Der Standard - 02.03.2020

(coco) #1

DERSTANDARD Inland MONTAG,2. MÄRZ2020 | 5


I

ch bin mehr oder weniger in die Burschenschaft
hineingeboren worden. Mein Vater war Burschen-
schafter, ich bin mit dem Ganzen aufgewachsen.
Wir haben alle möglichen Feste dort verbracht. Seine
VerbindunghatteeinSommerheim,wowirunsereFe-
rien verbracht haben, in der Kindheit jedes Jahr zwei
bis drei Wochen.
Ich war in der Unterstufe im Internat, undals ich
dann wieder in der öffentlichen Schule war, habe ich
versucht, die Beziehung zu meinem Vater auszu-
bauenund ihm nah zu sein. Deshalb bin ich dann mit
15 Jahren einerpennalen Burschenschaftin Wien bei-
getreten.
Positiv war die Gemeinschaft,
es ist eine verschworene Gemein-
schaft, etwas Elitäres. Es ist sehr
martialisch, ich kannte sehr viele,
die früh einen Schmiss hatten. In
der jugendlichen „Sturm und
Drang“-Phase reizt einen das. Ich
habe drei Mensuren gefochten,
zwei Mal wurde ich abgeführt mit
einemLappenund riesengroßen
Schmissenund einmal mit einem
Scherzerl.Einmal habe ich unblu-
tig beendet. Man kann sich das
von außen wohl nicht vorstellen
–esist vielleicht vergleichbar mit
„Freeclimbing“, dem Adrenalin-
stoß am „offenen Schlachtfeld“.
Man weiß, dass man nicht sterben
kann, aber es geht ordentlich zur
Sache undtut sehr, sehr weh.
Ich war in der pennalen Bur-
schenschaft, bis ich 18 Jahre alt
war. Zum Schluss war ich nicht
mehr viel dort, ich habe es gemie-
den. Die akademische Burschen-
schaft meines Vaters, wo ich fast
alle kannte, hatte eben dieses
Sommerheim. Da wurde heftigst
gesoffen, in dem Alter fand ich
das total cool –Besäufnis bis fast zur Bewusstlosigkeit.
An einem dieser Abende, mit 16 oder 17, waren ein
paar Leute im Sommerheim. Es war ein ruhiger
Abend,wir haben viel getrunken. Ich wollteamSee
schlafen,bin weggedöst.Irgendwann kamjemand zu
mir, ich dachte mir zuerst,der will auch da schlafen.
Der hat sich dann auch neben mir niedergelegt.Nach
kurzem habe ich gemerkt, wieich gestreichelt wur-
de; mir ist zuvor im Internat so etwas schoneinmal
passiert. Ich habe mich gewehrt, gesagt:„Was soll
das, lass das.“ Es war ein älterer Burschenschafter,
21, 22 Jahrealt. Er hat mich zurückgedrücktund ge-
droht,den anderen etwas zu erzählen. Man ist jeman-

