Die Zeit - 25.07.2019

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DIEGROSSE


  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


E


s ist diese Szene, die sich noch wäh­
rend unserer Begegnung aus dem
Gespräch herauslöst, als überra­
schender Zugang zu einer literari­
schen Weltsicht: Mit ihren schma­
len Fingern skizziert Han Kang ein Gewimmel
aus Beinchen und Flügeln in die luft – insek­
ten. Später wird sie gedankenverloren einen
Tausendfüßler auf ihre Serviette kritzeln. Das
insekt als Medium der Wahrnehmung und
Selbstwahrnehmung. in ihrer Kindheit in Süd­
korea habe sie im Fernsehen oft Dokumen­
tationen über insekten gesehen. »Über diese
Kreaturen, die auf den ersten Blick hässlich er­
scheinen. ich habe mich an ihre Stelle versetzt.
ich stellte mir vor, dass auch wir in ihren Augen
befremdlich und hässlich wirken. und plötz­
lich schien mir in der Welt meiner Kindheit
alles gleichberechtigt zu sein. Bis heute prägt
das meinen Blick auf das leben.«
Wir sitzen in der ruhigen Ecke eines holz­
getäfelten Restaurants in der Altstadt von Zü­
rich. Han Kang, die wohl bedeutendste südko­
reanische Schriftstellerin ihrer Generation und
seit ihrem Roman Die Vegetarierin (2016 aus­
gezeichnet mit dem Man Booker Prize) ein lite­
rarischer Weltstar, wirkt ein wenig mitgenom­
men von der langen Anreise aus Seoul.
Da ist sie also: eine Gigantin mit feinen
Zügen und unfassbar leiser Stimme. Die Auto­
rin, die mit distanziertem Blick von der Faszi­
nation und dem Fluch der Verweigerung er­
zählt. Han Kangs Figuren berühren in ihrer
Sehnsucht nach Ausbruch und Rebellion, die
immer wieder in Zerstörung und Selbstzerstö­
rung mündet. Wer die Bücher dieser südkorea­
nischen Schriftstellerin liest, wird schnell bei
sich und uns allen ankommen. Etwa bei der
einfachen und großen Frage, wie sich zwischen
Normen, ungeschriebenen kulturellen Geset­
zen und festgeschriebenen lebensformen ein
eigener Weg finden lässt. Han Kangs Figuren
versuchen zumindest, ihn zu gehen. Selbst
wenn sie dabei scheitern müssen.
Der Fleischverzicht von Yong­hye aus Die
Vegetarierin ist für ihre umwelt ein Angriff. Alle
fühlen sich provoziert: ihr Ehemann, der sich
deshalb vor seinen Arbeitskollegen schämt und
seine Frau verlassen will. ihr gewalttätiger Vater,
ein ehemaliger Militär, der bei Familienessen da­
mit prahlt, wie er während des Viet nam krieges
aufseiten der Amerikaner die Viet cong erledigt
habe. Die Ärzte und Pfleger der Psychiatrie, die
nach Yong­hyes totaler Essensverweigerung bru­
tal versuchen, sie künstlich zu ernähren.
Wie in allen Büchern von Han Kang gibt es
auch in Die Vegetarierin eine leise, introvertierte
Erzählung hinter der Erzählung. Die stille Rebel­
lion gegen den Fleischkonsum ist auch Reaktion
auf eine andere, umfassende Brutalität. Sie hat
mit der Geschichte des landes zu tun, mit einer
angeschlagenen Gesellschaft, die nach kaum ver­
arbeiteten Kriegen und Diktaturen erst langsam
in eine Demokratie hineinwächst, mit über­
kommenen und seltsam traurigen Geschlechter­
verhältnissen in hypermodernen Hochhaus­
schluchten. Mit Familien, in denen schon jeder


