Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 No 31


Wer darf wen


kritisieren?


Warum es immer


mehr Gebote und


Verbote in öffentlichen


Debatten gibt
Seite 7

Niedergang


eines Giganten


Wie Boeing durch


zwei abgestürzte


Flugzeuge in


die Krise geriet
Seite 17

Helene Fischers


»Neuer«


Thomas Seitel ist


plötzlich berühmt –


und redet über den


Hass, den er seither


erlebt ZEiTmagazin


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DIE ZEIT

Wieder glücklich


Zum ersten Mal seit März 2011,
als das japanische Kernkraftwerk
Fukushima infolge eines Seebe‑
bens explodierte, wurde ein nahe
gelegener Badestrand freigegeben.
Etwa 20.000 Menschen kamen
damals um, mehr als eine halbe
Million mussten evakuiert werden.
Jetzt vergnügen sich die Kinder in
den Meereswellen. »Glücklich ist,
wer vergisst, was doch nicht zu
ändern ist«, heißt es in der Fleder-
maus von Johann Strauss. GRN.

PROMINENT IGNORIERT

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I


n diesem Öltanker, der da im Persischen
Golf verloren vor sich hin dümpelt, ver‑
dichtet sich die vertrackte weltpolitische
lage Großbritanniens auf höchst an‑
schauliche Weise. und weil das Vereinigte
Königreich dieser Tage einen Machtwechsel erlebt,
der für die Zukunft des Westens entscheidend sein
könnte, geht das Schicksal der Stena Impero auch
die Berliner Außenpolitik an.
Schon beinahe eine Woche lang ankert der
britische Supertanker unfreiwillig in einer Bucht
vor der iranischen Küste, festgesetzt von den
Revolutionsgarden in einer spektakulären Kom‑
mandoaktion. Wie sich die iranischen Soldaten
unter »Allahu Akbar«-Rufen vom Hubschrauber
abseilten, das war filmreif inszeniert. Das Video
zeigt den Kontrollverlust einer westlichen Füh‑
rungsmacht, die sich ins Abseits manövriert hat.
um weitere Kaperungen zu vermeiden, müs‑
sen die Briten jetzt ausgerechnet bei ihren euro‑
päischen Freunden um Geleitschutz bitten. und
das im selben historischen Moment, in dem ein
neuer Premier sein Amt antritt, dessen zentrales
Versprechen doch lautet, die Eu um jeden Preis
noch diesen Herbst zu verlassen.

Unter den europäischen Nachbarn ist die
Versuchung der Schadenfreude groß

Dabei hat Großbritannien diese Krise im Streit
mit dem iran selbst provoziert. Zwei Wochen zu‑
vor hatte die Royal Navy ein iranisches Schiff vor
Gibraltar festgesetzt, weil dieses angeblich Öl
nach Syrien bringen sollte. Das verletze, so die
britische Regierung, die Eu‑Sanktionen gegen
das Assad‑Regime. Eine fadenscheinige Be‑
gründung, denn der iran hat sich noch nie an
Eu‑Recht gehalten. london hatte in Wahrheit
auf amerikanische Bitte hin gehandelt. unter
dem Vorwand, Eu‑Recht durchzusetzen, agier‑
ten die Briten als Trumps Helfer, die den iran
wirtschaftlich bezwingen wollen.
Gedankt wird es ihnen nicht: Nach der ira‑
nischen Revanche im Tankerkrieg verkündete
uS‑Außenminister Mike Pompeo, london
müsse sich selbst um die Sicherheit seiner Schiffe
kümmern.
Mitten hinein in diese lage fällt der Auftritt
Boris Johnsons als neuer Bewohner der Downing
Street. unter den ohnehin genervten europäi‑
schen Freunden ist die Versuchung zur Schaden‑
freude groß. Soll man londons Wunsch nach

