FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MONTAG, 2.MÄRZ2020·NR.52·SEITE 5
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er Frieden hielt nicht einmal
vierundzwanzigStunden lang.
Am Sonntag, einenTagnach-
demdieAmerikanerunddie
Taliban ihrAbkommen unterzeichnethat-
ten, zog der afghanische Präsident
Aschraf GhaniTeile derVereinbarung be-
reits in Zweifel. Esgeht um einengeplan-
tenGefangenenaustausch, der alsvertrau-
ensbildende Maßnahme den innerafgha-
nischenFriedensverhandlungenvorausge-
hen soll: Die afghanischeRegierung soll
bis zu 5000 inhaftierte Taliban freilassen;
umgekehrtsollen biszu1000 vonden Auf-
ständischengefangengenommeneRegie-
rungssoldaten freikommen.Undzwarin-
nerhalb derkommenden zehnTage –das
istdie Frist, die dasAbkommen für den
BeginnvonGesprächen der afghanischen
Kriegsparteien über die politische Zu-
kunftdes Landesvorsieht.
Anders als dieTaliban-Führung sieht
PräsidentGhani allerdings „keine Ver-
pflichtung“, den Austauschtats ächlich
vordem Beginn der Gespräche zuvollzie-
hen. Zudem, so hob er auf einer Presse-
konferenz inKabul hervor, stehe die Ent-
scheidung darüber der afghanischenRe-
gierung zu. „DieVereinigtenStaatenver-
mitteln.Vermitteln heißt nicht, Entschei-
dungen zu treffen.“ Ein Gefangenenaus-
tausch könnte Teil der Gesprächsagenda
sein, aberkeine Vorbedingung.
Die Äußerung zeigt, dassdas politische
Tauziehen zwischen derafghanischenRe-
gierung und denTalibanschon begonnen
hat.Die 5000Gefan genen sind für Ghani
ein wichtiges Faustpfand, das er nicht
leichtfertig aus der Handgebenwill –erst
will derPräsidentsicherstellen, dassdie Ta-
liban auchtatsächlich mi tder De legation
Kabuls inerns thafteVerhandlungeneintre-
ten. Damit wirftder Streit auc hein Schlag-
licht auf dasUngleichg ewicht, das nachAn-
sicht Ghanis in demVerhandlungsdreieck
Kabul-Washington-Taliban besteht:Die
VereinigtenStaaten haben am Samstagein
Abkommenmit de nTalibangeschlo ssen,
bei dem seine afghanischeRegierung au-
ßen vorblieb. Trotzder amerikanisch-af-
ghanischen Erklärung, diegleichzeitigin
Kabul veröffentlicht wurde und in derWa-
shingtonsichzur weiterenUnterstützung
Afghanistans bekennt,fürchtetGhani,sei-
ne Regierungkönne nachdem nunverein-
bartenAbzug aller ausländischenTruppen
unter dieRäder kommen.
Die Gefahr,dassdie Vereinbarungvom
Samstag, als sichder amerikanische Son-
derberater ZalmayKhalilzadund Tali-
ban-Vizechef Abdul Ghani Baradar in
Doha die Händereichten, alsAusver kauf
der afghanischenRegierung an die isla-
mistischen Aufständischen in die Ge-schichteeingehenkönnte, sahen durch-
aus auchdie Amerikaner.Präsident Do-
naldTrumpverzichteteaufeinegesonder-
te Veranstaltung imWeißen Haus zur
Würdigung des Ereignisses.Nach dem sei-
ne Sprecherin am Samstagmorgeneine
Erklärungveröffentlicht hatte, in der es
hieß, der Präsident unternehme einen
„historischen Schritt“, um „Frieden in Af-
ghanistan“ zu erreichen und „unsereSol-
daten nachHause zu holen“, nutzteer
selbstspäter eineUnterrichtungzum Co-
ronavirus, um ein paar Bemerkungen zur
Unterzeichnung desAbkommens zu ma-
chen: Er dankedem afghanischen Volk
und PräsidentGhani sowie den vielen
„verletzten Kriegern“ Amerikas, sagteer
im Weißen Haus.Dann kündigteeran,
sich„in nicht soferner Zukunft“ mit füh-
renden Vertretern der Taliban zu treffen.
