Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31 WISSEN 29


versuchen ebenfalls, die beiden Sphären zu ver-
binden. in Berlin gestalteten Sie unlängst mit dem
Schauspieler David Bennent eine lesung, er trug
aus Humboldts Tagebüchern vor, Sie verwoben
dies mit ihren eigenen Expeditionserfahrungen.
Boetius: David Bennent ist ein toller Rezitator, er
liest Humboldt so, dass man seine komplexen Ge-
dankengänge verstehen kann und er als Mensch
durchscheint. Diese Schnittstelle zur Kunst
wächst. Es verstärkt sich die Einsicht, dass es nicht
reicht, die Naturdynamik allein in Studien und
Fachzeitschriften zu beschreiben.
ZEIT: Aber ist das nicht zuvorderst die Aufgabe
der Forschung?
Boetius: Nehmen Sie die Klimakrise. Vom Messen
des CO₂-Gehalts der luft und vom Beschreiben
der aktuellen und kommenden Konsequenzen
kommt man sofort auf die Frage: Wie ist die
Menschheit in diese prekäre lage geraten? und
wie kommt sie wieder heraus? Wer sich diese Fra-
gen stellt, landet bei der Ethik, der Philosophie,
aber auch der Empathie, der Ästhetik, der utopie
und damit bei der Kunst als Archiv dessen, was
uns Menschen und unsere umwelt ausmacht.
ZEIT: Dabei ist die Diagnose der umweltzerstö-
rung doch eindeutig. und auch die lösungen,
welche die Wissenschaft vorschlägt, sind klar ...
Boetius: Es gibt da nicht die Wissenschaft, so wie
es auch nicht die Kunst oder die Politik gibt! Jeder
Bereich hält erst mal nur Teilwissen und Teillösun-
gen bereit. Die Klimaforscher können ausrechnen,
wie viel CO₂ maximal noch aushaltbar ist. Zoolo-
gen können ermitteln, wie groß ein Naturschutz-
gebiet sein muss, damit eine bestimmte Affenart
dort überleben kann. Aber das Zusammenführen
und Zusammendenken unzähliger Daten und Er-
kenntnisse als leitplanken unseres Handelns ist
immer noch ein Riesenproblem. Mich beschäftigt
das sehr, und daher interessieren mich Kommuni-
kation und Vermittlung. ich trat früher oft als
fröhliche Wissenschaftlerin auf, die erzählt, wie
schön die Arktis ist und wie toll es ist, mit dem
u-Boot die Tiefsee zu beobachten. Dann freuten
sich alle mit und klatschten. Aber da sich meine
Erkenntnisse verändern und ich mein Entsetzen
kaum mehr verhehlen kann, sage ich öfter: Es
reicht! und suche selbst auch nach anderen Aus-
drucksformen. So finde ich es sehr spannend,
wenn Künstler darstellen, wie die Natur Teil unse-
rer Haut ist, wie ihre Zerstörung und Verwüstung
schmerzt und juckt. und dass Heilung guttut. Wir
brauchen die Empathie als Kraft.
ZEIT: Sie streiten häufig in Talkshows mit Politi-
kern, die in ihren Augen nicht genug gegen die
Klimakrise tun ...
Boetius: ich bin einfach enttäuscht, wenn Regie-
rungsvertreter, die sich über die Folgen des Klima-
wandels absolut im Klaren sind, dennoch beim
Klimaschutz bremsen, einfach aus Wahltaktik. Was
mich auch stört, ist die Verzerrung der Debatte um
Verzicht, wenn es ums Klima geht. Da wird immer
behauptet, man könne den leuten keine großen
Einschränkungen im lebenswandel zumuten –
dabei sind die Einschränkungen durch den Klima-
wandel doch viel größer! Die Korallenriffe sterben
ab, Ernten fallen aus, Hitzewellen ziehen durchs
land, Wälder brennen, Stürme verwüsten ganze
Regionen, Menschen verlieren ihre Heimat. Wa-
rum wird es nicht als Verzicht angesehen, wenn wir
insekten und Singvögel durch umweltgifte verlie-
ren? Wir müssen doch jetzt schon ständig zahlen
für die Folgen des Klimawandels – warum nicht so,
dass das Problem gelöst wird? Das verstehe ich
nicht. Die Verzichtsdebatte mache ich nicht mit.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Boetius: Das derzeitige Konsumverhalten ist neu,
wöchentlich Billigkleidung kaufen, täglich Fleisch
essen, in innenstädten Riesenautos fahren und
mehrfach im Jahr in die Ferien fliegen. Nur mal am
Beispiel Nahrung: im Durchschnitt werfen wir zwei
Drittel der Agrarproduktion für lebensmittel weg.
Den Überfluss einzudämmen, zu verstehen, welche
Schäden er anrichtet, hat doch nichts mit Verzicht
zu tun! Das ist Vernunft!
ZEIT: und was sollte man tun?
Boetius: Wir sollten jetzt damit anfangen, die
Emission von CO₂ spürbar teurer zu machen, und
im Gegenzug die Geringverdiener, die nicht so viel
CO₂ produzieren, dafür belohnen. Genauso die-
jenigen, die klimaschützende Technologien ent-
wickeln und einsetzen. Das wäre der schnellste
Weg zu Verhaltensänderungen. Zudem wäre es
wirklich wichtig, wenn mehrere Staaten gemein-
sam zeigen, dass sich das rechnet.
ZEIT: Flüge für 70 Euro nach Barcelona wird es
dann nicht mehr geben. ist das Reisen – im Sinne
Humboldts – aber nicht der beste Weg, die Welt
zu erfahren?
Boetius: Es gibt viele andere Wege, zu reisen und
dabei die Natur zu erkunden. Schnell mal irgend-
wo vorbeifliegen ist damit nicht gemeint. Hum-
boldt hat in seinem Band Kosmos gefordert, jeder
müsse auf Reisen gehen, jeder müsse ein Band zur
Natur knüpfen, sich auch emotional mit ihr aus-
einandersetzen. Aber dieses Reisen war für ihn das
Werk eines ganzen lebens, und seine urerfahrung
des Waldes machte er in Deutschland. Was be-
deutet das auf uns übertragen? Wir sollten von
klein auf die Bande zwischen uns und der Natur
verstehen lernen und den Zusammenhang zwischen
ihrem und unserem Wohlergehen begreifen. Wir
müssen kapieren, welche unglaublichen Schätze
auf dem Spiel stehen und welche Schönheit.

