Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

DAS ZEIT-TEAM EMPFIEHLT


(Lese-) Geschmäcker sind bekanntlich verschieden. Wir haben mal bei den Kollegen nachgefragt, welche Edition sie am liebsten mögen.


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weil mir bereits die Titelauswahl und Arbeit daran viel Spaß
gemacht hat, sondern auch weil ich die besondere Kombination
der Themen Reisen und Lesen schön finde. Beide haben etwas
Sehnsüchtiges, und wer zuhause bleibt, kann mit diesen Romanen
wunderbar in die Ferne schauen.«

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  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31 FEUILLETON 43


A


ls der Autor dieses Nachrufs vor zehn
Jahren die Schriftstellerin Brigitte Kro­
nauer in ihrem Haus in Hamburg be­
suchte, war er irritiert, weil er den Ein­
druck hatte, dass der Mann, der ihn eben begrüßt
hatte, ein anderer war als der, der nun fragte, ob
der Besucher eine Tasse Tee wolle. Doch er be­
schloss, die kognitive Dissonanz zu ignorieren.
Erst als er wieder in der Redaktion saß und ihm
klar wurde, dass die Homestory so nicht zu
schreiben war, griff er zum Telefon und rief Frau
Kronauer an. Sie sagte, mit einer gewissen gna den­
losen Amüsiertheit: »ich hatte mich schon gewun­
dert, warum Sie gar nicht gefragt haben.«
Seit den Siebzigerjahren lebte Brigitte Kronauer
in einer Ménage­à­trois, als wäre das eine zwar an­
spruchsvolle, aber ebendarum auch sehr kostbare
lebensform. Die Mischung aus Delikatesse und
Diskretion, aus unkonventionalität und Form­


bewusstsein, aus Stil und Exzentrik, aus Radikalität
und Traditionsbewusstsein aber ist auch charakte­
ristisch für ihr großes literarisches Werk.
Als die deutsche literatur, die nach 1945
im Zeichen des Kahlschlags gestartet war,
den Nullpunkt ihrer stilistischen Aus­
druckslosigkeit erreicht hatte, machte
Brigitte Kronauer im Jahr 1980 mit ih­
rem Debütroman Frau Mühlenbeck im
Gehäus, der das Gegenprogramm dazu
darstellte, auf sich aufmerksam: Eine
Manieristin, deren Satzketten von akro­
batischer Gewagtheit waren, ergriff das
Wort. »Makellose Prosa« bescheinigte
Fritz J. Raddatz 1986 Kronauers Roman
Berittener Bogenschütze, in dem der Protagonist, ein
liebling der Frauen, der Hohlheit der leidenschaf­
ten nachforscht. in ihrem Roman Zwei schwarze
Jäger von 2009 ist von einer Frau die Rede, die einst

eine Schönheit war, aber jetzt an den Rollstuhl ge­
fesselt ist. Sie schaut auf ihr leben zurück: »Das
leben, die liebe, die Fülle der Jugend!
War sie nicht immer auf solche leucht­
türme zugesegelt, und plötzlich merkte
sie, wie sie daran vorüberglitt, wie sie
nicht mehr in steiler Vorwärtsfahrt die
lichter im Visier hatte, sondern schon,
ohne ihnen nahe gekommen zu sein, in
voller Fahrt und Entfernung, begierig
darauf zurückblickte.«
Opulent im Formenspiel, stilistisch
überbordend, sprachverliebt durch und
durch, alle Klangfarben des Deutschen
abrufend, die seit Jean Paul, ihrem gro­
ßen Vorbild, intoniert worden waren – so wurde
Kronauer zur Klassikerin. Stilisten wie Eckhard Hen­
scheid und Martin Mosebach zählten zu ihren Be­
wunderern. Zwar war sie eine Autorin für die happy