AufNachfragefügteerhinzu, derAbzug
der Truppen beginne „sofort“, schränkte
aber ein: „Sollten schlimme Dingepassie-
ren, werden wir zurückkehren.“
Auch später,auf einerKonferenz einer
konservativen Interessengruppe in Mary-
land, warTrump darum bemüht, den Ein-
druc keiner militärischen Niederlagewie
im Vietnam-Krieg zuvermeiden.Viele
hättenvorihm versucht, eineVereinba-
rung mit denTaliban zu erreichen. Er aber
sei derjenige, dem esgelungen sei, diese
zu erzielen. DieTaliban seien desKämp-
fens müde, sagteer. Alle seien müde. Die
Soldatenwollten zurückkehren–nach
Jahren.UndAmerikasei nicht derWelt-
polizist. Er wiederholte, dassWashington
in Afghanistangewinnen könne. Dazu
müsse man aber „eine Million Leutetö-
ten“. Sodann sagteeru nter dem Jubel der
Zuhörer :„Wenn dieTaliban sichandie
Vereinbarung halten, wirdder längste
Krieg in der amerikanischen Geschichte
beendetsein.“ Trumpnanntedie Taliban
„große Kämpfer“.Wer das bezweifle, müs-
se nur „die Sowjetunion fragen“.
Etwas andereAkzentesetzten Außen-
minis terMikePompeo undVerteidigungs-
ministerMarkEsper,die der Präsident
am SamstagnachDoha respektiveKabul
entsandt hatte.„Wir stehen erst am An-
fang“, sagtePompeokurz vorder Unter-
zeichnung desAbkommens. Die inneraf-
ghanischenFriedensverhandlungen, die
nun einsetzen sollen, würden „harte Ar-
beit und Opfervonallen Seiten“ erfor-
dern. Zugleichhob er hervor, wasauchEs-
per bekräftigte: DasAbkommensei da-
vonabhängig, dassdie Taliban ihreZusi-
cherungen auchumsetzten.Washington
sei bereit, denAbzug zustoppen, sollten
sie wortbrüchigwerden.
Die Taliban verpflichten sichinder Ver-
einbarung dazu,keinen gegendie Verei-nigtenStaaten und ihreVerbündetenge-
richtetenterroristischen Aktivitätenvon
afghanischem Boden mehr zuzulassen.
Sie sollen also den Bruchmit Gruppenwie Al Qaidavollziehen. Dassdie Taliban
seinerzeit deren Anführer Usama Bin La-
din beherbergt hatten,warder Grund für
die Intervention der internationalenKo-alition nachden Anschlägenvom11. Sep-
tember 2001gewesen.
Im Gegenzug haben die Amerikaner zu-
gesagt, dassinnerhalbvon14Monaten
alle ausländischen Soldaten das Landver-
lassen–also die 16 500 Truppen der
Nato-Mission „ResoluteSupport“,vonde-
nen dieVereinigtenStaaten etwa die Hälf-
te stellen, sowie dieweiterenetwa 5000
amerikanischen Soldaten im Land.Esi st
geplant, dassder Abzug schrittweisevon-
stattengeht:Sowollen die Amerikaner
ihreTruppenstärkeinnerhalb derkom-
menden 135Tage auf 8600 Soldatenredu-
zieren und aus fünf Militärbasenkom-
plett abziehen. Dierestlichen Soldaten
sollen dann in den darauffolgenden neun-
einhalb Monaten das Landverlassen. Das
bedeutet dann auchdas Ende des Bundes-
wehreinsatzes am Hindukusch.
Der Anführer derTaliban, Hibatullah
Akhundzada, begrüßteine iner Mitteilung
das „Abkommen zum Ende der Besat-
zung“. DerAbzug der ausländischenTrup-
pen warimmer die wichtigsteForderungder Taliban gewesen. Dafür haben sie nun
auchzugestimmt, sichzuFriedensverhand-
lungen mit einer afghanischen Delegation
an einenTischzusetzen –wobei deren Zu-
sammenstellungnochähnlichumstritten
istwie dervorgesehene Gefangenenaus-
tausch. Denn Präsident Ghaniskürzlich
verkündete Wiederwahl hat einen Macht-
kampfmit RegierungsgeschäftsführerAb-
dullahAbdullah ausgelöst–dieserglaubt,
derknapp eSieg seinesKonkur renten Gha-
ni sei nur durchStimmenmanipulation zu-
stande gekommen.
GhanibekräftigteamSonntag, seineRe-
gierungwerdedie Zusammenstellung der
Delegation für die Gespräche mit denTali-
ban bestimmen. Zugleichsagteer, die De-
legationwerde über eine „beschränkteAu-
torität“ verfügen. Die Entscheidungsträ-
gerseien „dieVerfassung Afghanistans,
das Parlament und/oder die Loya Dschir-
ga“. DieTaliban dürften das anderssehen.
