Neue Zürcher Zeitung - 17.07.2019

(Grace) #1

32 FEUILLETON Mittwoch, 17. Juli 2019


Nur Federer selbst kann den Federer-Kater kurieren


Im Augenblick seiner ärgsten Nieder lagen gewinnt er sein e grössten Fans. Wer tr otzdem Trost braucht, findet ihn in der Literatur – oder auf dem Platz


URS BÜHLER


Dabei hatte ich doch geglaubt, ich sei
geheilt und gefeit. Geheilt vom gesund-
heitsgefährdenden Drang, diesen bril-
lanten Gentleman spielen und gewinnen
zu sehen, gefeit gegen das Gift seiner
bittersten Niederlagen. Es gibt jaWich-
tigeres im Leben. Und nun erwache
ich an diesem Montagmorgen mit dem
schlimmsten Kater, als hätte ich selbst
fünf Stunden auf demRasen vonWim-
bledon gestanden bei diesem Drama in
fünf Akten.Wie konnte er dieses Spiel
nur verlieren?
Jetzt fühleich mich wie ein rückfällig
gewordener Junkie.Diese Mischung
ausRausch undFieber war schon beim
Halbfinale gegen Nadal wieder heillos
entfacht worden und liess mich während
des Spiels gegen Djokovic zum Besesse-
nen werden. Einmal war mir heiss, dann


fröstelte ich, und nach alter Gewohn-
heit setzte ich mich in heiklen Phasen
auf den Hometrainer und strampelte
solidarisch im Aberglauben, das hülfe
dem Maestro auf dem Platz. Und wie
bei früheren Schicksalsspielen liess ich
Freunde, mit denen ich abends verab-
redet war, ungebührlich warten. Ich
schaffte es einfach nicht, mich von die-
sem Stoff loszureissen.
Nun geht mir wieder und wieder die-
ser zweite Matchball durch denKopf,als
hätte ich ihn selbst vergeben. Nur ein-
mal noch hätte es einen dieser magi-
schenFederer-Momente gebraucht, die
DavidFosterWallace einst pries.Mei-
netwegen auch ein brachiales Ass. Statt-
dessen wurde ein zu sorglos vorbereite-
ter Netzangriff mit einemPassierball be-
straft, der auf die Linie tropfte.
Der Seelenfriede sei die grösste
Frucht der Gerechtigkeit, schreibt Epi-

kur. Den werdenFederers Anhänger
rund um den Globus, von Hugh Grant
bis Sophie Hunger, so schnell nicht
mehr finden.Man tröstet sich auf Social-
Media-Kanälen und per SMS mitVer-
satzstücken derWeltliteratur, etwaRud-
yard KiplingsVers, der über dem Ein-
gang zum Center Court inWimbledon
steht: «If you can meet with triumph and
disaster and treat those two impostors
just the same.»
Ja,Federer nahm das Desasterun-
erhört souverän hin. Aber diese fried-
fertigeAngriffslust, dieser Kampf, diese
Inspiration – das alles ist nicht belohnt
worden mit dem, was im Sport zählt:
dem Sieg. Dieroboterhafte Präzision
und Kaltblütigkeit hat den federleicht
verspieltenTanz ausgestochen,einmal
mehr. Die Ästhetik hat verloren und mit
ihr der uralteTr aum, dass sich im Leben
stets das Schöne durchsetzt (so pole-

misch darf man das imFeuilleton for-
mulieren,woKunst verhandelt wird und
nicht Sport).
Dabei beschrieb ich doch vor ge-
nau zweieinhalbJahren in diesen Spal-
ten unter demTitel «Fallen und Fliegen
mitFederer», wie ich sein Spätwerk ge-
lassener zu betrachten und seine häu-
figer gewordenen Niederlagen schnel-
ler zu verdauen gelernt hätte. Das war
kurz nach seiner langenVerletzungs-
pause, und ichwar vermessen genug,
einen weiteren Grand-Slam-Titel in
Aussicht zu stellen –alsseinen gröss-
ten Sieg. ZehnTage später gewann
er fastaus dem Nichts dasAustralian
Open, und ich schwor, seine Matches
ab sofort nur noch mitRuhepuls mit-
zuverfolgen. Hatte er nicht alles er-
reicht? Die ihm vorJahren vorgewor-
fen hatten, den richtigen Moment für
denRücktritt verpasst zu haben, waren

als Dilettanten entlarvt. Gott seiDank
hat er nie auf dieLästermäuler gehört.
Die wahreFrucht des Spätherbsts sei-
ner Karriere ist aber nicht, dass er zu
grossen Siegen zurückfand, sondern dass
er riskierte, sich so vielfältig verletzbar zu
machen. Dem Seelenheil seiner Bewun-
derer ist das womöglichnochzuträglicher
alsseine einstigeRolleals Dominator.
Die Zeiten, da wir uns vorbehaltlos mit
Roman-, Bühnen- oder Leinwandhelden
identifizieren, sind wohl mit der Kindheit
vorbei.Aber wir sind mitFederer durch
die Mutter aller Niederlagen gegangen
und haben gesehen, wie er dem Stahlbad
unversehrt entstieg. So verwandelt sich
der Kater zur Katharsis, sie winkt uns
lautAristoteles als Lohn für das Mitfie-
bernmit den Protagonisten einerTragö-
die. Jetzt bin auch ich ein bessererVerlie-
rer, gewiss. Und er soll hingehen und das
US Open gewinnen.