Das Gespräch führten Andrea Böhm und
Fritz Habekuß

hin. Selbst bei kleinen Abweichungen lohnt es
sich, in der Gegend zu suchen. Hat man etwas
gefunden, fährt man die Stelle immer wieder
ab und lässt an dem Punkt mit den meisten
Übereinstimmungen erhöhter Temperatur
eine Kamera in die Tiefe. und mit viel Glück
wird man mit dem ersten Blick auf eine un-
bekannte landschaft belohnt.
ZEIT: Gerade laufen die Vorbereitungen für
die größte Arktisexpedition aller Zeiten: Mo-
saic. Der deutsche Forschungseisbrecher Polar-
stern lässt sich im arktischen Winter festfrieren
und treibt mit dem Eis über den Nordpol. Sie
selbst haben fast fünfzig Expeditionen geleitet,
waren Jahre auf See. Wie werden solche Fahr-
ten geplant und vorbereitet?
Boetius: Das Alfred-Wegener-institut hat
eine eigene logistikabteilung, die organisiert
die Ausrüstung und den Transport. in Hum-
boldts Tagebüchern kann man nachlesen,
wie Expeditionen zu seiner Zeit abliefen: Er
musste alles allein machen. und manchmal

musste er irgendwo monatelang auf ein Schiff
warten, das ihn auf die nächste Reiseetappe
mitnahm, oder dann doch meist den Plan
ändern. Viele seiner Sammlungen gingen
unter wegs verloren. Das ist heute anders – es
bleibt aufregend, aber es geht eher um Tage,
die man im Hafen festliegt wegen Problemen
mit dem Zoll oder fehlender Ausrüstung.
Doch auch das schmerzt bei unseren vollen
Arbeitsplänen.
ZEIT: und wie gelingt eine Expedition?
Boetius: Eine Fahrtleiterin muss verstehen, was
jeder für seine Forschung braucht, das hilft, alle
auf das Ziel der Expedition einzuschwören.
ZEIT: Reicht das?
Boetius: Nein, ständig passiert etwas unerwar-
tetes. Deswegen haben wir nie bloß einen
Plan B, sondern auch einen Plan C, D und E.
irgendein Sturm kommt immer, und dann muss
man abwarten, wichtige Forschungszeit geht
verloren. Als Fahrtleiterin muss ich entschei-
dungsfreudig sein und gut kommunizieren.

