Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


Das Schwinden männlicher Surplus-Energie wird
begleitet und verschärft durch wachsende Anforderun-
gen an die Politik insgesamt: Das Tempo nimmt zu,
der Souverän wird komplizierter, zuweilen rebellischer,
die Kluft zwischen der internationalisierung der Pro-
bleme und der nationalen legitimationsbasis vertieft
sich. Anders gesagt: Die Netto-Politik, also das, was
mindestens erledigt werden muss, wird aufwendiger.
Eigentlich müssten mehr Politikerinnen der post-
opu len ten Methode Merkel nacheifern (aber auch Po-
litiker, denn es ist ja nichts, was nur Frauen könnten,
vielmehr ist ihre Sparsamkeit aus ihrer Rolle als Aus-
geschlossene entstanden). Doch so einfach verlaufen
kulturelle Brüche nicht. So gibt es eine Alternative zur
No-Bullshit-Politik: die Bullshit-only-Politik. Dabei
wird die Netto-Politik wider alle Wirklichkeit noch
heruntergefahren und werden die Brutto-Energien
dermaßen eskaliert, dass sie ebendiese Wirklichkeit für
eine Weile überdecken. Beispiele gibt es derzeit zuhauf,
sowohl in der autoritär-virilen Variante (Trump-
Orbán- Sal vi ni) wie in der clownesken (Boris Johnson).
in Deutschland findet sich dieser Politikstil sogar in der
Mischung chaotisch-humorlos-autoritär, sprich AfD.
Vervielfältigung und Variierung der Methode Mer-
kel bleiben also aus. Man sollte sich von dem Foto aus
Schloss Bellevue nicht täuschen lassen, auf dem Merkel,
AKK und ursula von der leyen vergangene Woche an-
lässlich ihres Ämtertausches einträchtig ne ben ein an der-
sa ßen. Tatsächlich war einfach in einem »harten« Mi-
nisterium auf die erste Frau eine zweite gefolgt. Das
kündet noch nicht das Ende des Opulenz-Patriarchats.
Schließlich wurde Annegret Kramp-Karrenbauer
plötzlich Verteidigungsministerin, weil sie in ihrem
Job als CDu-Vorsitzende vorerst gescheitert ist. Wa-
rum? Dazu muss man sich ins Gedächtnis rufen, was
von der CDu unter Angela Merkel alles nicht zu sehen
war, nämlich die speziell christdemokratische Ausferti-
gung alter, männlicher, verschwenderischer Politik.
Die CDu ist in der Tendenz ohnehin übermännlich,
man sieht es an der Jungen union, dem Terrarium des
Gestern. Die Partei ist, was Mandatsträger und Mit-
glieder betrifft, auch nach 18 Jahren unter Merkels
Vorsitz nicht weiblicher geworden – nirgendwo ist der
Frauenanteil niedriger. Außerdem gibt es in Teilen der
CDu ein Bedürfnis nach Triumph, Ressentiment,
Verächtlichmachung anderer, besonders von Minder-
heiten, und nach einer Dosis Nationalem. Merkel hat
diese Seite ihrer Partei rigoros unterdrückt. Emblema-
tisch dafür steht die Feier, die sich die CDu
nach ihrem Wahlsieg 2014 gönnte. Da
klatschte und sang die Führung zu
den Melodien der Toten Hosen, als
Hermann Gröhe sich aus dem Pu-
blikum eine – kleine – Deutsch-
land-Fahne griff, die ihm sogleich
von der Kanzlerin aus der Hand
genommen wurde. Zu viel Nation
ist nicht gut für ihre Partei, so
kann man die Szene lesen. Merkel
ging, so viel man weiß, die ganze
Zeit davon aus, dass man der
Ressentiment-, Pathos-, Männer-
und Sieger-Partei CDu keinerlei
Nahrung geben darf, sonst wäre
das alles womöglich nicht
wieder einzufangen.
AKK hat seit ih-
rem Sieg gegen

Friedrich Merz, den Mann, der aus dem neoliberalen
Paläolithikum kam, das Gegenteil gemacht: Sie be-
diente die Ressentiment-Bedürfnisse ihrer Partei und
machte sie hungriger nach Brutto-Politik. Derweil
vernachlässigte sie das sachpolitische Kardinalthema
Klimawandel, fertigte es zunächst sogar mit Häme ab.
Dieser Doppelfehler hat sie das machtpolitische Mo-
mentum gekostet. Mit der Übernahme des Verteidi-
gungsministeriums flüchtet sich AKK nun in eine
Doppelbelastung, wie sie unter den modernen Bedin-
gungen von Politik und angesichts der vormodernen
Anflüge ihrer Partei kaum zu meistern sein wird.

