Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

K lassiker f ür


K lein und Groß


Die ZEIT-Edition


»Weltliteratur für Kinder 2«


6 neue Werke, kindgerecht erzählt


und eindrucksvoll bebildert


Verschenken Sie jetzt die ZEIT-Edition »Weltliteratur für Kinder 2«:


shop.zeit.de/klassiker [email protected] 040/32 80-101


* zzgl. 4,95 € Versandkosten | Bestell-Nr. 32643 I Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg

Fortsetzung
der Bestseller-
Edition

Nur
79,95 €*

Illustration: Anatolij Pickmann (nach Vorlage von Jessie Willcox Smith)

107116_ANZ_10711600019024_23339335_X4_ONP26 1 02.07.19 10:27


  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


B


otox, Hyaluron, Facelifting: Nie war
das Streben nach ewiger Jugend und
faltenfreier Schönheit stärker als heute.
Sollte man denken. Doch lässt sich ge-
rade auf sämtlichen Social-Media-Kanälen ein
ganz anderer Trend beobachten: unter dem
Hashtag #FaceAppChallenge beschäftigen sich
viele Junge mit dem Alter. und wer eben noch
resch und glatt aussah, will plötzlich knittrig
scheinen. Auf Knopfdruck lässt die Smartphone-
Anwendung FaceApp jedes Konterfei umstands-
los entweder um Jahrzehnte altern oder auch
jünger aussehen, ja sogar eine Geschlechts-
umwandlung ist binnen Sekunden möglich.

Klarer Favorit ist jedoch die Alterungsoption,
was schon erstaunlich ist, kommt es doch im Netz
sonst meist darauf an, die eigene Makellosigkeit
zur Schau zu tragen. Mehr als 100 Millionen Nut-
zer haben die App bereits heruntergeladen und
wollen auf ihr künftiges, vom leben gezeichnetes
Antlitz schauen – wie in einem Zauberspiegel.
Vor allem das Spielerische dieser App scheint
viele zu verlocken: All die bedrohlichen Aspekte,
die das Alter sonst mit sich bringt, hier werden sie
zum Bild und damit beherrschbar. Älterwerden
wird dank FaceApp zu etwas, das sich unter Kon-
trolle bringen lässt. Der alte Mensch, der laut
Simone de Beauvoir den jüngeren Mitmenschen

sonst nur als »fremde Art« erscheint, in der sie sich
nicht wiedererkennen, rückt in den Fokus – doch
nicht, wie man nun hoffen könnte, zur philosophi-
schen Beschäftigung mit Alter und Tod.
Was hier stattfindet, lässt sich vielmehr als »Do-
rian-Gray-Effekt« bezeichnen. Oscar Wildes be-
rühmte Romanfigur besitzt ein Gemälde, das an
seiner Stelle altert. Er selbst führt dabei ein nieder-
trächtiges leben in ewig makelloser Schönheit. in
geradezu unheimlicher Parallele dazu ist auch das
runzlige FaceApp-Orakelbild nichts anderes als ein
Versuch, etwas so unaufhaltbares wie das Altern zu
bannen. Es wird zum Zeitvertreib, ja verheißt sogar
ein Happy End: So mag diese App uns auf Falten

und graue Schläfen vorbereiten – die wahren He-
rausforderungen des Alters bleiben aber hinter der
Spiegelfläche. Demenz, Zahnausfall, der starke
Schmerz im rechten Zeh, für all das gibt es kein
Bild. Bei FaceApp ist das Alter schön, die Zukunft
nur eine Variante der wohlgefönten Gegenwart.
Nun gut, wahrscheinlich werden wir die App
bald schon wieder vergessen haben. im Gegen-
satz zu Dorian Gray, der sein Porträt irgendwann
angewidert zerriss, wird unser Bildnis jedoch
nicht vergehen. Es bleibt im digitalen Äther er-
halten, auf Servern von Amazon und Google.
unsterblich, könnte man sagen. Pseudo-alt, aber
echt unvergänglich.

