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- Juli 2019 DIE ZEIT No 31
Von wegen deutsche Gründlichkeit
Bei einem Bergwerksunglück starben in Brasilien Anfang des Jahres 248 Menschen. Eine Staatsanwältin ermittelt nun gegen TÜV Süd VON MARIA DA LUZ MIRANDA
E
s sind knapp 50 Kilometer von der
Ortschaft Brumadinho bis nach
Belo Horizonte, der Hauptstadt
des Bundesstaats Minas Gerais.
Rund anderthalb Stunden braucht
man mit dem Auto für die kurze
Distanz im Südosten Brasiliens.
und irgendwo auf der Strecke zwischen der
Hauptstadt und der Siedlung verläuft eine unsicht-
bare Grenze: zwischen der Welt des brasilianischen
Bergbaus mit ihren ganz eigenen Gesetzen – und
der des brasilianischen Rechtsstaats. Der wird in
einem zwölfstöckigen Betonbau in Belo Horizonte
von Andressa de Oliveira lanchotti vertreten. Sie
ist Staatsanwältin und seit 20 Jahren auf umwelt-
verbrechen spezialisiert.
Seit Januar hat sie es mit einem besonders
schweren Fall zu tun, bei dem es auch um die Red-
lichkeit des Zertifizierungsunternehmens TÜV
Süd aus München geht. Am 25. Januar dieses Jah-
res brach der Damm eines Abwasserbeckens voll
giftiger Bergbaurückstände nahe dem 40.000-Ein-
wohner-Ort Brumadinho. Zwölf Millionen Ku-
bikmeter Schlamm schossen mit bis zu 120 Stun-
denkilometern ins Tal. Mindestens 248 Menschen
starben. Die Staatsanwältin ermittelt gegen Mitar-
beiter des Minenbetreibers Vale, und sie unter-
sucht die Rolle von TÜV Süd.
lanchotti führt durch die zehnte Etage des Ge-
bäudes der Staatsanwaltschaft, vorbei an Bürotüren,
hinter denen rund zwanzig Ermittler seit sechs
Monaten Beweismaterial sichten: Akten, Tonaufzeich-
nungen, beschlagnahmte Messinstrumente, Aussage-
protokolle. »Es geht sowohl um geschädigte Einzel-
personen als auch um Schäden an einer ganzen
Region«, sagt die Mittvierzigerin.
Vale ist einer der größten Bergbaukonzerne der
Welt. Er fördert Eisenerz, Nickel, Gold, Silber, Koh-
le und Bauxit. im Jahr 2018 machte der Konzern
rund 36,6 Milliarden Dollar umsatz. Entsprechend
groß ist sein politischer Einfluss.
TÜV Süd beurteilt als Dienstleister industrie-
anlagen, Kraftwerke, Seilbahnen weltweit. im Auf-
trag der Kunden werden etwa Sicherheitsgutach-
ten erstellt. in Brasilien hat TÜV Süd für Vale den
Damm von Brumadinho beurteilt. Die Aktienge-
sellschaft lebt von ihrem tadellosen Ruf, entspre-
chend heikel sind die Vorgänge in Brasilien.
Nur wenige Tage nach der Katastrophe von
Brumadinho wurden die TÜV-Mitarbeiter Mako-
to N. und André Y. festgenommen. Die beiden
hatten im Jahr 2018 in einem Gutachten bestätigt,
dass der Damm bei Brumadinho stabil sei. in einer
ersten Vernehmung durch die Polizei erklärte der
ingenieur N., dies unter Druck getan zu haben –
Druck von dem Auftraggeber Vale. Das geht aus
Ermittlungsakten hervor, die der ZEIT vorliegen.
Eine Woche später wurden beide Männer wieder
freigelassen, aber nur vorläufig.
