Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


11


Aus dem Rahm

DOSSIER


Weit mehr als nur ein


modernes Trendgetränk:


Wie der Rum


Amerika geprägt hat


Seite 15

V


on einem Politiker erwarten
heute viele Menschen, dass er für
etwas steht. Am besten für etwas,
das verlässlich ist, das bestehen
bleibt. Bei diesem Politiker ist das
ganz einfach: Er ist der Politiker
mit Tou rette. Er hat eine Krank-
heit, mit der er sofort auffällt. Egal, wohin er
kommt, er kann dagegen nichts machen. Er sagt
nicht »Du Arschloch«, »Geile Maus«, »Heil Hit-
ler«. Er sagt nichts von dem, was man mit dem
Tourette-Syndrom in Verbindung bringt, einer
neuropsychiatrischen Krankheit, bei der einige
Patienten den Drang haben, obszöne oder anstößi-
ge Wörter auszusprechen.
Die Symptome dieses Politikers sind andere: Er
kneift die Augen zusammen, er streckt die Zunge
raus, er stößt einen Kiekser aus. Sein Kopf schlägt für
einen Moment zur Seite, sein Oberkörper kippt nach
vorn. Wenn er sich mit jemandem unterhält, zuckt
sein Arm immer wieder in Richtung seines Ge-
sprächspartners; manchmal sieht es so aus, als langte
er seinem Gegenüber ins Gesicht. Er hat diese Tics
alle paar Sekunden. Besonders stark sind sie, wenn in
seiner Nähe ein Gegenstand ist, dessen Berührung
eine Folge hat, ein Risiko ist. Sitzt er an einem Tisch
mit Kerze, zuckt seine Hand immer wieder zur Ker-
ze. Sitzt er an einer Steckdose, zur Steckdose. Sitzt er
an einem Notfallhammer, zum Notfallhammer. Es
sind Momente, die ein Politiker lieber nicht erlebt.
Momente des Kontrollverlusts.
Es fühle sich an wie beim Niesen, sagt er. Man
spüre, dass mit dem Körper was passiere, aber man
könne es nicht verhindern.
Er betritt einen Garderobenraum im Bocken-
heimer Depot, einer Spielstätte des Schauspiels
Frankfurt. Neben der Tür steht sein Name: Bijan

Kaffenberger. Er zieht sich ein weißes Hemd an,
einen knallig blauen Anzug, gekürzt auf leichtes
Hochwasser, und weiße Sneaker. Es ist das Outfit,
mit dem er gleich auf die Bühne gehen wird. An
diesem Abend im Frühjahr 2019 ist die General-
probe eines Stücks, in dem Bijan Kaffenberger –
man spricht ihn »Bidschan« aus – in einer Rolle
auftritt, die ihm sehr vertraut ist. Er spielt sich
selbst: den Politiker mit Tou rette.
Das Theaterkollektiv Rimini Protokoll ist be-
kannt für seine inszenierungen, in denen Men-
schen ihre persönliche Geschichte erzählen. Kaf-
fenberger hatte sofort lust mitzumachen, als die
Anfrage kam. Der Text, den er auswendig lernen
musste, ist aus Gesprächen zwischen der Regisseu-
rin und ihm selbst entstanden.
Kaffenberger geht in seiner Garderobe den Text
durch, draußen im Saal beginnt die Probe. Es spie-
len noch zwei andere Tou rette- Kran ke mit. Der
eine stößt immer wieder diese Wörter aus: »Du
Arschloch«, »Geile Maus«, »Heil Hitler«. Der an-
dere wirft den Kopf zur Seite und miaut. Mit all
dem, was sie hier auf der Bühne beabsichtigt und
unbeabsichtigt tun und sagen, sind sie im Theater
die At trak tion. So sagen sie es selbst. Draußen in
der echten Welt ist es anders: Da sind sie vielleicht
ebenfalls eine At trak tion, vor allem aber, auch das
sagen sie selbst, sind sie ein Störfaktor.
Der eine erzählt: Sein Haus stehe in zweiter Reihe,
er arbeite zu Hause. Der andere kommentiert: »Das
ist der Klassiker, du hast dich zurückgezogen, hast
dich verschanzt.« Sie reden über einen Streit mit den
Nachbarn, die sich von »Arschloch«-Rufen so beläs-
tigt fühlen, dass sie juristisch dagegen vorgehen; von
der Qual, als Besucher in einem stillen Theatersaal
zu sitzen; von dem Wunsch, wie eine Fliege an der
Wand zu sein und einfach nur zu beobachten.

