Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

15 25. Juli 2019 DIE ZEIT No^31


I


ch war an Orten«, erzählt Bill Bones,
»da war’s so heiß wie in der Hölle.
und die Kameraden um mich herum
starben wie die Fliegen [...]. und ich
blieb am leben, sag’ ich dir, und das
machte der Rum. Der Rum war Essen
und Trinken für mich, und wir waren
wie Mann und Frau.«
So beginnt das dritte Kapitel von
Robert louis Stevensons Schatz insel,
und noch bevor es zu Ende geht, ist Bones, der alte
Seeräuber, tot. Schlag anfall. und der leser begreift:
Auch das machte der Rum. Denn Rum – »kill- devil«
hieß die Spirituose, bevor sich ihr heutiger Name
durchsetzte – ist lebenselixier und Seelentröster in
solchen Geschichten, zugleich aber auch: Nervengift
und Ruin.
Heute bringt Rum neues leben in angestaubte
Cocktailbars. Auf den Getränkekarten haben Hava-
na Club, Zacapa und Co. manchen Malt-Whisky
oder Gin ersetzt. Rum, sagen Barkeeper gern, das sei
das neue Trendgetränk.
Für Historiker aber ist Rum »Geschichte in Fla-
schen«. Vor allem die Geschichte der Neuen Welt:
Rum machte Siedler reich und ureinwohner gefügig,
Rum soffen die Freibeuter und die West indien- Fah rer.
und: um Rum und seinen wichtigsten Rohstoff ging
es beim ersten europäisch-amerikanischen Handels-
krieg, der dramatische Folgen haben sollte.
»ich weiß nicht«, schrieb John Adams, der zweite
Präsident der Vereinigten Staaten, im Jahr 1818 an
William Tudor sen., »warum wir uns schämen sollten,
zuzugeben, dass Melasse eine unverzichtbare Zutat
der amerikanischen unabhängigkeit war. Viele große
Ereignisse hatten sehr viel banalere ursachen.«
Rum nämlich wird aus Melasse erzeugt. Melasse
entsteht bei der Verarbeitung von Zuckerrohr. und
Zuckerrohr ist die Pflanze, deren Kultivierung, Mi-
gra tion, Anbau und Nutzung das leben der Mensch-
heit verändert hat wie kaum eine andere.
Das Zuckerrohr, ursprünglich wohl aus dem pazi-
fischen Raum, verbreitete sich vor 8000 Jahren über
indien und Persien. Mit der Ex pan sion der Araber
gelangte es später in die fruchtbareren Regionen
Nordafrikas, auf die inseln des süd lichen Mittelmeers
und in den Süden der iberischen Halb insel. Später
brachten die Spanier es auf die Kanaren, die Portu-
giesen auf die Azoren und nach Madeira.
und dort, genauer: auf Porto Santo, lernte Chris-
toph Kolumbus, wie viel Geld sich mit Zucker ver-
dienen ließ. Verheiratet mit der Tochter des insel-
gouverneurs, exportierte er das kostbare Produkt
unter anderem in seine Heimat Genua. Nur logisch
also, dass er schon auf seiner zweiten Reise über den
Atlantik im Jahr 1493 Zuckerrohrstecklinge auf die
insel Hispaniola brachte.
Er konnte nicht ahnen, was er damit an richtete.
Weil das Zuckerrohr so prächtig gedieh im tropi-
schen Klima, rodeten die Eroberer ganze inseln und
weite Regionen Mittel- und Südamerikas für ihre
Monokulturen. Weil sich die ureinwohner partout
nicht versklaven lassen wollten für die Arbeit auf den
Zuckerrohrplantagen (und weil sie den Eroberern
auch sonst im Wege waren), wurden sie zu Millionen
ermordet. und weil der Anbau von Zuckerrohr und
seine Verarbeitung so arbeitsintensiv und mörderisch
hart waren, holte man Sklaven aus Afrika, die auf den
Plantagen und in Raffinerien schuften mussten.
Seinen Produzenten aber bescherte Zucker zu
allen Zeiten einen sagenhaften Reichtum. Besonders
als man entdeckte, wie man auch noch ein lästiges
Abfallprodukt der Zu cker herstellung zu Geld ma-
chen konnte, ein zähflüssiges, klebriges, unangenehm
riechendes schwarzes Zeug: die Melasse.
Bis zu drei Zentner Melasse bleiben übrig, wenn
vier Zentner Zucker aus dem Zuckerrohrsaft raffiniert
werden, und bis weit ins 17. Jahrhundert konnte man
nicht viel mehr mit der Brühe anfangen, als sie ins
Meer zu kippen. Wer wann wo entdeckte, dass man
aus dieser Melasse, wenn sie nur genügend lang ge-
goren hatte, ein hochprozentiges alkoholisches Getränk
destillieren konnte, ist bis heute nicht klar. Waren es
die Spanier auf Hispaniola? Die Portugiesen in Brasi-
lien? Die Franzosen auf einer ihrer Ka ri bik inseln?
Klar ist, dass die Erzeugung von Spirituosen eine
relativ junge Kunst ist. Bier gibt es seit rund 12.
Jahren, Wein seit fast 8000. Aber erst vor rund 1200
Jahren experimentierten arabische Wissenschaftler
erstmals mit der Des til la tion von Wein. Für lange
Zeit sollte dieser Branntwein das einzige bekannte
hochprozentige alkoholische Getränk bleiben.
um die Mitte des 17. Jahrhunderts gab es dann
plötzlich Rum – in den Humpen von Seeleuten, wenn
sie an den Küsten der Neuen Welt entlangfuhren, und
in Berichten von einer insel, die in kürzester Zeit zum
Zentrum des Zuckerbooms geworden war: Barbados.
Gut hundert Jahre zuvor hatten Spanier und
Portugiesen die Bewohner der insel verschleppt oder
vertrieben, hatten bald das interesse an dem entvöl-
kerten Eiland verloren und es 1627 ohne großen