Das war nur ein Anfang, ein kleines indiz. in
Brasilien war die Vernehmung der TÜV-ingenieure
der Auftakt für eine Serie von untersuchungen durch
Polizei, Staatsanwaltschaft, Parlament und Privat-
ermittler – und heute, sechs Monate nach der Kata-
strophe, zeichnet sich ein verheerendes Bild von den
Zuständen bei TÜV Süd, bei Vale und der brasilia-
nischen Bergbaubranche ab.
insbesondere in Bezug auf TÜV Süd stellt sich
- wenngleich noch kein abschließendes urteil gegen
das unternehmen oder seine Mitarbeiter ergangen
ist – die Frage: Wie konnte es passieren, dass sich
dieses unternehmen ins Geschäft der Zertifikation
von Minenschlamm-Dämmen begab,
das für Korruption und Fahrlässigkeit
im land bekannt ist?
im Jahr 2012 stieg TÜV Süd in
den brasilianischen Markt ein. Die
Münchner kauften dort zwei Zertifi-
kationsunternehmen: erst ein labor
für Produktanalysen, ein Jahr später
ein weiteres unternehmen für Bera-
tung und Zertifikation im Bergbau-
und infrastrukturgeschäft. Ein weite-
rer Arm von TÜV Süd in Brasilien
beschäftigt sich mit der Sicherheit von
industrieanlagen. Zusammen haben
die Firmen 320 Mitarbeiter, die Zen-
trale ist in São Paulo.
Es hatte wohl damit zu tun, dass
Brasilien zu Beginn des Jahrzehnts ein
Wachstumswunder erlebte und als
vielversprechender Riesenmarkt und
industriestandort galt. Keine schlech-
te Wette, denn obwohl die Wirtschaft
inzwischen eingebrochen ist, blieb der
Bergbausektor außergewöhnlich lu-
krativ: im vergangenen Jahr exportier-
te das land Mineralien im Wert von 239,5 Milliarden
uS-Dollar, es war wieder ein neuer Rekord seit 2013.
Doch der Bergbau in Brasilien hat eine dunkle
Seite: Große Teile der Branche werden höchstens lü-
ckenhaft durch die Behörden beaufsichtigt, und die
möglichen Risiken für das leben der Arbeiter, die
umwelt und die Reputation aller beteiligten unter-
nehmen sind enorm.
Einer, der die Zustände in der Branche gut kennt,
ist der frühere Chef der umweltschutzbehörde in
Minas Gerais, ein Mann namens Julio Cesar Dutra
Grillo. im Dezember 2018, einen Monat vor dem
Desaster, hatte er in einer Versammlung von An-
wohnen und Behördenvertretern vor Problemen bei
genau jenem Damm gewarnt. Grillo wurde von der
2019 angetretenen neuen Regierung entlassen. Heu-
te sagt er: Mindestens 300 Dämme in Minas Gerais
seien »nicht sicher«. »Die Entscheidung, ob sie trotz-
dem weiter betrieben werden, liegt in Wahrheit in
der Hand der Bergbauunternehmen, die über ihre
Projekte selber bestimmen.«
Die unterlagen der Staatsanwältin lanchotti legen
nahe: Genau deswegen kam TÜV Süd, jenes unter-
nehmen mit der guten Reputation aus Deutschland,
ins Spiel. um einen Damm in Betrieb halten zu
können, müssen die Bergbauunternehmen das Zer-
tifikat eines unabhängigen Gutachters vorlegen. Der
geschasste umweltbeamte Grillo sagt: Dabei ent-
stehe eine »natürliche Auslese« unter den Anbietern.
Wenn ein Gutachter kein Okay geben wolle, wende
sich der Betreiber eben an den nächsten.
und tatsächlich hatte ein anderer Dienstleister im
Jahr 2018 die Zertifikation des fraglichen Damms
verweigert. Das sagte ein ingenieur dieses unter-
nehmens bei der Polizei und vor ei-
nem untersuchungsausschuss aus.