ZEIT: Gibt es an Bord eines Expeditionsschiffes
eine Trennung zwischen Seeleuten und Wissen-
schaftlern?
Boetius: Von der Arbeitsweise her durchaus.
Die Seeleute machen die Arbeit, die auf dem
Schiff anfällt. Die Wissenschaftler müssen
ständig improvisieren, um ihre Forschungs-
ziele zu erreichen. Trotzdem arbeiten wir Hand
in Hand als ein Team, sonst funktioniert es
nicht. Aber mit den Schwierigkeiten und Ver-
zögerungen zu Humboldts Zeiten ist das alles
nicht zu vergleichen. Er nahm sich erst einmal
ein ganzes Jahr Zeit, um instrumente zu kau-
fen, auszuprobieren und zu kalibrieren. Er war
unwahrscheinlich fokussiert und organisiert,
konnte dabei aber gut improvisieren. ich hätte
ihn gern kennengelernt, obwohl er mich auf
einer Expedition wohl zum Wahnsinn getrie-
ben hätte mit seinen sprunghaften Entschei-
dungen und seinem Sammeltrieb.
ZEIT: Für Humboldt war auch die Kunst ein
Medium, um Wissenschaft zu vermitteln. Sie

DIE ZEIT: Frau Boetius, wir treffen uns hier
auf Sylt, mitten in einer dramatischen land-
schaft. Wind, Meer, aber auch die Menschen
formen die umgebung hier. Gibt es ein biologi-
sches Gleichgewicht zwischen den Kräften?
Antje Boetius: Veränderung ist das Entscheiden-
de, und auch auf Sylt ist nichts stabil. Die Dünen
wandern, das Meer nimmt sich manchmal ein
Stück von der insel, dann versuchen die Men-
schen es zurückzugewinnen. Das gefällt mir an
Sylt: diese Dramatik an der sich wandelnden
Front zwischen land und Meer.
ZEIT: interessant, dass Natur bei vielen Betrach-
tern dasselbe Gefühl auslöst. Gibt es eine univer-
selle Ästhetik der landschaft?
Boetius: Die Frage, warum ich landschaften als
schön oder aufwühlend wahrnehme, stellte sich
mir erst, als ich mich mit Alexander von Hum-
boldt beschäftigte. Er war überzeugt, dass es eine
Dramatik gibt, die den Menschen erfasst und
erhebt – sodass er landschaften überblicken und
sich als Teil davon verstehen kann –, wie beim
Blick vom Gipfel, über eine weite Ebene oder
auf einen Wasserfall. Der Betrachter kann so die
Naturgewalt erahnen, die solche landschaften
formt. Diese Dynamik, unberechenbarkeit und
auch unsicherheit ist paradoxerweise sehr attrak-
tiv. So liebte Humboldt den Blick auf rauchende
Vulkane über alles.
ZEIT: Sie sind Meeresforscherin, haben wichtige
Arbeiten zur Tiefseebiologie veröffentlicht und
waren viele Jahre auf Forschungsschiffen unter-
wegs. Wie sind landschaften unter Wasser?
Boetius: Es gibt gigantische Gebirge und
Schluchten, wie an land. Doch ein Großteil der
Tiefsee-Ebenen erscheint auf den ersten Blick
nicht sehr aufregend. Es sieht dort ein bisschen
aus wie im Watt: schlammig und platt. Aber für
uns Biologen fängt da die landschaft schon an:
Es ist wirklich spannend, im Schlamm Spuren
von Tieren zu sehen und zu rätseln, welch ein
Geschöpf sie hinterlassen hat.
ZEIT: Was sieht man da?
Boetius: im Pazifik etwa hat man kürzlich etwas
völlig Neues gesehen: absolut regelmäßige Punk-
te, angeordnet in Dreiecken. Total mysteriös.
Wahrscheinlich Spuren eines Wurms oder Kreb-
ses. Aber warum der nun geometrische Formen
schafft? Wir wissen es nicht. Oder riesige Kopf-
abdrücke von Walen, die anscheinend tief tau-
chen, um ihren Kopf am Boden zu reiben.
ZEIT: Es heißt, die Tiefsee sei weniger erforscht
als der Mond.
Boetius: Wir wissen noch immer nicht viel mehr
über die Tiefsee als Humboldt. Wir entdecken,
beobachten, versuchen, Prozesse zu erkennen.