Die vielen Farben des «Grünen Heinri ch»

Ein lauschiger Kunstparcours bewegt sich auf Gottfried Kellers Spuren und erlaubt es, manch Verborgenes in Zürich zu entdecken


MARIA BECKER


Wenigstens einmal im Leben muss man
von da, wo man aufgewachsen ist, weg-
kommen.Auch wenn es nicht für lange
ist. Der andere Ort, vielleicht nicht weit
vom eigenenLand und doch ganz neu,
macht einem klar, was man will – oder
eben nicht will. DiePerspektive von aus-
sen lässt einen die eigene Prägung kri-
tisch betrachten und zwingt in manchem
Fall gar zurRevision des Lebensent-
wurfs. Sollte man etwas anderes studie-
ren?War nicht derWunsch der Eltern
stärker als die Neigung? Oder hat man
seine Befähigung überschätzt und sollte
besser in vorgegebenenBahnen blei-
ben?Wieauch immer–ein Ortswech-
sel hilft beim Überdenken der Ziele.
GottfriedKeller hat dreimal seine
Orte gewechselt und jedes Mal Ent-
scheidendes für seineLaufbahn gewon-
nen. In München hängte er seinVorha-
ben, Maler zu werden, an den Nagel.
DerAufenthalt in der grossenKunst-
stadt war das Begräbnis seiner Malerei
und endete mit dem Bemalen vonFah-
nenstangen. Aber nein–das war ja im
«Grünen Heinrich»! Aber immerhin hat
Keller betont, dass auch die Anekdoten
imRoman so gut wie wahr nach seinem
Leben seien.
In München also verkaufte er seine
Bildwerke zuletzt an einenTr ödler, um
zurück nach Zürich zu fahren.1848 zog
er mit einem Stipendium insromanti-
sche Heidelberg und war bereits ent-
schlossen, Dichter zu werden. Zwei
Jahrespäter, in Berlin, zeigte er sich als


Schriftsteller. Die preussische «Korrek-
tionsanstalt» behagte ihm zwar über-
haupt nicht, doch sie schliff ihn so weit
ab, bis der vierteBand seines autobio-
grafischenRomans erschienen war.
Im «Grünen Heinrich» hatKeller
das Sterben seines eigenen Lebensent-
wurfs verarbeitet. Der Maler stirbt, um
den Schriftsteller werden zu lassen.Dass
er auch dann, als er sich schon alsAutor
einen Namen gemacht hatte, immer wie-
der nach Zürich zurückkehrte, war vor
allem durch finanzielle Not bedingt.
Doch er ist offenbar nicht ungern wie-
dergekommen.Tr otz mancher üblen Er-
fahrung in derJugend hatte er eine Nei-
gung zu seiner Heimatstadt – und er
sollte ihr schliesslich sogar dienen.Als
Staatsschreiber des Kantons Zürich war
Keller endlich dort angekommen, wo
ihn seine Mutter haben wollte: gut be-
soldet und geehrt.

Damenunterwäsche


Nach Niederlegung seinesAmtes lebte
Keller mit seiner Schwester ab1876 in
derVilla auf dem Bürgli-Hügel, dem
schönsten Ort, den er in seinem Leben
bewohnt hat. Noch heute steht dieVilla
wie damals unverbaut auf dem Hügel.
AmFuss desWeinbergs macht jetzt
eine kuriose Erscheinung auf sich auf-
merksam. RiesigeDamenunterhosen
im Stil des19.Jahrhunderts flattern an
einer Leine imWind. DieKünstlerin Isa-
belle Krieg hat damit der Mutter von
GottfriedKeller ein temporäres Denk-
mal gesetzt. Ihre«Windwäsche» ist ein