TÜV Süd aber machte mit. inzwi-
schen gehen die Staatsanwälte von
einer ungeheuerlichkeit aus: dass
TÜV Süd die Sicherheitsrisiken schon
bekannt gewesen seien, als seine leu-
te das »Okay« für den Damm von
Brumadinho unterschrieben. Es habe
eine Vereinbarung zwischen Vertre-
tern von Vale und TÜV Süd gegeben,
um die wahre Situation »zu vertu-
schen«, so die Staatsanwältin. TÜV
Süd äußerte sich auf Anfrage nicht zu
diesem Vorwurf.
Die Ermittler wollen darüber
hinaus Anhaltspunkte dafür ent-
deckt haben, dass TÜV-Süd-Mitar-
beiter sich sorgten, ihren wichtigen
Kunden Vale zu vergrätzen. Der
Gesamtumfang der Verträge zwi-
schen Vale und TÜV Süd über die
Beurteilung von Dämmen habe
zwei Millionen Euro betragen, so
lanchotti. Die Staatsanwältin drückt
es so aus: »Die vielen Beweise belegen, dass das
unternehmen die Ergebnisse verdreht hat, damit
die Situation für seinen Auftraggeber besser aus-
sah, als sie war.«
Die ZEIT hat sowohl Vale als auch TÜV Süd in
Brasilien bei jedem neuen Vorwurf, jeder neuen
Wendung dieser Geschichte kontaktiert. Vale ver-
weist auf eine Website des unternehmens mit
schriftlichen Erklärungen über freiwillige Repara-
turleistungen, die der Konzern in der umgebung
von Brumadinho schon durchgeführt habe, die
Firma will das aber nicht als Schuldeingeständnis
werten. Der Konzern »bedauert« den Vorfall. Bei
TÜV Süd lautete jedes Mal die Antwort: Man er-
teile keine Auskunft über das laufende Verfahren,
führe aber eine interne untersuchung durch und
kooperiere vollständig mit den Behörden.
Die Aufklärung durch die Behörden fällt
schwer: Bei öffentlichen Anhörungen im Parla-
ment des Bundesstaats Minas Gerais und in der
brasilianischen Hauptstadt Brasília beharrten die
beiden beschuldigten Mitarbeiter von TÜV Süd
auf einem Schweigerecht.
Gegen Mitarbeiter von TÜV Süd hat die Staats-
anwaltschaft in Belo Horizonte bereits in einem
Punkt Anklage erhoben – wegen eines möglichen
Verstoßes gegen die Antikorruptionsgesetze. »Es ist
klar, dass das Gutachtersystem in Brasilien nicht gut
genug funktioniert und dass diese unternehmen
sogar Tragödien riskieren«, sagt die Staatsanwältin
lanchotti. Doch jetzt will sie schwerwiegendere
Beweise zusammentragen und herausfinden, wer den
Tod von mehr als 248 Menschen zu verantworten hat
und dafür auch strafrechtlich zur Verwantwortung
gezogen werden soll. Bis zu einer Anklage in dieser
Sache würden aber noch Monate vergehen, sagt sie.
Das bedeutet, dass die juristische Auseinander-
setzung für TÜV Süd und Vale gerade erst begon-
nen hat: Es gibt nicht den einen großen Prozess,
sondern eine ganze Serie.
Bislang ist ein urteil in der Sache ergangen,
gegen Vale. Vor wenigen Tagen entschied ein Ge-
richt in Minas Gerais, dass Vale bestimmte Schä-
den an der umwelt und für die örtliche Wirtschaft
in der umgebung von Brumadinho bezahlen müs-
se. Es ließ zu diesem Zweck umgerechnet rund 2,
Milliarden Euro von den unternehmenskonten
beschlagnahmen. Damit ist ein Anfang gemacht.
Bereits im Mai hatte Vale TÜV Süd verklagt.