A


uch die Machtflucht von Andrea Nahles
zeigt, dass die politisch-kulturelle Basis in
Politik und Öffentlichkeit für eine No-Bull-
shit-Politik oftmals nicht gegeben ist. Wie
AKK ist auch Nahles in erster linie an ihrer eigenen
Partei gescheitert. Denn obwohl es bei der SPD viele
Frauen in Führungspositionen gibt, die Mehrheit der
Mitglieder ist männlich. Die Partei ist noch der ver-
schwenderischen Politik verhaftet. Allein beim Aus-
sprechen der drei Buchstaben »S«, »P«, »D« wird mehr
Pathos- und Enttäuschungsenergie aufgewendet, als
Angela Merkel in einer gesamten legislaturperiode
braucht. Zudem liegt die last der 156-jährigen
Geschichte auf allem, das ständige schlechte soziale
Gewissen, schließlich die Gewohnheit überdramati-
sierter Machtkämpfe um immer weniger Macht – das
hält man kaum aus, auch daher rührt der Verschleiß an
Führungspersonal. Sigmar Gabriel hat kürzlich gesagt,
der SPD-Vorsitz werde »wie ein infektiöses Kleidungs-
stück behandelt«. Ja, genau, von Bebels schwerer uhr
bis zur Berufskrankheit SPD-Vorsitz – man hat es weit
gebracht. und wenn dann eine Frau, die ihr Kind in
der Eifel hat, irgendwann sagt, das war’s, ich opfere
mich nicht auf, dann muss man sich nicht wundern.
Hinter den Frauen in der Politik steht für gewöhnlich
eben keine kleine Armada von Männern.
Am klarsten indes lässt sich ein post opu len ter Stil
bei den jüngeren Aktivistinnen ablesen. Greta Thun-
berg benennt die Probleme, wie sie sind, aber sie
schäumt nicht gegen ihre Gegner. Allen Verführun-
gen durch etwa Anfeindungen, sich mit etwas ande-
rem zu beschäftigen als der Klimakrise, widersteht sie
bisher. Ähnlich ist es bei ihrem deutschen Pendant
luisa Neubauer. und auch Carola Rackete hat sich
im Moment ihrer Berühmtwerdung auffallend redu-
ziert geäußert. in ihrem ersten interview (mit dem
Spiegel) sprach sie ausschließlich über das, was gesche-
hen war, über Fakten mithin. Schließlich wurden ihr
ein paar männerige Fragen angeboten:
Spiegel: »Haben Sie den öffentlichen Wirbel um
ihre Person in diesen Tagen mitbekommen, die Hel-
denverehrung, den Hass?«
Rackete: »Kaum, ich war ja im Hausarrest (...).
Spiegel: Gefällt es ihnen, als Gegenspielerin von
Salvini dargestellt zu werden?
Rackete: »ich verfolge nicht, wie er sich äußert (...).
Spiegel: »Was würden Sie ihm sagen, wenn Sie ihm
gegenüberstünden?«
Rackete: Salvini ist niemand, dem ich begegnen
möchte. Seine Politik verstößt gegen Menschenrechte.
Seine Art, sich auszudrücken, ist respektlos, für einen
Spitzenpolitiker ist das nicht angemessen.«
Während andere darüber streiten, ob Salvini ein
Populist ist oder doch Rechtsextremer, sagt sie nur: Der
Mann spricht unangemessen. Punkt. Carola Rackete
widersteht nicht bloß den Verführungen, sie weist
eine ganze politische Kultur zurück.
Rackete, Thunberg, Neubauer, diese
Frauen (teils auch ihre männlichen Mit-
kämpfer gleichen Alters) konzentrieren
ihre Kraft auf echte, sachhaltige Pro-
bleme des 21. Jahrhunderts und las-
sen sich – bisher – von den Allüren,
ideologien, von der Verschwen-
dungskultur des 20. Jahrhunderts
nicht aussaugen. Einfachheit ist
hier die Waffe der Wahl.
Was nicht so hoff-
nungsvoll stimmt: Zwi-
schen Merkel und ih-
ren Enkelinnen klafft
in der Sphäre der
Machtpolitik eine
lücke. und Merkels
Bilanz ist in sach-
politischen Fragen
mehr als gemischt, in
Klimafragen sogar de-
saströs. Noch scheint
es vor allem der Stil zu
sein, der sich ändert, die
Art des politischen Redens.
Wann wird es sich in die
Wirklichkeit umsetzen?