Sie reden von der Sehnsucht, endlich mal nicht
im Rampenlicht zu stehen.
und dann: Auftritt Bijan Kaffenberger. Er sagt:
»Meine Bühne ist der Hessische landtag. ich habe
ein Direktmandat und stehe ständig in der Öffent-
lichkeit. Für mich wäre es ein Erfolg, wenn ich mal
’ne Head line über den inhalt meiner Rede bekäme
und nicht über die Tatsache, dass ich zucke, wenn ich
rede.« Er stellt sich an ein Rednerpult, einen Nachbau
des Originals im Hessischen landtag, und erzählt,
dass er dort kürzlich seine erste Rede gehalten habe.
und genau wie im landtag zuckt auch jetzt wieder
Kaffenbergers Hand hoch, kippt sein Kopf in Rich-
tung Pult, einmal, noch einmal und noch einmal.
Aber darüber spricht Kaffenberger in diesem Augen-
blick nicht. Er sagt nur: im landtag sei er nach vorn
gegangen, habe einen Schluck Wasser getrunken, sein
Manuskript in die Hand genommen und mit der
Rede begonnen. Es ging um den Digitalpakt, passend
zu seinem Spezialthema »Digitale infrastruktur und
Digitalisierung«.
Kaffenberger macht im Theater schnell klar: Er
ist keiner, der sich versteckt. Er sagt nicht, dass er
unter dem Tou rette leidet, er sagt, dass es ihm
nützt: »Einen Vorteil hat das Tou rette für mich de-
finitiv: Sie werden mich nicht vergessen. Tou rette
ist mein unique selling point.«
Einen Politiker mit Tou rette gab es hierzulande
noch nicht. Bijan Kaffenberger ist der erste. im ver-
gangenen Jahr hat er bei der hessischen landtagswahl
ein Direktmandat geholt: 28,3 Prozent, das waren
neun Prozentpunkte mehr, als seine Partei, die SPD,
in seinem Wahlkreis Darmstadt ii an Zweitstimmen
bekam. Kaffenberger, am Wahltag 29 Jahre alt, hatte
sich gegen eine eta blier te CDu-Politikerin durch-
gesetzt, eine frühere hessische Kultusministerin, was
wohl auch daran lag, dass er schon während des Wahl-

kampfs zu einem Me dien star geworden war. Er ist es
bis heute. und egal, wer über ihn schreibt, egal, wo
er auftritt, immer ist es Thema: sein Tou rette. Den
»Mann mit dem Tic« nannte ihn die Märkische Oder-
zeitung. Als den »Politiker, der nicht nur bei Wahl-
ergeb nis sen zuckt«, kündigte man ihn im Fernsehen
an. Auch dieses Dossier würde es nicht geben, hätte
er kein Tou rette.
in einer Zeit, in der die Politiker unter Dauer-
beobachtung stehen, ist das Verhältnis von Politik
und Krankheit zweideutig. Ein kranker Politiker kann
sich nicht mehr verstecken. Wird die Kanzlerin plötz-
lich von einem Zittern überfallen, zoomen sofort die
Kameras an sie heran, und im selben Moment be-
ginnt eine Dis kus sion im land darüber, ob sie noch
geeignet für ihr Amt sei. Aber eine Krankheit, ein
Kontrollverlust, der das imperfekte zum Vorschein
bringt, macht auch menschlich, nahbar. Der thürin-
gische CDu-Spitzenkandidat Mike Mohring geht
offensiv mit seiner Krebskrankheit um. Seitdem er
eine Mütze trug, weil er durch die Chemotherapie
seine Haare verloren hatte, wurde er bundesweit
bekannt. Auch dem landtagsabgeordneten Kaffen-
berger hilft seine Tou rette-Krankheit, Aufmerksam-
keit zu bekommen. Die Öffentlichkeit verbindet
Kaffenberger mit dem Tourette-Syndrom, so wie sie
Claudia Roth mit bunten Klamotten verbindet und
Angela Merkel mit Blazer und Raute.
Seit seiner Wahl zum Abgeordneten bekommt
Kaffenberger Visitenkarten zugesteckt, auf denen
steht: Behindertenbeauftragte. Er bekommt Mails
wie die eines Autisten: »Sie sollen/Du sollst wissen,
dass Sie mich inspirieren/du mich inspirierst.«
im Mai besuchte er eine Schulklasse und erzählte
von seiner Krankheit. Dass die Tics das erste Mal im
Alter von sechs Jahren auftraten. Dass seine Familie
besorgter war als er selbst, vor allem als noch unklar

