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28.07.1928.07.1928.07.19/1/1/1/1/Kul5/Kul5 EKOCHNEV 5% 25% 50% 75% 95%
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53
28.07.19 28. JULI 2019WSBE-VP1
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2 8.JULI2019 WELT AM SONNTAG NR.30 KULTUR 53
I
m Jahr 1919 kostete ein Einzelfahr-
schein der Woltersdorfer Straßen-
bahn 30 Pfennige. 100 Jahre später
fährt die Überlandstraßenbahn östlich
des Berliner Müggelsees noch immer,
mit Wagen wie aus dem Museumsdepot,
alle 20 Minuten, und die Karte kostet
1,70 Euro. Heute mischen sich Einhei-
mische mit ein paar Touristen in den
Waggons; leider darf man keine Räder
mitnehmen. Vor 100 Jahren bot sich ein
ganz anderes Bild: Das Woltersdorfer
Bähnle war die beste Verbindung aus
der Reichshauptstadt zu der gerade aus
dem märkischen Sand gestampften
Filmstadt rund um den Kalksee:
schneeweiße Gipstempel, riesige Tier-
gehege, der Palast eines indischen Ma-
haradschas, eine Mittelalterstadt, ein
Biwak für Komparsen. Woltersdorf
wurde zum Zentrum für den – so hieß
das damals – „Kolossalfilm“.
Es war schon kolossal, was die deut-
sche Filmindustrie direkt nach dem
verlorenen Krieg da auf die Beine stell-
te: „Die Herrin der Welt“ hieß der erste
Großfortsetzungsfilm, der von Berlin
nach China (am Kalksee) und Afrika
(am Kalksee) und zurück nach Berlin
sprang. Acht abendfüllende Abenteuer-
filme, gedreht innerhalb eines halben
Jahres; auch die „Fast & Furious“-Serie
ist inzwischen bei acht Episoden ange-
kommen, hat aber 16 Jahre gebraucht.
1921 machte sich der Großregisseur
Joe May – nach ihm sind heute in Pots-
dam und Woltersdorf zwei Straßen be-
nannt und in Berlin ein Platz – an einen
Film, für den „kolossal“ als Wort nicht
mehr reicht, nur noch „Mammutpro-
jekt“. Sein „Indisches Grabmal“ soll 24
Millionen Reichsmark verschlungen ha-
ben, May leitete die Dreharbeiten mit
5000 Komparsen vom Pferde aus und
schickte Anweisungen an entfernte Dar-
stellergruppen per Kurierreiter.
Der Erfolg des „Grabmals“ war
durchschlagend, im Abstand von jeweils
20 Jahren entstanden zwei Remakes,
doch – wir Deutschen wertschätzen un-
sere eigene Filmgeschichte nicht – bis-
her gab es auf DVD lediglich eine engli-
sche Fassung, die nur in den USA erhält-
lich war. 98 Jahre nach der Premiere ist
nun das „Grabmal“ restauriert und mit
deutschen Zwischentiteln endlich auch
hierzulande zu bekommen.
Man sollte sich den Spaß machen,
den Film abends in den DVD-Spieler zu
legen und am nächsten Tag zu einem
Ausflug aufzubrechen, mit der Straßen-
bahn nach Woltersdorf. Da steht ein
hölzerner Aussichtsturm, und alle paar
Meter kann man beim Aufstieg pausie-
ren und Schautafeln zum märkischen
Hollywood betrachten. Gesäumt ist die
Treppe mit Resten der Gipskulissen,
und wer Appetit bekommt, kann durch
die Gegend streifen und Trümmer der
alten Filmstadt suchen. Es gibt sie, aber
sie sind überwachsen und versteckt wie
versunkene Städte im Amazonas.
VONHANNS-GEORG RODEK
So sah Indien 1921 in Woltersdorf aus
ULLSTEIN BILD
Wo der Kolossalfilm zu Hause war
Vor einem Jahrhundert entstanden im märkischen Sand Blockbuster wie „Das indische Grabmal“. Den gibt es jetzt auf DVD. Reste der Kulissen sind auch zu finden
Z
um 200. Geburtstag
vom Herman Melville
soll am 1. August im
Garten seines Hauses in
Pittsfield ein lebensgro-
ßer, aufblasbarer Wal in
Stellung gebracht wer-
den, in dem sich bis zu dreißig Personen
aufhalten können. Eine wunderbare In-
terpretationshilfe, denn man wird „Moby
Dick“ sicher besser verstehen, wenn man
sich eine Zeit lang im Innern seines Hel-
den aufgehalten hat. Dieses Hilfsmittel
steht mir noch nicht zur Verfügung, als
ich an einem kalten Apriltag vor dem
Haus in der Holmes Road Nr. 780 stehe.