few, aber von denen wurde sie wie eine Grande Dame
bewundert – und wie eine Grande Dame rauchte sie
auch ihre Zigaretten!
Preziös und komisch war ihr Stil, als wären beides
natürliche Erscheinungsformen quecksilbriger intel­
ligenz. Sie war eine Menschenbeobachterin – mit
jener gewissen lust an der Grausamkeit, ohne die
man sich den scharfen Blick auf die Welt auch gleich
schenken kann. Pageturner waren ihre Romane
nicht. Nicht anders als bei der lektüre von Jean Paul
muss man sich Zeit nehmen für jeden Kronauer­Satz
und ihn sich von allen Seiten genau anschauen, sonst
läuft man Gefahr, die eine oder andere Boshaftigkeit,
die sie noch darin versteckt hat, zu übersehen – was
schade wäre.
Der Plot indes war ihre Sache nicht. in ihrem
letzten Werk Das Schöne, Schäbige, Schwankende (es
erscheint in wenigen Wochen) spießt sie diesen Vor­
wurf selbstironisch auf. Die Erzählerin, selbst

Schriftstellerin, teilt ihre Figuren, in Nachfolge von
Dantes Göttlicher Komödie, in drei Gruppen ein: Die
Schäbigen, heißt es, stürzten von einer akzeptablen Po­
sition aus ins »unerfreuliche«, bei den Schönen würde
sich erst allmählich »ihr Aufstieg abzeichnen aus der
normalen lebenstrübnis zur lichten Offenbarung«, die
Schwankenden hingegen würden unentschieden an­
fangen, »zu einem glänzenden Moment aufsteigen und
von dort aus wieder« absinken. Drei lebenslinien hat
die Protagonistin also auf lager, ein Erzählprogramm,
mit dem sie auf den Vorwurf reagiert, »vom sogenannten
Plot nichts zu verstehen«. Das solle man ihr nicht noch
einmal sagen! Mit einem gewissen aggressiven Trotz gibt
sie ihrem Manuskript den Titel Glamouröse Handlungen.
Natürlich gibt es das nicht: glamouröse Handlungen. Es
gibt nur die glamourösen Wörter, die wir dafür finden.
Brigitte Kronauer, die Grande Dame der deutschen lite­
ra tur, ist nach schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren
in Hamburg gestorben.

Glamouröse Handlungen


Zum Tod von Brigitte Kronauer, der Grande Dame der deutschen literatur VON IJOMA MANGOLD


Geduld mit der Wahrheit


Dystopien bewegen uns zum Handeln, utopien zum Warten. Zum Tod der Philosophin Ágnes Heller VON LUDGER HAGEDORN


S


ie konnte ungeduldig sein, mit sich
und mit anderen, ungeduldig in
ihrem philosophischen Drang, der
sie antrieb. Es war eine ungeduld
der mitreißenden und begeistern­
den Art. Die Verve und das Zupa­
ckende ihres Denkens und Spre­
chens schienen den Raum geradezu physisch zu
ergreifen. Über ihre früheren Bücher sagte sie
Sätze wie: »Ach, das war doch viel zu lang, um
wahr zu sein.« Man verstand es als Witz, doch es
steckte darin dieselbe ungeduld, die sie zwang,
sich nie auszuruhen bei dem Erreichten.
Am vergangenen Freitag starb die große unga­
rische Philosophin Ágnes Heller im Ferienort Ba­
latonalmádi am Plattensee. Sie starb, wie sie lebte



  • mutig und unbeirrt: Sie sei, so berichten Augen­
    zeugen, weit hinausgeschwommen in den See, so
    wie immer, aber diesmal kehrte sie nicht ans ufer
    zurück. Vor einigen Wochen war sie 90 geworden.
    Seit Jahren hatten Freunde sie gebeten, aus Rück­
    sicht auf ihr Alter nicht so weit hinauszuschwim­
    men. Seitdem schwamm sie nur noch zwei statt
    drei Stunden. Das war ihre Art von Konzession.
    Die ungeduld trieb Ágnes Heller an. Doch
    wenn es eine große leitlinie in ihrem Denken
    gibt, dann ist es die Geduld mit der Wahrheit.
    Diese Geduld musste sie lernen. ihre frühen phi­
    losophischen Entwürfe zeugen vom Willen zur
    radikalen politischen Veränderung. Als Kind jü­