D


er 24. Juli wird seit 111 Jahren in der Tür-
kei als Jahrestag der Abschaffung der Zen-
sur begangen. An diesem Datum wurden
1908 Verfassung und Parlament eingesetzt, die die
Autorität des osmanischen Sultans einschränkten.
leider begeht die türkische Presse diesen besonde-
ren Tag in einer Atmosphäre, da ein Präsident mit
Sultanskompetenzen die Autorität des Parlaments
eingeschränkt und die Verfassung ausgesetzt hat.
Zensur gibt es offiziell nicht, Selbstzensur hinge-
gen massiv. Die scharf kontrollierten Medien müssen
genau aufpassen, was sie schreiben. Ein Beispiel:
Dass Merkel am 20. Juli der Hitler-Attentäter
gedachte, brachten in der Türkei nur wenige in-
ternetseiten kurz, denn die meisten fürchteten,
dieser Tage, da der Putschversuch gegen Erdoğan
vom 15. Juli 2016 verurteilt wird, falsche Assozia-
tionen zu wecken. Die türkischen Gefängnisse
sind voll mit Journalisten, die infolge falscher As-
soziationen inhaftiert wurden. Dennoch bestrei-
tet die türkische Regierung weiter, dass Journalis-
ten hinter Gittern sitzen.
Bei ihrem Türkei-Besuch 2016 gab Merkel mit
ihrem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoğlu
eine Pressekonferenz. Als der Korrespondent der Welt,
Deniz Yücel, ihn nach den Journalisten in den Ge-
fängnissen fragte, entgegnete Davutoğlu: »Kein ein-
ziger Journalist in türkischen Gefängnissen ist wegen
journalistischer Tätigkeit inhaftiert.«
ich war damals allein aufgrund meiner journalis-
tischen Tätigkeit in Haft und verfolgte diese lüge im
Fernsehen in der Zelle. Dann aber geschah Folgendes:
Drei Monate nach seinen Worten vom Februar
2016 musste Premier Davutoğlu auf Erdoğans Druck
hin gehen. lange harrte er still
in seiner Ecke aus. Als dann die
AKP-Regierung ins Taumeln
geriet, hisste er die Flagge gegen
Erdoğan und setzte sich für die
Gründung einer neuen Partei
ein. Erdoğan warf ihm Verrat
vor und »Spaltung der Gemein-
schaft der Gläubigen«. Das war
für ihn eine Drohung und für
die Medien die Botschaft: lasst ihn nicht zu Wort
kommen! Die Trollarmee der Regierung blies zur
Attacke. Davutoğlu aber gab letzte Woche drei Jour-
nalisten für Sputnik Türkei ein umfangreiches inter-
view. »leider erleben wir derzeit eine Phase massiver
Selbstzensur«, bedauerte er. »ich etwa hatte mich vor
dem Verfassungsreferendum an Fernsehsender gewen-
det, um meine Besorgnis zum Ausdruck zu bringen.
Kein einziger wollte sich darauf einlassen.«
Dies sagt ein Ex-Premier, einer der Architekten des
Drucks auf die Presse, der zuschaute, als man uns
inhaftierte. Jetzt ist er selbst Opfer der von ihm mit-
geschaffenen repressiven Atmosphäre und klagt über
Selbstzensur.
Sie können sich vorstellen, wie es weiterging: in
Zeiten bester Beziehungen zwischen Erdoğan und
Putin entließ die Sputnik-leitung am nächsten Tag
die Journalisten, die das interview geführt hatten, das
Erdoğan eventuell schaden könnte.
Auch dieses Jahr feiern wir die Abschaffung der
Zensur mit dem Wunsch, dass die Zensur abgeschafft
wird. Dass sich diesem Wunsch jetzt ein für die Zen-
sur mitverantwortlicher ehemaliger Premierminister
anschließt, nehmen wir mit gelindem Erstaunen und
als lehre zur Kenntnis.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

MEINE
TÜRKEI (150)

Wenn der Zensor


zensiert wird


Jetzt trifft es den ehemaligen
Premierminister VON CAN DÜNDAR

Can Dündar ist Chefredakteur
der internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich über
die Krise in der Türkei

36 FEUILLETON


Spieglein, Spieglein


Die Smartphone-Anwendung FaceApp lässt uns digital altern. Was fasziniert uns so daran? VON SINEM KILIÇ


4 Frauen, 3 Genres, 837 Minuten


Horrorfilm, Musical, Spionagethriller – das 14-stündige Kinoprojekt »la Flor« ist einfach beglückend VON SEBASTIAN MARKT


Z


wei gegenläufige Modi und dabei
zwei ein an der bedingende Vermö-
gen kennt das Kino: Zeigen, was ist,
ein Abbild, Erfassen einer Realität,
ein Einholen der Welt. und Zeigen,
was nicht ist, was vielleicht sein könnte. Form-
gebung einer imagination, eine Erschaffung
anderer Welten. Von solch einer lust am Fabu-
lieren lebt und kündet eine der außergewöhn-
lichsten und beglückendsten Kinoerfahrungen,
die man diesen Sommer wird machen können.
in dem 14-stündigen Film des argentinischen
Regisseurs Mariano llinás, von dem hier die Rede
ist, geht es um: Eine Mumie, deren Exhumierung
in einem Forschungslabor einen Fluch freisetzt und
die dort von einer Wissenschaftlerin Besitz ergreift.
Ein Schlagersängerpaar, dessen berufliches Duett
an der Verschiebung intimer Machtverhältnisse zer-
bricht (und eine Nebenhandlung um die Jagd nach
einem Jungbrunnen-Serum). Vier Geheimagen-
tinnen im Kalten Krieg, die nach einer möglicher-
weise sinnlosen Entführung und einem wahrschein-
lichen Verrat irgendwo in der südamerikanischen
Pampa auf den Showdown mit vier anderen Agen-
tinnen warten. Die Metafiktion eines Regisseurs,
dessen Schauspielerinnen gegen ihn revoltieren (um