für sich zu leben scheint, bevor der Eklat die iso­
lation nach außen kehrt.
Hinter den Worten und Sätzen spürt man die
Gewalt. Sie lauert in der radikal einfach gehaltenen
Sprache, drängt sich immer wieder in den Spalt, der
durch Han Kangs multiperspektivisches Erzählen
entsteht. Auch das Facettenauge eines insekts setzt
die Welt aus unzähligen Bildern zusammen.
Die Vegetarierin ist aus drei aufeinander­
folgenden Blickwinkeln geschrieben – Ehemann,
Schwager, Schwester der Heldin. Wirklich an­
teilnehmend erscheint nur die Schilderung der
Schwester. Zwischen Entsetzen und Mitgefühl
blickt sie auf Yong­hye, die langsam entschwin­
det aus der Welt des Fressens, Schlagens, Tötens,
Schuldigwerdens und die davon träumt, sich in
einen Baum zu verwandeln.
Mit Anfang zwanzig sei sie selbst eine Weile
Vegetarierin gewesen, sagt Han Kang. »Alle waren
freundlich zu mir, aber ich fühlte den Druck der
sozialen Normen. Für mich war es eine einfache
Entscheidung. Aber allein das hat die leute schon
beunruhigt.« Während wir die Speisekarte an­
schauen, sprechen wir über die südkoreanische
Küche. Über die unendliche Vielfalt der Fleisch­
und Fischzubereitung. Die Reporterin erinnert sich
an eine ganz eigene Erfahrung in Korea: Tinten­
fische, die so frisch zerhackt werden, dass sich ihre
Tentakel noch am Teller festhalten. Obwohl sie
gleich zum Mittagessen verabredet ist, bestellt Han
Kang Schokoladenkuchen: »Wenn man im Jetlag
ist, kann man sowieso zu jeder Zeit alles essen.«

N


ach Europa ist Han Kang gekom­
men, um die deutsche Fassung
ihres Romans Deine kalten Hände
vorzustellen. in Korea erschien das
Buch bereits 2002, fünf Jahre vor
Die Vegetarierin. Der Protagonist unhyong ist ein
eigenbrötlerischer Bildhauer. Er ist davon beses­
sen, Abdrücke seiner Modelle zu nehmen, das
innere des Körpers über dessen Hülle zu erkun­
den. Dieser Künstler wirkt wie ein Versehrter.
Eine unterirdische Verwandtschaft scheint ihn
mit Yong­hye aus Die Vegetarierin zu verbinden,
die bis zu ihrem achtzehnten lebensjahr von ih­
rem Vater mit dem Rohrstock geschlagen wurde.
Über die Kindheit des Bildhauers herrscht eine
gefühlskalte Mutter, die mit äußerer Anmut und
Diskretion den Haushalt der Familie führt und
an der unhyong erlebt, »wie falsch ein lächeln
sein kann«. im Roman heißt es über die Mutter:
»Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke,
dass ihr Gesicht einer Maske glich.
Einer weißen Maske.
Einer lächelnden, harten Maske.«
Man denkt an Totenmasken, ganz so, als läge
über dieser Kindheit schon der Eishauch des Er­
starrens. »in seiner Kindheit hatte der Bildhauer
das Gefühl, nicht zu seiner Familie zu gehören«,
sagt Han Kang, »und irgendwie gehörte er auch
nicht zur Menschheit.« Auch diese Einsamkeit
teile er mit Yong­hye aus Die Vegetarierin. Über­
haupt sei Einsamkeit eine Schlüsseleigenschaft
ihrer Figuren.
Erst jetzt, siebzehn Jahre nach dem Erschei­
nen des Buches, habe sie Deine kalten Hände auf