discher Eltern entging sie mit ihrer Mutter der
De por ta tion durch die Nazis nur knapp; ihr Vater
wurde im Konzentrationslager ermordet. Nach
dem Krieg wurde sie Mitglied der Kommunisti­
schen Partei, aus Überzeugung, wie sie sagte. Aber
schon bald geriet sie in Widerspruch mit der Füh­
rung; gleich zweimal wurde sie aus der Partei aus­
geschlossen. »Wir wollten die Erlösung nach die­
sem Krieg. Alle Philosophen wollten die Erlösung,
aber langsam kam uns zu Bewusstsein, dass wir
eine falsche Erlösung wollten, dass wir einen fal­
schen Glauben hatten.«
Sozialismus verstand Ágnes Heller als radikale
Demokratie, nicht als Diktatur. Doch auch diese
positive utopie des Sozialismus kam ihr immer mehr
abhanden. Sie neigte nicht zu radikalen Verände­
rungen ihres Denkens, sondern wollte auf ihrem
philosophischen Schiff stets nur die Planken erset­
zen, die morsch geworden waren.
Einen entscheidenden Wendepunkt, sagte sie,
habe es in ihrem leben allerdings gegeben: Es war
der Moment, als sie bemerkte, dass sie den ideen
des universalen Fortschritts und der revolutionären
Veränderung des Menschen nicht mehr vertrauen
wollte und konnte, denn das Paradies auf Erden
werde es nie geben. und so ließ Ágnes Heller die
großen Erzählungen der Geschichtsphilosophie
hinter sich, und das bedeutete nicht nur eine Abkehr
von Karl Marx, sondern auch vom Fortschritts­
denken Hegels. Sogar von ihrem geliebten Kant

nahm sie Abschied, weil sie dessen unterscheidung
von den zwei Reichen – dem Reich der Freiheit und
dem Reich der Natur – als metaphysisch ablehnte.
Eines ihrer neueren Werke trägt den Titel Vo n
der Utopie zur Dystopie. Es drückt sich in diesem
Titel keineswegs Resignation aus, ganz im Gegen­
teil. Es ist ein philosophisches Plädoyer, in dem
fast so etwas wie Hoffnung steckt: Weil utopien
lügen, erwachse aus dem Glauben an die utopie
notwendig die Verzweiflung. Dystopien hin gegen,
so Heller, warnten uns vor einer schreck lichen Zu­
kunft und beließen uns dabei die Freiheit, eben­
dieses Szenario abzuwenden. Dystopien bewegen
uns zum Handeln, utopien zum Warten.
Neben der Geschichtsphilosophie betrieb Ág­
nes Heller Moralphilosophie, drei große Werke hat
sie dazu verfasst. Auch hier neigte sie zu Zurück­
haltung: »Niemand ist moralisch geworden, weil er
den kategorischen imperativ verstanden hat.« Mit
Moralphilosophie erreiche man nur diejenigen, die
für sich selbst schon die Entscheidung getroffen
hätten, moralisch sein zu wollen. Eine große Rolle
spielten für Heller Vorbilder. Wie Aristoteles an
einem Freund, so orientierte sie sich zeitlebens an
ihrem Vater, einem Budapester Rechtsanwalt und
überzeugten Kantianer. Doch auch die Gespräche
mit ihrer Großmutter Zsófia Meller blieben ihr in
Erinnerung. Von ihr hatte sie die Überzeugung,
dass das moralisch gute leben nicht im Wider­
spruch zum schönen leben stehen müsse.