Statt eines aufgeblasenen Wals steht Pe-
ter Bergman vor mir, der mich durch die
WWWohn- und Arbeitsräume des Dichtersohn- und Arbeitsräume des Dichters
ffführen will. Ich bin der einzige Gast, dasühren will. Ich bin der einzige Gast, das
Museum ist offiziell erst ab Mai geöffnet.
Bergman, zuständig für Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit, beginnt mit einer
fffür mich überraschenden Enthüllung.ür mich überraschenden Enthüllung.
Melville schrieb sein Hauptwerk oder zu-
mindest den größten Teil davon im Ar-
beitszimmer des Anwesens, das er auf
den Namen „Arrowhead“ taufte, nach-
dem er beim Pflügen einige Pfeilspitzen
aus Feuerstein gefunden hatte. Wenn er
von seinem Schreibtisch aus dem Fenster
schaute, sah er den Mount Greylock, mit
1 063 Metern die höchste Erhebung der
Berkshires, ja, von ganz Massachusetts.
WWWenn Schnee im Winter den Berg be-enn Schnee im Winter den Berg be-
deckte, nahm er die Gestalt eines großen
weißen Pottwals an. So kam Melville die
Idee, einen Roman über die Jagd auf ei-
nen großen, weißen Pottwal zu schrei-
ben. Sagt Mr Bergman.
Ich äußere schüchtern meine Verblüf-
fffung, denn von allen Autoren, die jemalsung, denn von allen Autoren, die jemals
gelebt haben, war Melville wohl der ein-
zige, der auf jegliche Inspiration durch
schneebedeckte Berge verzichten konnte.
Er fuhr als junger Mann mehrere Jahre
zur See, wenn er sich mit etwas auskann-
te, dann mit der Waljagd. Doch Bergman
winkt ab und berichtet, wie er sich jahre-
lang auf die Lauer gelegt und auf die pas-
sende Gelegenheit gewartet hatte, um
das Beweisfoto zu schießen, denn dafür
musste die Sicht klar und der Bergrücken
in einer bestimmten Art und Weise be-
schneit sein. Jetzt ziert sein Schnapp-
schuss den laminierten Flyer von Melvil-
les Haus: „where a mountain inspired the
tale of a whale“.
Noch kurz zuvor hatte mir Bergman
ausführlich erklärt, wie Melvilles literari-
sche Laufbahn begann. Um dem öden Le-
ben an Land zu entfliehen, schiffte sich
Melville 1839 auf der „Acushnet“ ein und
verbrachte die folgenden vier Jahre über-
wiegend in Südseegefilden. Er lebte unter
Eingeborenen, die ihn unbedingt im Ge-
sicht und an den Händen tätowieren und
möglicherweise verspeisen wollten, was
ihn zu einer etwas überstürzten Abreise
trieb. So die Kurzfassung einer längeren
und äußerst farbigen Schilderung meines
Führers. Insgesamt lieferten Melville sei-
ne Erlebnisse an Land und auf See Stoff
fffür fünf Romane, die ihm literarische An-ür fünf Romane, die ihm literarische An-
erkennung und einen gewissen finanziel-
len Erfolg sicherten, der von Buch zu
Buch stetig kleiner wurde. Das Geld für
den Erwerb von „Arrowhead“ musste er
sich vom Schwiegervater leihen, der
oberster Richter von Massachusetts war.
1 850 erfolgte der Einzug in das Haus, in
dem Mr Bergman, der mir in manchen
Momenten wie ein Verwandter von Lewis
Carrolls verrücktem Hutmacher er-
scheint, und das ohne Hut, die dichteri-
sche Oberhand gewonnen hat.
