei-
denschaftliche EpopöedesKontinents,
indem er (entgegen Hegels Diktum)
die Geschichte des fiktiven westafrika-
nischenReichs Nakem sowie der dort
herrschenden Dynastie der Saifs erzählt.
Beginnendim dreizehntenJahrhundert
greift derRoman aus bis zur Mitte des
zwanzigsten, als einer der Abkömmlinge
der Saifs zum Studium nachFrankreich
geht. Doch das Bild, das derAutor von
Afrika entwirft, istgerade nicht mit
Weichzeichner geschaffen.
Die Saifs entpuppen sich über alle
Zeiten hinweg als herrsch- undrach-
süchtigeFührer: Mordund Folter, Intri-
gen undKomplotte, Gift und Magie –
jedes Mittel ist ihnenrecht,umihre
Machtzu erhalten. Nicht zuletzt beuten
sie in feudaler Herrenmanier gnaden-
los auch die eigene versklavte schwarze
Bevölkerung aus – derRoman lässt sich
ob zahlloser detailliert beschriebener
Grausamkeiten denn auch stellenweise
nur in homöopathischen Dosen lesen.
KeinWunder also, dass er all jenenein
Dorn imAuge war, die1968 im Zuge
der Négritude die spirituelle und künst-
lerischeWeite undWeisheit desKon-
tinents priesen. Es war dieser Mythos
eines «verlorenen» mythischen Afrika,
denYambo Ouologuem bewusstkon-
terkarierte.

Und doch ist das nur die eine Stoss-
richtung desRomans. Denn selbstredend
zielte derAutor in gleichem Masse ab auf
die Lüge des weissen Mannes, dass erst
seine Ankunft Licht in dasDunkel des
Kontinents gebracht habe.Sounmissver-
ständlich wie Ouologuem dieAusbeu-
tung seinesVolkes durch die schwarzen
Herrscher geisselt, so explizit kritisiert
er den «Ansturm auf das Negerpack»,
der seitens derWeissen ab der Mitte des
19.Jahrhunderts einsetzte und nichts als
weiteres Elend brachte. Denn die Ge-
setze, eingeführt von denFranzosen, wer-
den gegen dasVolk gewendet. Die Bil-
dung, die in ihrem Gefolgekommt, führt
zu Entfremdung und einem Leben im
Dazwischen – der Letzte der Saifs, des-
sen Lebensweg wir verfolgen, erfährt
dieses traurige Los am eigenen Leib. Mit
ihm bricht eine Gegenwart an, von deren
Friktionen sich Afrika bis heute nicht
wirklich erholt hat.
«Das Gebot der Gewalt» liest sich in-
sofern noch immer höchst aktuell und
kühn zugleich. Kühn mutet bis heute
auch Ouologuems literarischer Zugriff
auf den Stoff an. DerAutor hat seiner-
zeit ein intertextuellesWerk erschaffen,
das unterschiedliche und miteinander
konkurrierende Genres,Quellen und
Narrative über Afrika zusammenführt:
hier die Mythen und Legenden seines

Volkes, dort westlicheRomane ebenso
wie etwa die Bibel. Beständig wechselt
deshalb die Betriebstemperatur dieses
Romans, der das ideologische Schlacht-
feld quasi auf die (ironische) Metaebene
desTexts selbst verlagert.

Fastschon postmodern


Es ist diese ironische Distanz, befeuert
durch kommentierende Einschübe des
scheinbar neutralen Chronisten, die das
Buch quasi zu einem postmodernen
Werkavant la lettre macht. Es dürfte
insofernkeine leichteAufgabe gewe-
sen sein, diesen in vielen Zungen spre-
chendenRoman ins Deutsche zu über-
tragen. EvaRapsilbers Übersetzung –
die aus demJahr1969 stammt– wurde
für die Neuausgabe offenbar geringfügig
überarbeitet. Sie wirkt dennochstellen-
weise etwas hölzern und auch imDuk-
tus umständlich. Und doch hat die Über-
setzerin ihreAufgabe gemeistert: «Das
Gebot der Gewalt» ist schliesslich eine
Gedankenreise nach der Art von «Zu-
rück in die Zukunft» – etwas irritierende
Fremdheit darf und muss sein.

Yambo Ouologuem: Das Gebot der Gewalt.
AusdemFranzösischenvonEva Rapsilber. Mit
einemNachwortvon DirkNaguschewski.
Elster-Verlag, Züric h 2018. 271S., Fr. 32.–.

Der verworrene Krimi
ist nur einVo rwand
für sprachlich brillante
und kompliziert
verästelte Reflexionen
über die universelle
Gewalt gegen Frauen.
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