dem Flug nach Europa wieder gelesen. Sie wirkt
amüsiert, wenn sie von sich, der Autorin, spricht
wie von einer fremden Person: »ich fand diese
Schriftstellerin sehr hartnäckig. Es scheint, als
wollte sie mit der Figur des Bildhauers in etwas
eindringen.«
Jede der Figuren in Deine kalten Hände trägt
ein Rätsel in sich. Oder auch einen Bruch, der aus
der Vergangenheit rührt. Durch den Blick des
Bildhauers erkundet Han Kang diese Abgründe
mit protokollarisch anmutendem Tonfall – und
produziert dabei immer neue Geheimnisse.
Obsessiv versenkt sich der Bildhauer in die
Gipsabdrücke einer extrem übergewichtigen Stu­
dentin: l., mit der er ein Verhältnis beginnt.
Doch sie wird sich für einen anderen Mann fast
zu Tode hungern, schwankend zwischen Anore­
xie und Bulimie. Er lernt die attraktive, fast zu
schöne innenarchitektin E. kennen und beginnt
mit ihr eine ähnlich obsessive Beziehung.
Für die beiden Frauen in Deine kalten Hände
ist der Körper Schutz, Maske, Panzer – eine
Oberfläche, die der Bildhauer durch seine Ab­
drücke zugleich verdoppeln und durchdringen
will. Vergeblich. irgendwann wird eine der
Frauen ihre Gipsform mit dem Hammer zer­
schlagen. Was bleibt, sind »Trümmer, die wie zu
einem flachen Grabhügel angehäuft waren«.
Die Motive späterer Bücher von Han Kang
scheinen hier schon auf: die Auseinandersetzung
mit Körperlichkeit, der Versuch, die menschliche
Physis in ihren Formen, ihrer Textur, in ihren
anatomischen Details festzuhalten – von Grüb­
chen am Kinn über Narben und Dehnungsstrei­
fen bis zu akribisch beschriebenen Fettwülsten.
»ich stellte mir den Bildhauer als jemanden vor,
der Augen hat, die durch alles hindurchsehen
wollen«, sagt sie. »Diese Augen kennen keine
Vorprägung, keine Vorurteile, sie nehmen keine
Schönheit oder Hässlichkeit wahr. Sie registrie­
ren nur. letztlich sind sie nackt.«
Nackt wie die insektenaugen, durch die sie als
Kind auf sich und ihre Welt zu blicken versucht.
Nackt wie Han Kangs Sprache, die fasziniert und
beunruhigt. Weil sie eine ohrenbetäubende Stille
nachklingen lässt. Man muss diese Schriftstelle­
rin lesen, wenn man begreifen will, wie sich eine
kollektive Verdrängung in das leben der Einzel­
nen hineinfrisst.
»Meine erste Erinnerung stammt aus Gwang­
ju« – so lautet der erste Satz der ich­Erzählung von
Deine kalten Hände. Gwangju, die Stadt, in der
Han Kang 1970 geboren wurde, war Schauplatz
eines entsetzlichen Verbrechens und wurde zum
inbegriff eines nationalen Traumas. im Mai 1980
demonstrierten an diesem Ort im Südwesten des
landes Studenten gegen die südkoreanische Mili­
tärdiktatur, gegen das Kriegsrecht und die Zensur.
Bei der Niederschlagung des Aufstands richte­
te das Militär ein Massaker an. Es gab mehr als
2000 Tote, darunter auch viele Kinder und Schü­
ler. Es folgten Verhaftungen, Folterungen. Jahr­
zehntelang wurden die Taten geleugnet und
vertuscht, bis heute wurde keiner der Verantwort­
lichen zur Rechenschaft gezogen. Kurz vor dem
Massaker war Han Kangs Familie von Gwangju
nach Seoul gezogen. Sie sei neun Jahre alt gewesen,

als sie durch das Flüstern der Erwachsenen von
den Ereignissen gehört habe, erzählt sie. Als Elf­
jährige habe sie einen im Bücherregal ihres Vaters
versteckten und illegal gedruckten Band gefunden,
mit Texten über die Ereignisse und mit Fotos der
Ermordeten. Etwa dem Bild eines Mädchens, das
Gesicht von Bajonettstichen entstellt. Als sie dieses
Bild gesehen habe, sei etwas in ihr zerbrochen: »Als
ich von Gwangju erfuhr, habe ich das Vertrauen
in die Menschen verloren. Darüber zu schreiben
war der einzige Weg, es wiederzuerlangen.«