war, was die Zuckungen bedeuteten. Dass es sie be-
ruhigte, als es endlich eine Dia gno se gab: kein Hirn-
tumor. Dass er früher Medikamente nahm, Ritalin
wegen ADHS und Neuroleptika wegen des Tou rette,
und als Jugendlicher entschied, sie abzusetzen. Die
Schüler fragten, ob er in der Schule Probleme hatte.
»Da haben auch andere ihr Fett weggekriegt, weil sie
vielleicht eine komische Frisur hatten oder hässliche
Schuhe.« Ob er das Tou rette gerne loswerden würde,
wenn er könnte? »ich bin zufrieden mit mir. ich weiß
ja gar nicht, wie es ohne Tou rette ist, vielleicht ist es
ja ohne viel schlimmer.«
Er übernimmt einen Auftritt wie den im Theater
und den an der Schule, wenn er gefragt wird. Trotz-
dem sagt er: »ich bin nicht das Aushängeschild der
Tou rette- Bewe gung.« Wenn man mit ihm über seine
Krankheit reden will, werden die Antworten schnell
knapp. Nach einer Weile beginnt er sich zu zieren:
»ich mag das einfach nicht. Das sind nicht so meine
Gespräche.« Als er angefragt wurde, ein Buch über
sein Tou rette zu schreiben, lehnte er ab. Zwei, drei
Kapitel habe er ausprobiert und dann beschlossen:
»Mit dem Scheiß kriegst du keine 200 Seiten voll.«
Beim ersten Treffen mit der ZEIT Anfang Ja-
nuar berichtete Kaffenberger schnell, dass bald –
unabhängig von diesem Dossier – auf ZEIT ON-
LINE ein Gastbeitrag von ihm erscheinen werde,
über den Breitband-Ausbau. Sein Thema ist nicht
das Tou rette oder die lage von Menschen mit Be-
hinderung, seine Themen sind Wohnen, Bildung,
Mobilität und vor allem Digitalisierung. Er setzt
sich ein für flächendeckende Glasfasernetze, eine
lückenlose Mobilfunk-Versorgung. Er will, dass
Hessen Vorreiter beim schnellen internet 5G wird.
Man muss sich das bei ihm vorstellen wie bei
Menschen mit Mi gra tions hin ter grund: Er wird
immer auf diese eine Sache angesprochen und oft

Kaffenberger wurde
mit 28,3 Prozent
direkt gewählt –
damit war er um neun
Prozentpunkte
erfolgreicher als
seine Partei

Aus dem Rah en

Alle paar Sekunden erlebt


der hessische


landtagsabgeordnete


Bijan Kaffenberger, was


Politiker eigentlich


niemals erleben wollen:


Einen Kontrollverlust.


Kaffenberger leidet am


Tourette-Syndrom.


Trotzdem ist er viel


erfolgreicher als seine


Partei, die SPD. Was kann


sie von ihm lernen?


VON SONJA HARTWIG
FOTOS: KATRIN BINNER

Fortsetzung auf S. 12

Foto: Interfoto (o.r.)

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