Ihr Verhandlungsführer Abbas Stanikzai
äußerte,esgebe keinen Zweifel daran,
„dasswir den Krieggewonnen haben“.HistorischesAbkommen: ZalmayKhalilzadundAbdulGhaniBaradar FotoEPAStreit wegen Strafanzeige
Eine Strafanzeigeführender Linken-
PolitikergegenBundeskanzlerinAn-
gela MerkelruftwenigeTagevor ei-
nem abermaligenWahlgang in Thü-
ringen Verärgerun ginParteiund Frak-
tion hervor. Insgesamt acht Linken-
Politiker,unter ihnen zweistell vertre-
tende Fraktionsvorsitzende, werfen
Merkelvor,sie habe sichimFalle des
vonamerikanischen Dienstengetöte-
teniranischen Generals Qassem Solei-
mani der „Beihilfedurch Unterlassen
zum Mord“ schuldiggemacht.Einige
der Anzeigeerstatter werden dem äu-
ßersten linken Flügel derPartei zuge-
rech net. Die ParteivorsitzendeKatja
Kippingverurteiltedas Vorgehen und
sagte: „Umeshöflic hund zitierfähig
auszudrücken: Ic hbin darüber alles
anderealsamüsiert.“Der Fraktionsge-
schäftsführer Jan Korteteiltemit:
„Das istmit derFraktion nicht abge-
sprochen, und ichhättemit Sicherheit
nicht zugestimmt.“ DerVorgang wird
vermehrtenVersuchenvonLinksex-
tremen in der Partei zugerechnet,
eine Öffnung zur Mittehin zuverei-
teln. (Kommentar Seite8.) pca.Neuer Regierungschef in
Malaysia
Malaysias König hat am Sonntag ei-
nen neuenRegierungschefvereidigt.
Der 72 JahrealteMuhyiddinYassin
hat nacheigenen Angaben die Mehr-
heit derAbgeordne tenimParlament
hintersich. SeinVorgänger undPartei-
kollege, der 94 JahrealteMahathir
Mohamad, hatte voreinerWoche
den Rücktritt eingereicht, nachdem
einig eAbgeo rdnet edie Regierungs-
koalitionverla ssen hatten. Siewoll-
tenoffenbar Mahathirsdesignierten
Nachfolger AnwarIbrahi mals Minis-
terpräsidentverhindern unddie in
Korruptionverwickelt elangjährige
RegierungsparteiUmno in dieRegie-
rung zurückholen. fäh.Lothar de Maizière 80
DasJahr 1990versammelt einigepersönli-
cheHöhepunkteimLeben Lothar de Mai-
zières, die den historischen Markenauf
dem Wegzur deutschen Einheitfolgen:
Am 18. Märzfand dieVolkskammerwahl
statt, bei der de Maizières CDUstärkste
Partei wurde und in derenFolgeeram12.
April das Amt des einzigen freigewählten
Ministerpräsidenten der DDR antrat, das
er bis zum 3. Oktoberversah, jenemTag,
an dem die fünf ostdeutschen Länder und
der Ostteil Berlins der Bundesrepublik bei-
traten. Das bedeutendste Datum wirdfür
ihn womöglichder 12. September jenes
Jahres sein, an dem er in derFunktion des
DDR-Außenministersden Zwei-plus-
Vier-Vertrag für Deutschland unter-
schrieb. Dasgeschah nach derletzten Run-
de derVerhandlungen in Moskau, nachei-
nem Arbeitsfrühstück, bei dem Hühnchen
Kiewund Weinbirne mit Preiselbeeren ser-
viertwordenwaren. De Maizièrehat die
Menükarte aufbewahrt; auf derRückseite
trägt sie für dieVertragspartner dieUnter-
schrif tender sechs Außenministerund die
Signatur Gorbatschows.Lothar de Mai-
zièreentstammt einer Berliner Hugenot-
tenfamilie, deren tiefgegründete Bürger-
lichkeit auchinvier Jahrzehnten Sozialis-
mus robustblieb. ErwarKonzertmusiker,
Violaspieler,bis eine Entzündung einen
Berufswechsel erzwang.Nach einem Jura-
studium rückteerindie kleine Gruppe
vonRechtsanwälten in der DDR auf,war
Mitglied der DDR-CDU,handeltemit
dem Staat of tUrteile für jene aus, diege-
gendie Spielregeln der Diktaturverstoßen
hatten.Nach 1990 bestritt ervehement,
dasserindieser Funktion auchinformel-
ler Informant derStaatssicherheitgewe-
sen sei. Ausdem politischen Leben des
vereinten Landes zog er sichdennochbald
zurück. An diesem Montag wirdLothar de
Maizièreachtzig Jahrealt. Lt.Die Taliban sind
große Kämpfer
Wichtiges inKürze Personalien
Nach dem Afghanistan-Deal istTrump bemüht,
den Eindruckeiner Niederlagezuvermeiden.
Derweil wir dumdie Umsetzunggerungen.
VonChristianMeierund Majid Sattar, Columbia