Widerstand den Engländern überlassen. Die hatten
ihr Glück zuerst mit Tabak, Baumwolle und indigo
versucht, aber erst als sie sich um 1640 ganz dem
Zuckerrohr verschrieben, machten sie Barbados in
kürzester Zeit zur reichsten Kolonie des britischen
Em pire. 1627 waren achtzig Siedler von Bord der
Olive Blossom gegangen, dreizehn Jahre später lebten
schon 75.000 Menschen auf Barbados. unter ihnen:
Richard ligon, Royalist.
1647 war ligon vor den Wirren des Englischen
Bürgerkriegs – und wohl auch vor seinen Gläubigern


  • nach Barbados geflohen. in seiner True & Exact
    History of the Island of Barbados berichtet er 1657, »wie
    wir aus den Überresten aus den Kupferkesseln das
    starke Getränk destillieren, das die Pflanzer kill-devil
    nennen«. Es sei »unendlich stark«, schreibt er, »aber
    nicht sehr angenehm im Geschmack [...]. Die leute
    trinken viel davon; tatsächlich zu viel, denn oft wirft
    es sie um, und sie schlafen auf dem Boden, was be-
    kanntermaßen ungemütlich ist.« Pro-Kopf-Verbrauch
    an Rum auf Barbados damals: um die zehn Gallonen
    pro Jahr, 45,5 liter – oder ein Achtelliter täglich.
    Es gab aber auch unbesorgte Autoren wie den
    walisischen Reve rend Griffith Hughes, der in seiner
    Natural History of Barbados die verheerenden Folgen
    der tropischen Hitze auf das menschliche Blut schil-
    dert. Nur »der tägliche Gebrauch einer großen Men-
    ge an Verdünnern jeder Art«, schreibt er, könne das
    Blut flüssig genug und den Menschen gesund erhalten.
    und Rumpunsch sei ein hervorragender Verdünner.
    Ob sich der Reverend für solche Behauptungen
    bezahlen ließ, vielleicht sogar mit Rum? Ein ande-
    rer Fall aus dem 18. Jahrhundert legt jedenfalls den
    Verdacht nahe, die Rum-lobby habe schon damals
    mit paid content operiert, mit bezahlter Wahrheit:


1767 ließ die Gesellschaft der West indi schen Händ-
ler 3000 Exemplare einer Broschüre verteilen mit dem
Titel Ein Essay über Spirituosen und ihre Wirkung auf
die Gesundheit unter besonderer Berücksichtigung eines
Vergleichs der Bekömmlichkeit von Rum und Wein-
brand. Wenig überraschendes Ergebnis: Rum war
bekömmlicher.
Die Zuckerbarone selbst kümmerte das alles
wenig. Die meisten von ihnen lebten fern von Hitze
und tropischen Krankheiten, in England. Auf den
Plantagen ließen sie sich von Verwaltern vertreten,
sie selbst genossen das leben bei Hof und ihren Ein-
fluss im Parlament.
Diesem Einfluss hatten es Generationen von
britischen Matrosen zu verdanken, dass sie an Bord
regelmäßig mit Rum versorgt wurden (eine Praxis,
die erst 1970 endete). Doch auch das Melasse-Gesetz
vom März 1733 kam durch den Druck der karibi-
schen Rum-und-Zucker-lobby zustande. und dieses
»Gesetz zum besseren Schutz und zur Stärkung des
Handels der Zuckerkolonien Seiner Majestät in Ame-
rika«, der Molasses Act, sollte zur ersten jener »bana-
len ursachen« für die amerikanische unabhängigkeit
werden, von denen John Adams schreibt.
Die »Zuckerkolonien Seiner Majestät« nämlich
hatten ein Problem: Sie waren so auf Zuckerrohr kon-
zentriert, dass sie fast alle anderen Waren importieren
mussten – Holz zum Bauen und zum Fassmachen,
Getreide, Stockfisch, Pökelfleisch, Gemüse. Zum
Glück gab es das alles im Norden der Neuen Welt – in
»Neuengland«. Die englischen landsleute, die sich
seit 1620 dort angesiedelt hatten, Puritaner, waren
zwar religiös ein bisschen eigen. Aber sie wussten Zu-
cker und Rum als Zahlungsmittel durchaus zu schät-
zen. Auch alkoholische Getränke, sagten sie, seien

schließlich eine Gabe Gottes. Eine Zeit lang funk-
tionierte dieser Nord-Süd-Handel bestens.
Zwar begannen die nordamerikanischen Siedler
bald, immer weniger Rum zu kaufen und immer mehr
Melasse, um selbst Rum zu brennen. Schon 1684 gab
es eine Destillerie in Pro vi dence, Rhode island, und
1688 importierte Massachusetts innerhalb von sechs
Monaten 156.000 Gallonen Melasse. Den Zucker-
baronen war es auch recht: Noch konnte eine Planta-
ge allein mit den Erlösen aus Rum und Melasse ihre
Ausgaben decken; der Export von Zucker war reiner
Gewinn. und der Rum aus West indien hatte einen
exzellenten Ruf. Den billigen Fusel aus Boston tranken
die Hungerleider im Norden, wenn sie sich nichts
anderes leisten konnten. Sie machten die indianer
damit besoffen, wenn sie ihnen Pelze abhandelten.
und sie schickten Schiffe voller minderwertigen Rums
nach Westafrika, um für Sklaven zu bezahlen (»
Gallonen für einen erwachsenen Sklaven, 48 Gallonen
für ein Mädchen, 52 Gallonen für einen Jungen«).
Als die Schiffe aus Neuengland aber immer öfter
vorbeisegelten an den britischen Zuckerinseln und
stattdessen Haiti anliefen, Guade loupe, Grenada oder
Mar ti nique, da wurden die Zuckerbarone dann doch
nervös. Sie wussten: Die Franzosen bauten neuerdings
auch Zuckerrohr an auf ihren Karibikinseln, brann-
ten aber selbst keinen Rum. Das hatte ihr Mutterland
zu verhindern gewusst, im interesse des französischen
Weinbrands. Französische Melasse also war wesent-
lich preiswerter zu haben für die nordamerikanischen
Rumbrenner. Bei Abholung gratis, sozusagen.
im Jahr 1716 kamen nur noch 72.000 Gallonen
britischer Melasse im Hafen von Boston an, während
gleichzeitig immer mehr Rum destilliert wurde. Es
musste etwas geschehen.

