Die Welt am Sonntag Kompakt - 21.07.2019

(Wang) #1

18 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR. 29 21. JULI 2019


Doch der Diabetologe und Ernährungsmediziner
warnt auch: „Man sollte den Leuten keine unberech-
tigten Hoffnungen machen.“ So sei es schon ein Feh-
ler, die Remission mit einer Heilung gleichzusetzen.
Tatsächlich handle es sich dabei um einen Zustand,
bei dem sich zwar die typischen Diabetessymptome


  • wie ein problematischer Blutzuckeranstieg unter
    einem Belastungstest – nicht mehr nachweisen las-
    sen. Doch wie lange es dabei bleibt, ist offen. „Dia-
    betes ist in den meisten Fällen eine chronische Er-
    krankung, die lebenslang fortschreitet“, betont
    Kress. Der Fall von John Gemmell sei zwar spekta-
    kulär, aber eine sichere Prognose könne man auch
    bei ihm nicht abgeben.
    Außerdem unterscheidet sich der britische Rent-
    ner von den meisten anderen Diabetespatienten.


Denn seine Erkrankung beruht wohl in erster Linie
auf einer Insulinresistenz, bei der sich die Körper-
zellen dem Stoffwechselhormon verweigern, sodass
der Zuckerwert im Blut unweigerlich nach oben
geht. Es gibt also noch genug Insulin, aber eben
nicht mehr genug Adressaten und Abnehmer im
Körper dafür. Ein darauf beruhender Diabetes lässt
sich oft noch durch eine Ernährungsumstellung und
einen entsprechenden Gewichtsverlust beeinflus-
sen, weil man dadurch für Entlastung im Stoffwech-
selgeschehen sorgt.
Doch bei vielen Patienten ist auch schon die Insu-
linproduktion der Bauchspeicheldrüse zurückgegan-
gen. „Und da kann dann eine Diät kaum noch etwas
ausrichten“, erläutert Kress. „Denn sofern kein In-
sulin mehr kursiert, muss man es als Medikament

zufügen – ohne Wenn und Aber.“ Bei Diabetes Typ 2
geht die Insulinresistenz normalerweise dem Versa-
gen der Bauchspeicheldrüse voraus. Es liegt daher
auf der Hand, dass Diäten vor allem dann funktio-
nieren können, wenn der Patient noch nicht allzu
lange zuckerkrank ist. Dies sehen auch die Forscher
des britischen Counterweight-Plus-Programms so.
Die Forderung nach einer stärkeren Berücksichti-
gung von Diätplänen in der Diabetestherapie gingen,
sagt Michael Lean von der Universität Glasgow,
„Hand in Hand mit der Forderung, dass Diabetes so
früh wie möglich diagnostiziert wird und nicht so
lange unerkannt bleibt, wie es heute leider oft noch
üblich ist“. Diabetes Typ 1, der normalerweise be-
reits im Kindesalter beginnt (siehe Grafik), kann oh-
nehin nicht geheilt werden.

GENETISCHES GLÜCKSKINDVVVorzei-orzei-
ge-Patient Gemmell reagierte zwar
noch auf seine Diät, obwohl er schon
viele Jahre an Diabetes Typ 2 litt. Doch
ist er damit eine Ausnahme. „Er scheint
in dieser Hinsicht ein genetisches
Glückskind zu sein“, vermutet Kress.
Die meisten anderen Patienten hätten
dieses Glück nicht. „Sie sind dann über
alle Maßen enttäuscht, wenn sich die
Diät bei ihnen einfach nicht auf den Zu-
ckerwert auswirken will“, berichtet
Kress, der am Vinzentius-Krankenhaus
in Landau das Diabetes-Zentrum leitet.
Für viele Patienten ist eine Diät
schon allein deswegen zum Scheitern
verurteilt, weil ihnen die notwendige
Selbstdisziplin dazu fehlt oder das Ab-
nehmen aus anderen Gründen einfach
nicht klappen will. Studien der letzten
Jahre zeigen, dass der Erfolg einer Diät
weniger von der Methode abhängt – ob
also beispielsweise eher an Kohlenhy-
draten oder an Fetten gespart wird – als vielmehr
davon, wie stark die Motivation des Abspeckwilligen
ist. Wenn man in Adipositaszentren oder entspre-
chenden Kliniken frage, sagt Kress, höre man in der
Regel, dass nur jeder Zehnte es schaffe, das anvisier-
te Gewichtsziel zu erreichen und dann für mehrere
Jahre zu halten. Die anderen erreichen nur Teilziele
oder werden Opfer des berüchtigten Jo-Jo-Effekts,
bei dem das Gewicht von einer Diät zur nächsten
immer mehr zunimmt.
Es gibt neben dem Abnehmen aber noch etwas,
das Diabeteskranken helfen kann: Sport. Und zwar
gleich in mehrfacher Hinsicht. Bewegung bringt die
Muskelzellen dazu, mehr Insulin – und folglich auch
mehr Zucker – hereinzulassen und damit aus dem
Blut zu ziehen. Der Aufbau von Muskelmasse sorgt