POLITIK 3


W


as Politik ist, wissen wir
nicht genau. Nicht, was sie
enthalten muss, wie viel
Sachverstand, Eitelkeit, Eh-
re; wir kennen auch nicht
die Formel für politische
Effizienz, wissen also nicht,
wie viel Zeit pro Kopf oder pro Problem Politik min-
destens aufbringen muss und höchstens aufbringen
darf. ist es nötig, dass Politiker 70 bis 80 Stunden
arbeiten, und wenn ja, warum? um sich mit Sachfra-
gen zu befassen oder um sich als Politiker miteinander
zu beschäftigen beziehungsweise gegeneinander?
Man glaubte zu wissen, was Politik ist, weil man
dachte, was seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik zu
erleben war, sei die Politik schlechthin. Es war aber eine
spezifische, die sich unter bestimmten Bedingungen
ausgebildet hatte: Es war männliche Politik. Frauen sind
bislang die Ausnahme von der Regel, sie sind erste Bun-
deskanzlerin, erste Eu-Kommissionspräsidentin, erste
SPD-Vorsitzende.
lassen wir die moralische Dimension dieses jahr-
zehntelangen Ausschließens beiseite. Komplexer und
erhellender sind zwei andere Fragen: Wie wirkte sich
diese Struktur auf die Politik aus und auf das Ver-
ständnis von dem, was Politik ist? und: Was geschieht
nun, da das Ausschließen kaum noch möglich ist,
unterdessen die Anforderungen an die Politik zuneh-
men und sich das Tempo politischer Prozesse erhöht?
Wenn diese beiden Fragen einigermaßen be-
antwortet sind, dann können vielleicht auch jüngere
Phänomene besser verstanden werden, die zuletzt für
einiges Rätselraten gesorgt haben: Warum ist Andrea
Nahles geflohen, warum gibt es überhaupt so viel
Machtflucht neuerdings? Warum hatte Merkel Erfolg,
und warum scheint er AKK nicht vergönnt zu sein?
Warum sind Sigmar Gabriel und Martin Schulz trotz
ihrer unbestreitbaren Fähigkeiten gescheitert? und
was hat es mit diesen jungen Frauen, mit Greta Thun-
berg und Carola Rackete, auf sich?
Das erste und wichtigste Kennzeichen männlicher
Politik ist die Opulenz. Hinter jedem männlichen Spit-
zenpolitiker und lange auch hinter denen in der zweiten
und dritten Reihe stand eine kleine Armada von Frauen,
die mit ihrem Sachversand, ihrer Erotik, ihrer intelli-
genz und ihrer Hände Arbeit die Männer am laufen
und ihnen die Kinder weitgehend vom leib hielten.
Stets konnten also die Männer aus dem Vollen schöp-
fen, zeitlich, seelisch, aufmerksamkeitsökonomisch und
auch materiell, indem sie sich die unsichtbaren und un-
erschöpflichen weiblichen Energien einverleibten.
Das zweite Kennzeichen männlicher Politik be-
steht darin, dass sie vor sich selbst verborgen war. Sie
erkannte nicht ihre eigene spezifische Struktur. Aus
einem einfachen Grund: Die Politiker verwendeten
ihre operierende Opulenz nicht allein darauf, Proble-
me zu lösen, die das zu regierende Volk eben hatte,
sondern ebenso sehr auf die Probleme, die sie einander
machten. Es gab kein Zeitvakuum, sondern kollektive
Zeitverschwendung. Niemand weiß, wie unendlich
viele Stunden Helmut Schmidt an Willy Brandt ge-
dacht hat und Willy Brandt an Helmut Schmidt
oder Heiner Geißler und Norbert Blüm an Hel-
mut Kohl und der wiederum ... Je mehr Zeit
die Männer hatten, desto mehr Zeit raubten
und schenkten sie einander (das galt und
gilt auch für andere Bereiche, etwa die
Wirtschaft, besonders für Politik be-
gleitende Medien). Darum stellte sich
den Politikern und der Öffentlichkeit
die Opulenz als Zeitknappheit dar, als
Stress, inklusive Raubbau an den Kör-
pern, sogar an den eigenen: Konsum
erheblicher Mengen von Drogen, meist
Alkohol und Nikotin, aber nicht nur.
Was hat man angestellt mit der Zeit,
die nicht für die realen Probleme auf-
gewandt wurde, also nicht für die
Netto-Politik, sondern für die
Brutto-Politik?
Grob gesagt, wurde
viel von dieser Opu-
lenz in das Stabi-
lisieren von Erek-
tionen investiert.
Es ging von mor-
gens bis abends
und auch nachts
um: Kränkung,
Eitelkeit, Demüti-
gung, Triumphieren,
Überwältigung, Rache,
Pathos, Selbstüberhöhung,
Selbsterniedrigung, Gerüchte,
intrigen, Aufbrausen, um weiß
der Kuckuck. Nun hat dies immer
schon zur Politik gehört, weil es ja zum