Eigentlich, so sagte Ágnes Heller einmal, gehe
es in ihrer gesamten Philosophie nur darum, zu
verstehen, wie Auschwitz und der Gulag möglich
gewesen seien. Zu verstehen bedeutete für sie et­
was prinzipiell anderes, als zu hassen. Systeme
und das totalitäre Regime wollte sie hassen, aber
nie die Menschen, nicht einmal die Übeltäter. Es
ist diese zutiefst humanistische Überzeugung, die
ihre Philosophie vielleicht mehr charakterisiert als
jede noch so ausgefeilte Theorie.
Schon lange vor ihrer Emigration im Jahr
1977 war sie eine philosophische Kosmopolitin.
Doch auch in den Jahren in der Fremde, als sie
zunächst in Australien und dann als Nachfolgerin
Hannah Arendts an der New School of Social Re­
search in New York lehrte, blieb ihr Bekenntnis:
»ich bin eine ungarische Jüdin, und ich liebe die
ungarische Sprache.«
Deshalb war es für sie selbstverständlich, dass
sie nach ihrer Emeritierung nach Budapest zu­
rückkehrte. Mit Kritik am Regime Orbán hat
Ágnes Heller nie gespart, und so beschrieb sie in
ihrem letzten Buch die Entwicklung ungarns
nach dem Fall der Mauer 1989 als eine doppelte
Wende: als Wende »von der Diktatur zur liberalen
Demokratie und von dieser zur Tyrannei«. Das
Buch trägt den Titel Paradox Europa und ist Aus­
druck einer tiefen Sorge um die politische Ent­
wicklung des Kontinents. Nun ist es zu ihrem
Vermächtnis geworden.

Ágnes Heller
* 12. 5. 1929
† 19. 7. 2019

Fotos [M]: Basso Cannarsa/Opale/Leemage/ddp images; Isolde Ohlbaum; Markus Scholz/dpa

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D


ie erste literaturkritik von Peter
Hamm erschien in der ZEIT im Mai
1963, die letzte im Januar 2019. Über
einen längeren Zeitraum hat kein anderer Kri­
tiker in der ZEIT publiziert. Dabei hat sich
Peter Hamm nie als Kritiker verstanden, son­
dern als beeindruckend belesener Enthusiast
und Förderer. Noch in einer seiner letzten elek­
tronischen Botschaften an die Redaktion
schrieb er: »Von Anfang an war das mein Ziel:
den bedeutenden Autoren von der Peripherie,
den zu unrecht Vergessenen oder Übersehenen
zu ihrem Recht – d. h. zu deutschen lesern – zu
verhelfen. und bei dieser linie blieb ich, ob ich
für Robert Walser oder Hermann lenz missio­
nierte, für Pessoa oder die Katalanen Espriu
und Joseph Pla. Nicht ein einziges Mal habe ich
in der ZEIT über ein ›angesagtes Buch‹ ge­
schrieben, worauf ich stolz bin.«
Mit vielen Schriftstellern verband ihn eine
enge Freundschaft, mit
Martin Walser (der ihn in
seinem Roman Ein ster-
bender Mann nach dem
Zerbrechen der Freund­
schaft als einen feinsinni­
gen Dichter­Schnösel
karikierte, der vornehm
am Starnberger See mit
einer Ärztin logiert), mit
Hermann lenz (mit dem
er Briefe wechselte), mit
Peter Handke (der ihm
mit einer seiner namenlosen allegorischen Ro­
manfiguren als »der leser« ein Denkmal gesetzt
hat), mit vielen Autoren der Gruppe 47 (»das
waren alles meine Verbündeten!«), in der er als
19 ­jähriger lyriker debütierte. Über Jahrzehnte
war er so etwas wie der heimliche Gegenliteratur­
papst, der sich nicht für den Siegeszug des Nach­
kriegsrealismus begeistern wollte. Romanen, die
sich im Stofflichen und im Gesellschaftlichen
erschöpfen, fehlte in seinen Augen der Sinn für
das Absurde und unbegreifliche der Existenz, für
»das Geheimnis des Darüberhinaus«. in seinen
glänzenden Porträts der Außenseiter versteckte
sich auch das Selbstporträt eines Dichters, dessen
Überlebensprogramm nach einer schwierigen
Jugend darin bestand, die Überlegenheit des
unterlegenen zu kultivieren. Die Noblesse, mit
der er das tat, sucht ihresgleichen. IRIS RADISCH

Der


Gegenliteraturpapst


Peter Hamm war ein geborener leser
und ein Förderer der Außenseiter

Brigitte Kronauer
* 29. 12. 1940
† 22. 7. 2019

Peter Hamm
* 27. 2. 1937
† 22. 7. 2019

NACHRUFE

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