Der Bergbaukonzern will die Deutschen mit zur
Verantwortung ziehen. Das Argument: Man habe
ein unabhängiges Zertifikationsunternehmen von
weltweit gutem Ruf verpflichtet und habe eine
ernsthafte, technisch verantwortungsbewusste und
unabhängige Dienstleistung erwartet. Die Münch-
ner hätten, so Vale, ihren eigenen Ethik-Kodex
und die vertraglichen Pflichten verletzt.
Ebenfalls im Mai urteilte eine Richterin in einer
vorläufigen Eilentscheidung, dass TÜV Süd keine
Prüfungen von Dämmen mehr durchführen dürfe.
Außerdem beschlagnahmte sie umgerechnet rund 14
Millionen Euro von den TÜV-Konten für eventuel-
le künftige Straf- und Entschädigungszahlungen.
Auch vor dem brasilianischen Senat mussten sich
Vale und TÜV verantworten. im Rahmen eines
untersuchungsausschusses befragten die Senatoren
an 120 Sitzungstagen Zeugen, sie studierten die Po-
lizeiberichte und die Analysen der Staatsanwaltschaft,
die mehr als 15.000 Seiten umfassen. im Juli forder-
ten die Parlamentarier, 14 Personen anzuklagen,
darunter auch Makoto N. und André Y. von TÜV
Süd. und zwar wegen »Totschlags mit bedingtem
Vorsatz«. Außerdem forderten sie Anklage gegen Ver-
antwortliche in beiden unternehmen wegen umwelt-
verbrechen.
Auch in Deutschland könnte der Fall für TÜV
Süd Folgen haben. Die britische SPG law, eine
Anwaltskanzlei, die schon früher bei Großunglü-
cken in Brasilien tätig geworden war, will den Fall
gemeinsam mit brasilianischen und deutschen
Partneranwälten vorantreiben. Man strebe eine
außergerichtliche Einigung an, erklärt die Kanzlei.
Doch falls Ende Juli keine Einigkeit erzielt werden
könne, wolle man vor deutsche Gerichte ziehen.
Man vertrete mehr als 130 betroffene Familien.
Schon im Jahr 2015 hatte es 120 Kilometer
südöstlich von Brumadinho ein ähnliches um-
weltdesaster gegeben. Damals brach ein Damm,
giftiger Minenschlamm kontaminierte den großen
Fluss Rio Doce und floss am Ende bis ins Meer.
Auch an dieser Katastrophe war der Bergbaukon-
zern Vale beteiligt, gemeinsam mit der britisch-
australischen BHP Billiton. Bis heute wurde kein
Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen, kein
Opfer wurde direkt entschädigt. Seit Ende 2018
gab es keine Termine mehr im Strafprozess gegen
die unternehmensverantwortlichen in dieser An-
gelegenheit, und weitere sind bei Gericht nicht
vorgesehen. Der Fall ist einfach eingeschlafen.
Deshalb fürchten die betroffenen Familien von
Brumadinho, es könnte ihnen dasselbe widerfah-
ren. Das will die Staatsanwältin lanchotti mit aller
Macht verhindern. Sie will, dass die Betroffenen
das Vertrauen in die Justiz nicht verlieren. »Dies-
mal soll es schneller gehen«, sagt sie. Dazu gehört
für sie, dass dieser Fall anständig zu Ende gebracht
wird und dass geklärt wird, welche Verantwortung
der mächtige Bergbaukonzern Vale hat – und wel-
che Schuld TÜV Süd trifft.
Mitarbeit und Übersetzung: Thomas Fischermann
20 WIRTSCHAFT
Ein Bild der Zerstörung zeigt sich nach der Katastrophe von Brumadinho Ende Januar dieses Jahres
BRASILIEN
Brasília
Rio de
Janeiro
Belo Horizonte
239,
Dollar betrug der Wert
der Mineralien-Exporte
aus Brasilien in 2018
Milliarden
Foto: Fotoarena/ddp [M]
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