Diät


statt Diabetes


Mediziner versuchen, die weit verbreitete


Zuckerkrankheit mithilfe von Abnehmprogrammen in


den Griff zu bekommen. Doch funktioniert das wirklich?


A


Als er im Alter von 74 Jahren sein Diätprogramm be-
gann, war er 146 Kilogramm schwer und seit 20 Jah-
ren Diabetiker. Inzwischen wiegt John Gemmell nur
noch 92 Kilo. Was ihm nicht nur mehr Beweglichkeit
und Lebensqualität einbrachte – sondern auch eine
komplette Remission seines Diabetes: Die Sympto-
me sind also verschwunden. Statt wie früher 14 Tab-
letten nimmt er nur noch drei pro Tag, und darunter
ist kein Antidiabetikum mehr.

VON JÖRG ZITTLAU

Gemmell ist der Vorzeigepatient der Universitä-
ten Glasgow und Aberdeen, wo man Patienten, die
Diabetes Typ 2 haben, mithilfe des Diätprogramms
„Counterweight-Plus“ zu helfen versucht. Denn die
Zuckerkrankheit ist ein drängendes
Problem. Allein in Deutschland leiden
knapp sieben Millionen Menschen an
dieser Erkrankung, und laut einer Prog-
nose des Deutschen Diabetes-Zentrums
in Düsseldorf werden es im Jahr 2040
sogar zwölf Millionen sein. Häufig wird
die Krankheit erst spät diagnostiziert.
Das kann gefährlich werden: Denn Dia-
betes kann zahlreiche Folgeerkrankun-
gen nach sich ziehen – unter anderem
deshalb, weil sich bei Diabetikern
schneller Ablagerungen in den Blutgefä-
ßen entwickeln als bei gesunden Men-
schen. Dadurch steigt das Risiko für
Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie
Herzinfarkt und Schlaganfall um das
Zwei- bis Vierfache.

LÄSST SICH DER TREND DREHEN?
Die Hoffnung, die die schottischen For-
scher und viele andere Arbeitsgruppen
derzeit wecken: Man könnte den Trend
stoppen, vielleicht sogar umkehren. Mit
einfachen, wenn auch strikten Diäten könnte man
den Blutzuckerspiegel von Diabetikern wieder dau-
erhaft auf gesunde Werte senken.
Das britische Programm besteht aus einer inten-
siven Abnehmphase, in der die Kalorienzufuhr auf
rund 850 Kilokalorien pro Tag reduziert wird, ge-
folgt von drei bis fünf Monaten, in denen der Patient
wieder schrittweise an eine gesunde Mischkost ge-
wöhnt wird. John Gemmell nahm so seit 2016 insge-
samt 54 Kilo ab, und seit rund einem Jahr hält er sein
neues Gewicht. Er genieße es, sagt er, von den Leu-
ten „wie ein Weltwunder“ angestarrt zu werden.
„Derzeit gibt es geradezu einen Hype, was Diäten
und Diabetes angeht“, sagt Stephan Kress von der
Deutschen Diabetes Gesellschaft. Es sei prinzipiell
zwar richtig, sich diese Möglichkeit anzuschauen.

Quelle: dpa, Deutsche Diabetes-Hilfe, Deutsche Diabetes-Gesellschaft

Diabetes mellitus

meist im
Kindes- und Jugendalter

meist nach
dem ��. Lebensjahr

Erkrankungsalter

���.��� Betroffene rund �,� Mio.
in Deutschland

AutoimmunerkrankungAutoimmunerkrankung erbliche Veranlagung, erbliche Veranlagung,
starkes Übergewicht,
wenig Bewegung

Ursache

Insulinproduzierende
Zellen werden vom
eigenen Immunsystem
zerstört.

lebenslange Therapie
mit Insulingabe

Umstellen der Ernährung,
Sport, Insulingabe

Merkmale

Behandlung

DIABETES TYP � DIABETES TYP �
Das Insulin wirkt nicht
mehr richtig: Trotz
erhöhten Insulinspiegels
gelangt immer weniger
Zucker in die Körperzellen.
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