Geleitschutz für Schiffe im Golf abweisen? Dem
neuen Premier, der nach Kräften geholfen hat,
die Brexit‑Entscheidung herbeizulügen, wünscht
so mancher einen harschen Realitätskontakt.
Welche Gelegenheit, Johnson spüren zu lassen,
wie illusorisch der Glaube war, man könne durch
Abkehr von der Eu »die Kontrolle zurückgewin‑
nen«! Wie fahrlässig die idee, man dürfe sich
unter Trump auf die berühmte »Sonderbezie‑
hung« zu den uSA verlassen; wie hybrid der
Glaube an ein neues »global Britain«!
Alles wahr. und doch wäre es grundfalsch,
wenn Berlin und andere europäische Haupt‑
städte london jetzt alleinließen. Die Europäer
sollten sich zusammentun, um die Straße von
Hormus mit ihren Schiffen zu sichern. Mehr als
zwanzig Prozent der weltweiten Öllieferungen
fließen dort hindurch. Die Sicherheit der globa‑
len Handelsrouten ist für die Exportnation
Deutschland von vitalem interesse. im Übrigen
hat die deutsche Marine bereits Erfahrung mit
Anti‑Piraterie‑Einsätzen. Seit 2008 sichert sie die
See am Horn von Afrika – ein Erfolg, über den
viel zu wenig gesprochen wird: Die Mission er‑
möglicht Hilfslieferungen nach Somalia.
Nach dem Wachwechsel in der Downing
Street sind nun die beiden alten Kernnationen
des Westens in den Händen von Männern mit
markanten blonden Sturmfrisuren und einem
gebrochenen Verhältnis zur Wahrheit bei unge‑
brochenem Selbstbewusstsein.
Es ist ein lehrreicher Moment. Die aktuelle
iran‑Krise, mutwillig von den uSA vom Zaun
gebrochen, zeigt, wie fragil die Macht des
Westens geworden ist. Der iran lässt sich selbst
mit den schärfsten Sanktionen nicht bezwingen.
Es gibt auch keine militärische lösung: Amerika
ist nach all seinen Nahost‑Desastern kriegsmüde,
und der iran kann mit geringen Mitteln emp‑
findlichen Schaden anrichten. Die Botschaft der
Tankerattacken: Wir wissen, dass ihr keinen
großen Krieg mehr vertragt. Darum haben wir
keine Angst, selbst zu eskalieren.
Boris Johnson hat in der Brexit‑Frage verant‑
wortungslos gehandelt. Das Atomabkommen
mit dem iran hat er jedoch immer verteidigt. Es
wäre widersinnig, ihn durch unterlassene Hilfe
in Trumps Arme zu treiben. Vielleicht trägt die
Erfahrung europäischer Solidarität sogar dazu
bei, über den Brexit im Gespräch zu bleiben.

SOS, Europa!


Obwohl Boris Johnson den Brexit herbeigelogen hat, sollte die Eu


ihn beim Konflikt mit dem iran nicht im Stich lassen VON JÖRG LAU


http://www.zeit.de/audio

TANKERKRISE IM PERSISCHEN GOLF


  1. JAHRGANG C 7451 C


N


o


31


W


as macht ein wissenschaftliches
Gutachten politisch glaubwür‑
dig? Der umfang der Stellung‑
nahme? ihre Dringlichkeit? Die
Zahl der Autoren? Der Glanz
ihrer Titel? Was sorgt dafür, dass ein Papier nicht
in einer ministeriellen Schublade verschwindet?
Ganz gewiss kein Fall für die Schublade ist
jenes Papier, das die leopoldina, die Nationale
Akademie der Wissenschaften, am Dienstag
zur deutschen Klimapolitik vorgelegt hat. Das
Bemerkenswerte an ihm ist sein Ton: deutlich,
kritisch und ermutigend zugleich.
Forscher sind vorsichtige Menschen, Meister
der Relativierung. Statt Position zu beziehen,
verweisen sie gern auf die Vorläufigkeit und un‑
vollständigkeit ihres Wissens – und bleiben im
ungefähren. Anders die 14 Mitglieder der Ar‑
beitsgruppe zur Klimapolitik: unmissverständ‑
lich prangern sie das zögerliche Handeln, das
Verfehlen der selbst gesteckten Ziele, das Ver‑
sagen der deutschen Politik an. und glasklar
formuliert ist ihre Schlussfolgerung: Ein »un‑
mittelbarer Transformationsschub« müsse her.
Jetzt. Heute. Nicht erst im nächsten Jahr und
schon gar nicht in irgendeiner politisch wo‑
möglich opportuneren Zukunft.