Schmuckwimpel für dieFrau, die bis zu
ihremTod im LebenKellers eine bedeu-
tendeRolle gespielt hatte. Leichtfüssig
und lustigkommt die Installation daher.
Für zwei Monate darf sie am Ort blei-
ben. Die Unterhosen aus unempfind-
lichemSynthetikmaterial dürften der
Witterung standhalten.
«Der grüne Henry» ist der hübsche
Name desKunstparcours zwischen dem
Bürgli und fünf weiteren Orten, die im
LebenKellers eineRolle spielten. Der
Autor selbst hat seinenRoman manch-
mal so genannt.Ihm hätte es sicher
nicht schlecht gefallen, dassKünstler
sich von seinem Leben inspirieren las-
sen. Eine gewissePoesie der Offenheit
kennzeichnet den sommerlichenKeller-
Rundgang, der nebenbei auch erlaubt,
manchesVerborgene in Zürichzu ent-
decken. DieKunstwerke beziehen sich
meist auf biografische Details,vor allem
aber schaffen sieVorstellungsräume, in
denen man spazieren gehen und träu-
men kann.Wie war es damals, als der
Dichter hier herumging? Orte sprechen,
und wenn sie altsind, sind esganze Er-
zählungen.
Allerdings muss man schon etwas wis-
sen über den «Grünen Heinrich» und sei-
nenAutor. Ohne Flyer und Hinweisschil-
der erschliesst sich der ortsspezifische
Zusammenhang nicht.Was hateszum
Beispiel mit diesen grünen Butzenschei-
ben im Zunfthaus zur Meisen auf sich?
Erst beim Näherkommen im Innern des
Barockpalais sieht man,dass die runden
Gläser ausWeinflaschen bestehen, fein
gestapelt imAusschnitt desFensters.

GottfriedKeller hat in seinen späten
Jahren oft im Café zur Meisen geses-
sen und so manches Glas gehoben. Der
KünstlerRemy Markowitsch hat dieses
Lebensdetail für seineWeinflaschen-
installation herausgegriffen.Passend zur
Inspiration durch denWein kann man
im schönen Täfersaal, wo sich das Café
einst befand, auch den beidenzentra-
lenFrauengestalten aus dem «Grünen
Heinrich» begegnen.Wie zweiVexier-
bilder sind sie vonJudith Albert auf das
Täfer projiziert, in ständiger Metamor-
phose zwischen Mustern und bildneri-
schen Schichten verborgen: dieFrau als
Vision und Lockung. DassKeller wie
Heinrich nie den Mut aufbrachte,sich
den von ihm geliebtenFrauen zu offen-
baren, schwingt untergründig mit.

Bei Böcklinim Atelier


DerText desRomans istselbstverständ-
lich imKunstparcours gegenwärtig. Er
wird alsVideo von verschiedenenPer-
sonen und an mehreren Orten verlesen.
Wer will, kann perKopfhörer an den
Lesestunden teilhaben.Auch die netten
Aufseherinnen blättern hier und da –
nur zur eigenen Erbauung – imRo-
man. Zum Beispielan einemder schöns-
ten Orte desRundgangs, im ehemali-
gen Atelier von Arnold Böcklin.Keller
hatte im Alter eine engeFreundschaft
mit dem berühmten Maler, der sich ein
kunstvolles Holzgebäude oberhalb des
Hegibachplatzes hatte bauen lassen.
Dass man auch mit Worten ma-
len kann, zeigt Isabelle Krieg in einem

Wandteppich. «Farbgeschichte» hängt
unter der Loggia des Ateliers.Was die
Künstlerin im «Grünen Heinrich»an
Farben fand, ist als Gewebe umgesetzt.
DieVorstellung, dassWorte wieFarben
aufleuchtenkönnen, füllt denRoman mit
ungeahntemReiz. Sprachfarben, die sich
zu Bildern verweben, als Metapher für
dieVerbindung derKünste und für die
Freundschaft von Dichter und Maler.
ThematischeVorgaben fürKunst-
werke können inspirierend sein und
sind doch immer ein wenig schwierig.
Man merkt die Bemühung derKünstler,
dieVerbindung zum Ort und zumRo-
man zu schaffen unddoch ganz selbst
zu bleiben.Was hat es mit dem massi-
ven Kleeblatt aus Onyxstein im Garten
neben dem Haus zur Sichel auf sich?
GottfriedKeller wohnte hier in seiner
Kindheit undJugend und hat den Blick
auf den Schwarzen Garten, wie man ihn
nannte, im «Grünen Heinrich» zu poe-
tischen Bildern verdichtet. Ist der Halb-
edelstein aus dem Nahen Osten ein Hin-
weis auf die Orientalin, die in früheren
Zeiten hier lebte und sich nie in der
Öffentlichkeit zeigen durfte?
Alses doch einer der Nachbarn
wagte, mittels eines Gerüsts über die
Mauer zu schauen,verbrannte ihr Mann
den Garten und zog mit ihr weg. Heute
erblüht er wieder,und eine enorme
Esche ist zwischen den Häusern gewach-
sen. Fast peripher erfährt man von die-
sen Geschichten, die imKunstparcours
«Der grüne Henry» so nebenherlaufen.

Bis 1. September, http://www.dergruenehenry.ch.

Im Café zur Meisen hob GottfriedKeller manches Glas.Weinflascheninstallation vonRémy Markowitsch. Wurzelgebilde nebenKellersJugendhaus,Videoinstallation von UrsulaPalla. BILDER ANNICK RAMP / NZZ

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