I


n ihrem vor zwei Jahren erschienenen Ro­
man Menschenwerk leistet Han Kang die
Trauerarbeit, zu der ihr land erst langsam
imstande ist. in einer vielstimmigen Er­
zählung evoziert sie die meist jugendlichen
Toten, ruft sie an, macht sie lebendig, schildert
deren Gedanken, Ängste, Sehnsüchte. Eines der
erschütterndsten Kapitel wird aus der Perspek­
tive einer Seele erzählt. Es ist die Seele eines
Jungen, dessen Körper in einem Berg von lei­
chen liegt. Mit allen anatomischen Details be­
schreibt Han Kang die Verwesung und Auflö­
sung des Körpers bis zu dessen Verbrennung
durch Soldaten. Am Ende wird sich die Seele von
den verkohlten Resten lösen und aufsteigen, »in
einen leeren Raum ohne licht«.
in Menschenwerk, das wie alle anderen Roma­
ne im Aufbau­Verlag erschienen ist, gelingt Han
Kang etwas fast unmögliches: für das Grauen
eine literarische Form zu finden, die es nicht ver­
harmlost, sondern umfängt. Sie erweist den To­
ten Respekt, indem sie sie zu Personen, Akteuren,
Subjekten macht. »Diese Menschen sind gestor­
ben, weil sie gerade nicht zu Opfern werden woll­
ten«, sagt sie. und: »Man kann das Trauma nicht
heilen. Man kann es nur annehmen.«
Han Kang schlägt vor, ein paar Schritte zu
laufen. Wir gehen durch die Zürcher Altstadt
und sprechen weiter. Die Arbeit an jedem Ro­
man erlebe sie als persönlichen Verwandlungs­
prozess, aber das Buch über das Massaker habe
sie zutiefst verändert, sagt Han Kang. in welche
Richtung? »ich habe immer noch Albträume.
inzwischen sind sie abstrakt und nicht mehr so
körperlich. letztlich werde ich mit jedem mei­
ner Bücher empfindsamer, weil ich wie die Figu­
ren fühle, über die ich schreibe.«
Oft werde sie bei der Arbeit krank. Als sie in
Deine kalten Hände die bulimische Protagonistin
beschrieben habe, sei ihr immer wieder übel ge­
worden. Sie habe sich übergeben müssen. Han
Kang erzählt das bar jeden Selbstmitleids. So
nüchtern, wie sie schreibt.
Man stellt sich vor, dass es eine Bürde sein kann,
auf so physische Weise Figuren zu bewohnen, die
sich in stummer Verweigerung in Pflanzen ver­
wandeln. Die sich zu Tode hungern. Die in extrem
dickleibigen oder auch anorektischen Körpern le­
ben. Die verwesend in einem leichenhaufen liegen.
»Aber nein«, sagt Han Kang. ihre Bücher emp­
finde sie als Weg. »Wenn ich diesem Pfad folge,
bleibe ich auf meinem eigenen. ich konzentriere
mich auf die Sprache und meine Gedanken und
kann durch all das hindurchgehen. Nur wenn ich
nicht schreibe, fühle ich mich verloren.«

Ohrenbetäubende Stille


Fressen, Schlagen, Töten, Schuldigwerden: Eine Begegnung mit der großartigen südkoreanischen Schriftstellerin