eine Verschwörung der Bäume gegen die Menschen
geht es auch noch) und dessen Metaphern sich ver-
selbstständigen. Ein Re make von Jean Renoirs Film
Partie de campagne, als (fast) stummer Film. und
eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert, von vier
Frauen, die aus zehnjähriger Gefangenschaft bei
einem indigenen Stamm zurückkehren. Sechs Filme
also, die eigentlich einer sind.
Bevor alles beginnt, erscheint der Regisseur
an einer Autobahnraststätte und führt uns ein in
das, was kommt. Auf ein Blatt Papier zeichnet er
ein Diagramm: vier Pfeile für vier Episoden, die
beginnen, aber nicht richtig aufhören. Darunter
ein Kreis für eine abgeschlossene Erzählung. und
schließlich ein Pfeil für eine Geschichte, die mit-
tendrin einsetzt, aber alles zum Abschluss bringt:
Am Ende sieht alles aus wie eine Blume, der das
Werk seinen Titel verdankt – La Flor.
Das filmkritische Sprechen über Mariano llinás’
maßlos ambitioniertes, überschäumendes unter-
nehmen kommt kaum um einen Verweis auf dessen
Dimensionen herum: sechs Episoden, in – je nach
Aufführungsvariante – acht Akten oder drei Blö-
cken. Neun Jahre Produktionszeit und eine laufzeit
von 837 Minuten, was in der Tat noch länger ist als
Jacques Ri vettes zwölfeinhalbstündiges Erzähl-

experiment Out 1 aus dem Jahr 1971. Aber auch
um einiges kürzer als eine Staffel der Fernsehserie
Lost oder die Gesamtlaufzeit der gerade abgeschlos-
senen Phase drei des Marvel Cinematic uni verse.
Monumentalität ist allerdings im Fall von La
Flor das falsche Stichwort. Die schiere Dauer ist kein
instrument der Überwältigung, sie stellt sich eher
ein, als umweg der Verführung. Was die einzelnen
Episoden neben untergründigen thematischen Ver-
bindungen und Ansteckungen vor allem zusam-
menschweißt, ist einer der Clous des unterfangens.
Die weiblichen Hauptrollen werden stets von den-
sel ben vier Frauen gespielt: Elisa Carricajo, Valeria
Correa, Pilar Gamboa und laura Paredes, die zu-
sammen das Performance-Kollektiv Piel de lava
bilden. Zwischen den immer neuen Verwandlungen
mit erstaunlichen Pointen (Pilar Gamboa spielt im
Anschluss an ihren fulminanten Auftritt als singen-
der Racheengel eine stumme Auftragsmörderin)
zirkulieren nicht nur darstellerische Energien.
llinás folgt in einzelnen Episoden den Pfaden
des Genrekinos: Als Horror-B-Movie, das in seiner
lustvoll hastigen Skizziertheit metaphorische Tiefe
gewinnt. Als Musical-Melodram samt einem hin-
reißenden finalen Abrechnungsduett. Als Spionage-
thriller mit unzuverlässigem Off-Erzähler, der sich

in Abweichungen und Ausschweifungen verliert.
So schöpft La Flor aus einem utopischen Gedächt-
nis unrealisierte Erzählpotenziale der Kinogeschich-
te. Das ist tragisch und spannend und komisch und
verharrt auch im Schabernack nie bei der un-
verbindlichkeit bloßer ironie. Neben dem klassi-
schen Genrekino, an dem llinás oft auch bestimm-
te Bildräume und Tonwelten zu interessieren
scheinen, findet sich ein Füllhorn filmischer For-
men. Die letzte, mit einer Camera obscura gefilmte
Episode reicht an die Vorgeschichte des bewegten
Bildes heran. und das ist auch der Fluchtpunkt
dieses blütentreibenden Films aus vielen Filmen: Es
geht hier, in so vielen Varianten der liebe zum fil-
mischen Erzählen, nicht um einen spezifischen Film,
es geht um die Möglichkeiten des Kinos. »Manche
werden sagen: Du hast das Rad neu erfunden«,
sinniert llinás’ Alter Ego in der vierten Episode. »Ja,
sage ich, ich habe das Rad neu erfunden.«
und nun ist dieses wundersame neue Rad
oder auch dieses im besten Sinne unverhältnis-
mäßige, drollige Filmmonster da zu sehen, wohin
es weist: im Kino nämlich. Dem Enthusiasmus
des Nürnberger Grandfilm-Verleihs und einiger
wagemutiger Kinobetreiber sei’s gedankt. Möge
die Gelegenheit nutzen, wem sie sich bietet.

Mariano Llinás’ Darstellerinnen vollbringen immer neue Verwandlungen mit erstaunlichen Pointen

Fotos: Grandfilm; Andreas Pein/laif (u.); Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT

ANZEIGE
Free download pdf