leben gehört. Aber das Ausmaß, in dem sich Politik
damit befasste, war allein dem Überfluss zu verdan-
ken. und jetzt wird es endlich sichtbar.
Mir selbst ist das erst spät klar geworden, und zwar
durch Beobachtung von Angela Merkel. Sie war als
Physikerin in die Spitzenpolitik geraten; sie suchte
sich eine damals patriarchalische Partei aus; und sie
kam als Fremde aus einem untergegangenen land.
Dass sie es nach oben schaffte und sich atemberau-
bende zwei Jahrzehnte dort hielt, verdankt sich einer
Abkehr von dem, was bis dahin unter Politik verstan-
den wurde. Sie entwickelte einen Politikstil äußerster
Sparsamkeit: Sie triumphierte nicht, sie nahm keine
Rache, sie demütigte nicht, sie war (fast) nicht zu de-
mütigen, sie machte selten große Worte, die sie mit
ebenso großer Geste wieder hätte einsammeln müs-
sen, sie nahm allem Anschein nach wenig übel. Erst
was sie unterließ, zeigte mir, was fast alle anderen ta-
ten. Neugier statt Gier, Sachlichkeit statt Sentiment,
Konzentration auf die Netto-Politik. Nur so konnte
sie sich gegen die barocken Herren (Schäuble, Koch,
Wulff, Merz, Stoiber) durchsetzen, gegen deren Män-
nertum, deren Wort- und Stimmgewalt und gegen
das also, was doch mehr Energien verschlang, als es
erzeugte. und, nein, dass sie ihnen überlegen war, hat
nichts mit Hexenkunst zu tun, nichts mit Kräften, die
sie besaß, sondern mit Kräften, die sie sparte.
Überhaupt die Herren der Generation Merkel. Es
war nicht die Frau aus dem Osten, die deren Schicksal
besiegelte, es waren andere Faktoren: Zunächst mal
pflegten sie jenen aufwendigen Politikstil, für den sie
aber selbst oft nicht mehr gebaut, für den sie schlicht zu
weich waren (was für sie spricht). Roland Koch war
eben doch kein Alfred Dregger, Friedrich Merz kein
Helmut Kohl, Sigmar Gabriel kein Helmut Schmidt.
Sie hatten allesamt ein Glaskinn, waren also nicht so gut
im Nehmen wie im Austeilen, und sie besaßen einen
Sinn für, nun ja: Work-life-Balance, etwas, worüber die
Politikergeneration vor ihnen nur gelacht hätte.

G


abriel etwa oder auch sein Freund-Feind
Martin Schulz waren nicht in der lage, ihr
Privatleben so von sich abzuspalten, wie es
älteren Männern möglich gewesen war.
Darum hat Gabriel, der mit seiner Überwältigungs-
politik ungeheure Energien verschwendete, zweimal
den Sprung in die Kanzlerkandidatur verweigert.
Auch hatte er mehr Selbstzweifel an einem Tag als
Gerhard Schröder in einem Jahrzehnt. Martin Schulz
wiederum machte so verschwenderisch vom sozialde-
mokratisch-europäischen Pathos Gebrauch, dass die
ewige Reibung mit dem Realen und Profanen ihn
(und andere) zermürbte. Auch die Frage, ob er an-
gemessen behandelt wird, trieb ihn in einem Maße
um, für das Angela Merkel einfach keine Zeit hatte.
und als Gabriel und Schulz dann im Januar 2018
richtig aneinandergerieten, führten sie öffentlich ein
Beziehungsdrama auf, das sie, vorsichtig gesprochen,
von der existenziellen Krise ihrer Partei etwas
ablenkte. Die Drama-Queen ist in der Politik
eben meist ein
Drama-
King.

immer definierten


Männer die Politik.


Männer mit Zeit


für Machtkämpfe –


denn zu Hause hielt


ihnen jemand den


Rücken frei.


Warum Frauen wie


Angela Merkel


und Carola Rackete


ihre Energien


vernünftiger


einsetzen


VON BERND ULRICH

Die Kunst der Effizienz


Kakteen speichern im
Innern Wasser für
trockene Zeiten. Um
Verluste zu
vermeiden, besitzen
viele Kakteen sogar die
Fähigkeit, ihre Körper
einzuschrumpfen

Foto [M]: Getty Images
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