Han Kang, die menschlichem leid eine unerhörte Sprache gibt VON KATJA NICODEMUS


»Nur wenn ich nicht
schreibe, fühle
ich mich verloren«,
sagt Han Kang

Der Albtraum


des Häftlings


Vor 100 Jahren kam der Schriftsteller
Primo levi zur Welt VON IRIS RADISCH

A


ls der am 31. Juli 1919 in Turin ge bo­
rene Doktor der Chemie Primo levi
1945 im Kon zen tra tions lager Auschwitz­
Mono witz von den Sowjets befreit wur­
de, hatte er dort, wie er später bitter spottend auf­
listete, in seiner annähernd einjährigen Haftzeit
eine maximale Zahl von Berufen ausgeübt. Er war
Maurergehilfe, Erdarbeiter, Straßenkehrer, Toten­
gräber, Dolmetscher, Fahrradreparateur, Schneider,
Dieb, Hehler, Krankenwärter, Steinklopfer und
sogar Chemiker bei der iG Farben. Zumindest für
die letztgenannte Zwangsarbeit ist er nachträglich
entschädigt worden. Der deutsche Chemiekonzern
zahlte dem ehemaligen Auschwitz­ Häft ling eine
Wiedergutmachung von 122,70 D­Mark.
Nach Auschwitz kam er, nachdem er als Partisan
gefangen genommen wurde und gestand, Jude zu
sein, um nicht, wie er befürchtete, als Mitglied der
Resistenza erschossen zu werden – eine, wie sich
später herausstellte, unbegründete Angst. im Fe bru­
ar 1944 wurde er gemeinsam mit 650 anderen italie­
nischen Juden im Güterzug nach Auschwitz trans­
portiert, eine sich über Tage hinziehende Reise ohne
Wasser, ohne Abort, bei großer Kälte.
Sein nach der Befreiung »wie in Trance« ge­
schriebener Bericht über
Auschwitz war eins der ersten
literarischen Zeugnisse des
Holocausts. Ist das ein
Mensch? stieß nach Kriegs­
ende auf taube Ohren. Nata­
lia Ginzburg lehnte levis
Buch im Namen des Ein­
audi­ Ver la ges genauso ab wie
Gallimard (wo Albert Camus
im lektoratskomitee saß) das
frühe KZ­Buch Das Men-
schengeschlecht des Franzosen Robert An telme. So
erschienen die bedeutenden Zeugnisse des Holo­
causts notgedrungen zunächst beinahe unter Aus­
schluss der Öffentlichkeit an entlegener Stelle, von
levis Erstauflage verkauften sich 1400 Stück. Die
schockstarre ignoranz der europäischen intellektuel­
len löste sich nur langsam. 1958 erschien levis Buch
bei Ein audi. 1961 folgte die erste deutsche Überset­
zung. Der in Auschwitz immer wiederkehrende Alb­
traum des Häftlings – er kommt nach Hause, und
niemand ist bereit, ihn anzuhören, alle unterhalten
sich über andere Dinge – hat sich auf diese Weise
bewahrheitet, bis das Buch in den Sechzigerjahren
endlich in seinem Rang erkannt wurde.
levis Bericht über seine Erlebnisse in Auschwitz
berührt wegen seiner kalten und unmittelbaren Prä­
zi sion. Er habe, sagte levi, der stets gern und ausführ­
lich Auskunft gab, nichts nachträglich hinzugefügt
und nur geschrieben, was er damals gewusst und erlebt
habe. Ebenso wie später imre Kertész in seinem
Roman eines Schicksallosen schrieb levi in einem kom­
mentarlosen, unpathetischen Stil, der jede Anklage

ausschloss. Die Empörung, fand er, müsse beim leser
entstehen, nicht beim Autor.
Seine Verbindung zu Deutschland blieb zwiespäl­
tig. Einerseits betonte er die untilgbare »kollektive und
allgemeine Schuld nahezu aller Deutschen, dass sie
nicht den Mut besessen haben zu sprechen« – über
das, was offensichtlich war. Andererseits besuchte er
noch als Rentner Deutschkurse im Turiner Goethe­
institut. im lager hatte er privaten Deutschunterricht
mit einem Teil seiner Brot ra tion bezahlt, der kost­
barsten Währung, die es je gab.
Sein bestes Buch ist der autobiografische Roman
Das periodische System. Sein melancholischstes ist Die
Untergegangenen und die Geretteten, das er kurz vor
seinem tödlichen Sturz in den Treppenschacht seines
Wohnhauses im Jahr 1987 voll ende te. Da war er erst
67 Jahre alt. Die Scham und die Schuld gegenüber
den Toten von Auschwitz, schrieb er in seinem letzten
Buch, haben ihm keine Ruhe gelassen.

LITERATUR


FEUILLETON 37


Fotos (Ausschnitte): Arnaud Meyer/Opale/Leemage/laif; Basso Cannarsa/Opale/Bridgeman Images (r.)

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Levi überlebte
Auschwitz – und
schrieb darüber
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