Zum Beispiel entdeckte ich eine Tiefseelandschaft
voller Seeanemonen neben großen, sehr regelmä-
ßigen löchern, es sah aus, als hätte sie jemand
ausgestanzt. lange haben wir gerätselt, wie die
zustande gekommen sein könnten. Bis mir ein-
fiel, dass es in Russland so etwas an land gibt. in
der Erde sammelt sich Gas an, das irgendwann
explodiert.
ZEIT: Wie kommt man als Forscherin zu solchen
Theorien?
Boetius: Das geht nur übers Kombinieren und
Herleiten, oft müssen verschiedene Disziplinen
kooperieren. Zum Beispiel Geologen mit Biolo-
gen, denn die wissen eine landschaft voller See-
anemonen zu deuten.
ZEIT: Wie denn?
Boetius: Seeanemonen filtern Nahrungspartikel
aus dem Wasser. Wo sie wachsen, muss es stärkere
Strömungen geben, die solche Partikel transpor-
tieren. Ein solches Denken in Zusammenhängen
war Humboldts lebensaufgabe. Er wollte heraus-
finden, ob Pflanzen und Tiere zufällig über die
Erde verteilt sind oder ob ihr Vorkommen von
bestimmten geologischen und klimatischen
Voraussetzungen abhängt und was sie darüber
verraten, wie eine landschaft entstanden ist.
Humboldt hat enorm viel kartiert und gemalt.
Mein lieblingsbuch ist der Band mit all seinen
Zeichnungen. An seiner Bildsprache kann man
erkennen, wie dieser Mann gearbeitet hat. Er hat
immer versucht, in der Verteilung von lebewesen
ein Muster zu erkennen, aus ihr einen Sinn
herauszulesen. Das war der Beginn der land-
schaftsökologie.
ZEIT: Humboldt war besessen von Vulkanen,
weil man, wie er sagte, durch sie in die Erde
hineinschauen kann. Sie haben selbst einen
Vulkan in der Tiefsee entdeckt – teilen Sie seine
leidenschaft?
Boetius: ich teile unbedingt seine landschafts-
leidenschaft, aber aufs Meer bezogen. Wie er sich
ohne Atemmaske an den Rand eines Kraters
heranrobbte, behagt mir nicht. Seine Expedi-
tionen waren mit der damaligen Ausrüstung un-
glaublich gefährlich. Aber die Vulkane der Tief-
see im u-Boot zu entdecken – großartig!
ZEIT: Wie findet man überhaupt einen Vulkan
in der Tiefsee – etwa der Arktis, wo Sie viel unter-
wegs waren?
Boetius: Es gibt Karten von den Spreizungs-
zonen mittelozeanischer Rücken, wo die Erd-
kruste neu entsteht, die sind aber sehr, sehr un-
genau. Mit Schallimpulsen vermessen wir den
Meeresboden, ein Thermometer zeigt die Was-
sertemperatur an.
ZEIT: Wieso brauchen Sie ein Thermometer?
Boetius: Der Ozean in der Arktis ist eigentlich
immer minus ein Grad kalt. ist er wärmer,
weiß man: Hier muss irgendwo heißes
Wasser sein. Das weist auf einen Vulkan


»Er hätte mich zum


Wahnsinn getrieben«


Ein Gespräch mit der Meeresbiologin Antje Boetius darüber, wie


Humboldt sie bewegt. und über eine gemeinsame leidenschaft


ALEXANDER VON HUMBOLDT


Die Tiefseeforscherin Antje Boetius liebt Entdeckungsfahrten im U-Boot

ist Direktorin des Alfred-Wegener-instituts, Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung, in Bremerhaven.
Sie hat fast 50 Expeditionen geleitet und insgesamt mehrere Jahre auf See verbracht. Für ein Kunstprojekt
mit dem Schauspieler David Bennent hat sie sich intensiv mit Alexander von Humboldts Texten auseinandergesetzt

Antje Boetius


Foto (Ausschnitt): Daniel Feistenauer für DIE ZEIT; Abb. [M]: Pierre Jean François Turpin (Foto: bpk); Alexander v. Humboldt (Foto: bpk); Nicolas Huet (Foto: akg); Kupferstiche nach Aquarellen von Pierre Jean François Turpin (Fotos: bpk; akg)
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