Er führt mich durch niedrige, dunkle
Zimmer, die wenig Raum für sehr viele
Menschen boten. Hier lebten neben Mel-
ville, seiner Frau Elizabeth und den vier
Kindern auch die Mutter und seine
Schwestern. Trotz der räumlichen Enge
wwwurde aber immer ein kleiner Schlafraumurde aber immer ein kleiner Schlafraum
fffür Nathaniel Hawthorne frei gehalten,ür Nathaniel Hawthorne frei gehalten,
mit dem Melville eng befreundet war,
und es gibt einige Literaturwissenschaft-
ler, die glauben, es könne mehr als
Freundschaft gewesen sein. Das Bett
blieb jedoch unbenutzt, Hawthorne hat
nie in „Arrowhead“ übernachtet.
WWWas Melville an dem Haus reizte, dazuas Melville an dem Haus reizte, dazu
gibt es verschiedene Erklärungen. Er war
als Kind häufiger bei einem in der Nähe
wohnenden exzentrischen Onkel zu Be-
such gewesen. Hawthorne wohnte ein
paar Meilen weiter in Lenox. Und auf ei-
nem benachbarten Grundstück lebte Sa-
rah Morewood, mit selten anwesendem
Ehemann und Kindern, eine Dichterin,
mit der Melville ein sehr enges Verhältnis
hatte.
Mr Bergman ist sich sogar sicher: Es
war ein Verhältnis, aus dem wahrschein-
lich sogar ein gemeinsames Kind hervor-
ging, „wenn man sich die Fotos mal ge-
nau anschaut“, die er mir nun unter die
Nase hält. Tatsächlich scheint es eine
entfernte Ähnlichkeit zu geben, und
nachdem mich mein Führer so explizit
darauf hingewiesen hat, sehe ich sie im-
mer deutlicher. Wer tie-
fffer in die schlüpfrige Ma-er in die schlüpfrige Ma-
terie einzudringen
wwwünscht, dem sei Michaelünscht, dem sei Michael
Sheldens „Melville in
Love“ ans Herz gelegt.
Dort wird die, sagen wir,
mittelsteile These aufge-
stellt, dass die besessene
Jagd Kapitän Ahabs nach
dem weißen Wal, die lite-
rarische Umsetzung der
erotischen Besessenheit
Melvilles darstellt.
Mount Morewood oder
Mount Greylock, einer
von beiden muss die Haup-
tinspirationsquelle für den
Dichter gewesen sein, wahr-
scheinlich waren es beide. Belegt
ist ein gemeinsamer Aufstieg des Paares
mit anschließender Übernachtung auf
dem Gipfel 1851.
Doch auch Mr Bergman ist im Ange-
sicht des magischen Berges um steile
Thesen nicht verlegen und beginnt mir
zu erklären, welchen wohltätigen und zu-
gleich auch diabolischen Einfluss Na-
thaniel Hawthorne auf „Moby Dick“ hat-
te. Es verhielt sich wohl so, dass
Hawthorne nach dem Studium einer
Rohfassung von „Moby Dick“ begriff,
dass ihm hier ein ernst zu nehmender,
wenn nicht gar überlegener Konkurrent
erwachsen war. Was der Autor von „Der
scharlachrote Buchstabe“ damals vor sich
hatte, las ich etwa 120 Jahre später in
atemloser Spannung im Kinderzimmer.
„Die Jagd nach dem weißen Wal“ über-
setzt und für die Jugend bearbeitet von
Karl Bahnmüller. Die fast 900 Seiten der
Originalausgabe waren auf
weniger als die Hälfte ge-
kürzt, man ließ einfach al-
les weg, was nicht direkt
mit der wilden Waljagd zu
tun hatte.