Am liebsten hätten es die Zuckerbarone gesehen,
wenn london den nordamerikanischen Siedlern
jeden Handel mit den französischen Karibikinseln
untersagt hätte. Doch mit dieser idee konnten sich
die Vertreter der Zuckerkolonien im Parlament nicht
durchsetzen. Der Kompromiss war das Melasse-
Gesetz: Für jede Gallone nichtbritischer Melasse
sollten die nordamerikanischen Kolonien einen im-
portzoll von sechs Pence bezahlen. Das waren immer-
hin hundert Prozent des gängigen Warenwerts.
Der kanadische Autor Wayne Curtis nennt das
Melasse-Gesetz von 1733 das »fifty- five- miles per hour
speed limit of the era«: die Tempo-30-Zone ihrer Zeit.
Denn die nordamerikanischen Händler und Rum-
brenner beschlossen einfach, es zu ignorieren. Zu
schmuggeln, was das Zeug hielt, und notfalls die Zoll-
beamten zu bestechen.
Offiziell importierte Neuengland zwischen 1733
und 1763 lächerliche 500.000 Gallonen nicht-
britischer Melasse, während gleichzeitig die Rum -
produk tion boomte: 1738 gab es allein in Boston acht
Rum destillerien, 1750 schon 63 und 1763 in ganz
Neuengland 159.
im selben Jahr aber hatte Großbritannien gerade
den Siebenjährigen Krieg hinter sich, den allerersten
Weltkrieg der Geschichte. und war pleite: George
Gren ville, der Premierminister und Schatzkanzler,
suchte verzweifelt nach neuen Einnahmequellen.
Als er im September 1763 einen Bericht der
Obersten Zoll kom mis sion über das schmähliche Ver-
sagen des Melasse-Gesetzes in die Hand bekam, da
wusste er, wer mithelfen würde, die Staatsfinanzen zu
sanieren: die nordamerikanischen Kolonien. Schließ-
lich war der Krieg auch in ihrem interesse geführt
worden. Gren ville brachte den Sugar Act auf den
Weg, das Zucker-Gesetz, das 1764 in Kraft trat. Jetzt
ging es nicht mehr um eine Regulierung des Handels,
sondern ganz unverblümt um neue Einnahmen für
die Krone. Zwar halbierte sich der importzoll für
Melasse, gleichzeitig aber sollten die Bewohner von
British America jetzt exorbitante Zölle auf Kaffee und
indigo, Zucker und Piment, Seide, Wein und ande-
re Güter bezahlen. und Schmuggler würden keine
Chance mehr haben. Die Zollverwaltung wurde
reformiert, neue Gerichte installiert, sogar die Ro yal
Navy musste künftig Schmuggler jagen.
Die Politiker und Wirtschaftsfunktionäre Neu-
englands protestierten, drohten mit dem Zusammen-
bruch des Handels mit dem Mutterland, wenn die
Kolonien verarmten. »No taxation without represen-
tation!« war ihr Schlachtruf, »Keine Besteuerung ohne
Vertretung!«, denn anders als die westindischen
Zuckerbarone hatten sie keine lobby in london.
Doch das Mutterland blieb hart. Nach kleineren
Korrekturen am Zucker-Gesetz verhängte es 1765
das Stempelsteuer-Gesetz, mit dem offizielle Schrift-
stücke und Dokumente besteuert wurden. Das wur-
de zwar ein Jahr später wegen noch heftigerer Protes-
te wieder kassiert. Doch 1767 kamen stattdessen mit
den Towns hend Acts importzölle auf Tee, Farben,
lack, Papier, Glas und leder. 1773 folgte dann der
Tea Act, das Gesetz, das den Schmuggel niederlän-
dischen Tees nach Neuengland unterbinden und den
Teeproduzenten in Britisch-Ostindien helfen sollte.
Es wurde bekanntlich zur initialzündung für den
Amerikanischen unabhängigkeitskrieg.
Der Protest aber, die unzufriedenheit, der Wider-
wille gegen die Ausbeuter auf der anderen Seite des
Atlantiks, sie hatten sich in all den Jahren in den
Tavernen entwickelt, die sich in Neuengland noch
schneller vermehrt hatten als die Destillerien. Hier
saß man zusammen, debattierte, ereiferte sich, spülte
den Ärger mit reichlich Rum hinunter. und organi-
sierte den Widerstand.
An die neunzig lizenzierte Tavernen gab es 1769
in Boston. Rund zwanzig der lizenznehmer waren
Mitglieder der Rebellengruppe »Söhne der Freiheit«.
Genauso wie etwa jeder zweite Rumproduzent. Die
hatten ja auch am meisten zu verlieren durch die
britischen Steuer ge set ze.
Als schließlich am 16. Dezember 1773 als in-
dianer verkleidete Bos to ner den Hafen stürmten und
drei Schiffsladungen Tee aus Ostindien über Bord
warfen, da wusste man zumindest in den Kneipen
genau: Hinter der Boston Tea Party standen die
»Söhne der Freiheit«.
und auch das hatte der Rum gemacht.

Piraten im Rumrausch auf einem Druck von 1844

Auch das machte


der Rum


Weit mehr als nur ein modernes Trendgetränk: Der Rum hat wie keine andere Spirituose Geschichte


geschrieben – und der Neuen Welt ihre heutige Gestalt gegeben VON WOLFGANG LECHNER


I


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Abb. [M]: Druck aus Charles Ellm's »The Pirates Own Book« (1844)/National Maritime Museum, London/Interfoto
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