Klimaschutz wird teuer?
Teuer wird vor allem das Nichtstun

Die Wissenschaftler verweisen zu Recht auf
einen schärfer werdenden »Generationen‑
konflikt« um die Frage künftiger lebens‑
bedingungen für Greta & Co. Sie berechnen
mahnend die möglichen Kosten eines business as
usual für Deutschland: Allein für die Nichtein‑
haltung der europäischen Klimaziele betragen sie
62 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030.
Entscheidend aber ist: Statt den drohenden
untergang zu beschwören, werben die Sach‑
verständigen für den Aufbruch. und tatsächlich
muss wirksame Klimapolitik kein Akt von Ver‑
zweiflung und Verzicht sein. Die Politik hat – so
schreiben die Forscher – im Gegenteil die ein‑
malige Chance, viele zu Gewinnern zu machen.
Wer die Gunst des Augenblicks begreifen
will, darf nicht nur das Papier der leopoldina
lesen. Erst vor wenigen Tagen hat der Sachver‑
ständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt‑
schaftlichen Entwicklung sein ökonomisches
urteil zur deutschen Klimapolitik vorgelegt.

Selten zuvor waren Wissenschaft und Ökonomie
so bis ins Detail einer Meinung. Die Gutachter
der leopoldina fordern einen »einheitlichen und
sektorübergreifenden Preis für Treibhausgas‑
emissionen« – bei den Wirtschaftsweisen heißt
der Preis »sektorübergreifend einheitlich«. und
selten stießen ihre Vorschläge – bei allem popu‑
listischen Geraune: Klimasteuer, das wird teuer


  • auf so rasch wachsende gesellschaftliche Akzep‑
    tanz. Teuer, so Forscher und Ökonomen uniso‑
    no, wird vor allem das Nichtstun.
    Darum belassen es die Forscher auch nicht
    dabei, nur den Preis für CO₂ als politisches Steue‑
    rungsinstrument einzusetzen. Die Einnahmen,
    fordern sie, müssen transparent in die Klima‑
    politik reinvestiert werden. Als sozialer Ausgleich
    in Form einer Klima‑Dividende. Als Puffer, um
    die Kosten des Klimaschutzes (etwa die Strom‑
    preise!) abzufedern. Schließlich und zentral aber
    als investitions‑ und innovationsprogramm.
    und wer zahlt? Vor allem die Wohlhabenden.
    Sie haben den nachweislich größeren ökolo‑
    gischen Fußabdruck.
    Gewinnen aber können alle: die Politik, wenn
    sie jetzt die Weichen für den Wandel – in der
    Sprache der Nachhaltigkeitsdebatte: die große
    Transformation – stellt. Damit auch künftige
    Generationen gut leben können und die Politik
    sich selbst ihren Gestaltungsspielraum für die
    Zukunft sichert. Die Wirtschaft profitiert, weil
    sie weiter Wertschöpfung betreiben kann, statt
    beschränkte Ressourcen weiter zu erschöpfen.
    und die nachhaltigeren und besseren infrastruk‑
    turen, etwa für Mobilität und Energieversor‑
    gung, werden allen Menschen nützen.
    Auch für die Wissenschaft ist dieser umbau
    ein Gewinn. ihre ideen werden gefragt sein: für
    die Energiespeicher der Zukunft wie für intelli‑
    gent vernetzte Mobilitätssysteme.
    Es sind, das wird auch aus der Autorenliste
    der leopoldina ersichtlich, nicht nur inge nieure
    oder Materialwissenschaftler, die den in no va‑
    tions pro zess begleiten müssen, sondern auch
    Gesellschaftsforscher, Historiker oder Psycho‑
    logen. Denn der notwendige Wandel macht
    vielen Menschen Angst. Die Politik kann ihn
    aber nur mit den Bürgern organisieren, nicht
    gegen sie.
    Das fängt beim richtigen Ton an. Es ist
    höchste Zeit für ein Aufbruchssignal. Jetzt!


De r We c k r u f


Mit überraschender Schärfe geißeln Forscher der leopoldina die


Versäumnisse der umweltpolitik. Es wurde Zeit VON ANDREAS SENTKER


KLIMA

http://www.zeit.de/audio

Schon vor über 200 Jahren prangerte der


große Entdecker die Zerstörung der landschaft an.


Er ist der Wegbereiter der Ökologie


WISSEN

Der erste


Naturschützer


Alexander von Humboldt


Titelcomposing: DIE ZEIT (verwendete Bilder: Science Photo Library/akg-images (2); Staatsbibliothek zu Berlin/bpk (3); J.P. Anders/Kupferstichkabinett/bpk)
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