Hawthorne nutzte sei-
nen immensen Einfluss
auf Melville und erklärte
ihm, das sei ja schon eine
sehr ordentliche Ge-
schichte, aber da wäre
mehr drin. Und dann
schrieb Melville all die vie-
len Kapitel hinein, die den
schönen Plot immer wieder
ins Stocken bringen, philo-
sophiert über die Farbe Weiß,
erklärt in vielen Kapiteln Aufbau
und Struktur eines Pottwals und
lässt in einer sternenklaren Nacht die
Matrosen in Versen reden. Zutaten, die
den Roman zum Klassiker, zur Great
American Novel gemacht haben, aller-
dings erst posthum. Zu Lebzeiten wur-
den 3000 Exemplare verkauft. So also
hielt sich der Ältere einen jüngeren Kon-
kurrenten vom Leib und schob gleichzei-
tig die Entstehung eines Meisterwerks
an. Ich möchte darauf hinweisen, dass es
mir bis heute nicht gelungen ist, irgend-
welche Quellen zu finden, die Bergmans
These stützen könnten, aber das muss
üüüberhaupt nichts bedeuten und zeigt ein-berhaupt nichts bedeuten und zeigt ein-
fffach nur, dass Quellen doch häufig über-ach nur, dass Quellen doch häufig über-
bewertet werden. Melville selbst kam ge-
gen Ende seines Lebens zu dem Schluss,
dass Übertreiben Teil des Vergnügens ist,
„das in der Sünde liegt“.
Ich bin am Ende meiner Besichtigung
angelangt und stehe jetzt endlich im Ar-
beitszimmer des Dichters, das erstaun-
lich geräumig und hell wirkt. Der Besu-
cher darf, ja soll sich an den Schreibtisch
setzen und sich vom Anblick der alles
üüüberragenden Erhebung, auf den mich Mrberragenden Erhebung, auf den mich Mr
Bergman noch einmal hinweist, zu eige-
nen Meisterwerken inspirieren lassen.
Tatsächlich muss man sich fragen: Was
macht dieser Berg mit einem? Sechs Jahre
vor Melvilles erotisch motiviertem Gip-
fffelsturm übernachtete Henry David Tho-elsturm übernachtete Henry David Tho-
reau ganz allein auf dem Mount Greylock,
und diese Erfahrung soll sein Leben der-
art verändert haben, dass er sich kurz da-
rauf entschloss, ein Jahr in den Wäldern
zu verbringen und den Outdoor-Klassiker
„„„Walden“ zu schreiben. Obwohl manWalden“ zu schreiben. Obwohl man
Mount Greylock heute mit dem Auto be-
fffahren kann und Ski- und Snowboard-ahren kann und Ski- und Snowboard-
pisten seine Hänge zerschneiden, hat sei-
ne Inspirationskraft nicht nachgelassen.
J. K. Rowling erbaute erst kürzlich auf sei-
nem Gipfel das Zaubererinternat „Ilver-
morny“, das amerikanische Äquivalent zu
„Hogwarts“. Und mir scheint, dass der
Berg auch auf Mr Bergman, meinen be-
ffflissenen und unbedingt glaubwürdigenlissenen und unbedingt glaubwürdigen
Führer durch Melvilles Wohnstätte und
Universum, einen ganz erheblichen Ein-
fffluss hat. Selbst ich hätte mit Sicherheitluss hat. Selbst ich hätte mit Sicherheit
einen sehr viel profunderen Text verfas-
sen können, wenn ich mir die Zeit ge-
nommen hätte, den Mount Greylock zu
besteigen, anstatt in aller Eile nach Hart-
ffford in Connecticut zu fahren, um dortord in Connecticut zu fahren, um dort
gerade noch die letzte Führung durch das
Anwesen von Mark Twain zu erwischen,
von dem es einen sehr schönen Bericht
üüüber die Besteigung eines Berges bei Lu-ber die Besteigung eines Berges bei Lu-
zern gibt. Doch das ist nun wirklich eine
ganz andere Geschichte.
„Capturing a
SSSperm whale“ vonperm whale“ von
WWWilliam Page –illiam Page –
die Geschichte der
Jagd auf den
Pottwal Mocha
Dick inspirierte
Melville zu seinem
berühmten
Roman
PICTURE ALLIANCE / CPA MEDIA CO.
/DPA
VONHANS ZIPPERT
VVVier Jahre auf See, fürier Jahre auf See, für
fffünf Romane Stoff: „Mobyünf Romane Stoff: „Moby
Dick“ schrieb Herman
Melville (1819 bis 1891) an
Land. In Massachusetts
Die Mär vom Wal, der ein Berg war
Ein Besuch in Herman Melvilles Haus „Arrowhead“ stellt alles infrage, was man über den vor 200 Jahren geborenen „Moby Dick“-Autor zu wissen glaubte
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