dem ausgeliefert,der in einer hierarchischenStruktur
über einem steht. Ich wurde zum Oralsex gezwun-
gen; als es vorbei war, habe ich meinen Rausch ausge-
schlafen.
Es war nicht so, dass es eine Annäherung oder ein
„Test“ war oder dass man Gefühle füreinander hat; es
war vielmehr ein harsches Übernehmen, ein „Mach
jetzt mit, sonst ...“.
Das war einer der Hauptgründe dafür, warum ich
mich von der Burschenschaft entfernt habe. Außer-
dem wurde ich in der Schule als Nazi gesehen, auch
wenn ich keiner war. Das hat einen Denkprozess aus-
gelöst. In den pennalen Verbindungen gab es natür-
lich zuhaufProbleme mit Wiederbe-
tätigung,in denakademischen Ver-
bindungen weniger. Das wollte ich
nicht mehr leugnen, auch wenn ein
sehr großer Teil meiner Freunde
Burschenschafter waren.
Warum ich meinem Vater nichts
sagen konnte? Schon, als im Inter-
nat etwas Ähnliches passiert war,
kam die Frage, ob ich jetzt schwul
sei. Das war nicht der einzige Vor-
fall, wo ich seine Homophobie
gespürt habe. Deshalb hatte ich
Angst, wegen des Übergriffs so ge-
sehen zu werden. Jetzt bin ich mit
einer Frau verheiratet und selbst
Vater. Noch dazu konnte ich nie
etwas gegen seine „heilige“ Bur-
schenschaft sagen.
Ich habe das sehr lange mit mir he-
rumgetragen und versucht, es zu ver-
gessen.Erst, als ich26 Jahrealt
war,habeich meinen Eltern ge-
sagt, was passiert war und dass ich
gern mit dem reden würde, dermir
das angetan hat. MeinVater ver-
sprach mir, sich darum zu küm-
mern,aber es istnie etwas pas-
siert.Jetzt,fast20Jahre nach dem
Übergriff,ist der andere nochimmer in der Bur-
schenschaft aktiv.Zur Polizeigehen wollte ich nie.
In derRechtsauffassung von Burschenschaftern gibt
es das nicht.Die Mentalität,die da vorherrscht, sieht
ja als letzte Möglichkeit das Duell auf Lebenund Tod
vor.
So wie es sich jetzt gestaltet, denke ich nicht, dass
eine Änderung der Kultur bei Burschenschaften mög-
lich wäre.Es ist eine Kultur des Verschleppens und Ver-
tuschens.Bei den Burschenschaften gibt es eine Pa-
rallelwelt–sowie man öfter von einer islamistischen
Parallelkultur spricht ist es dort eine deutschnatio-
nale Parallelkultur.

Eine schlagende Burschenschaftverschafft einem jungen Mann ein Zugehörigkeitsgefühl –
biserdort zum Sexgezwungen wird. Die Geschichte eines Übergriffs.

„Es warein ‚Machjetzt mit,sonst...‘“


PROTOKOLL: Fabian Schmid

Auf der Bude wird nicht nur
getrunkenund gekämpft.
Foto: akg-images/picturedesk.com

Es gibt Schüler- und
Studentenverbindungen.
Erstere werden als pennale
Burschenschaften bezeichnet.
In Österreich sind rund
54 aktiv.


Bei der Mensur gibt es
verschiedene Verletzungen:
Ein Lappen ist ein nicht ganz
abgetrenntes Stück Kopfhaut,
ein Scherzerl ein voll abge-
trenntes. Ein Schmiss ist eine
einfache Stichwunde.

Die Mensur entwickelte sich
aus studentischen Duellen.
Ein Paukarzt ist anwesend,
der Wunden erstversorgt.
Schmisse werden im Milieu
mit Stolz getragen.

Burschenschaften haben
ritualisierte Trinktraditionen.
In einigen Buden gibt es
sogar eigene „Kotzbecken“.

Die MeToo-Bewegung
thematisierte vor allem
sexuelle Übergriffe in Macht-
strukturen. Sie erfasst bereits
zahlreiche Gesellschaftsbe-
reiche wie die Unterhaltungs-
branche oder den Sport.

Bei zahlreichen Burschen-
schaften wird noch Mit-
gliedern gedacht, die eine
wichtige Stellung im National-
sozialismus hatten. Auch die
Liederbücher-Affären rund um
antisemitische Texte zeigten
ein ungeklärtes Verhältnis zur
NS-Zeit.

Opfer sexueller Übergriffe
brauchen oft lange, um ihre
Erlebnisse zu verarbeiten und
sich rechtlich zu wehren.
Deshalb wurden erst vor
kurzem die Verjährungsfristen
verlängert.

UdoGuggenbichler, Vor-
sitzender des Österreichischen
Pennällerrings (ÖPR), ist „in
seiner Amtszeit“–seit 2010
–„keinFall bekannt“. Er rät
Opfern, sich an den ÖPR zu
wenden und zur Polizei zu
gehen. Das dritte Lager und
der ÖPR würden jede Form
sexuellen Missbrauchs „aufs
Schärfste“ ablehnen.

Niederösterreich investiert
MillionenfürJob-Projekte
St. Pölten–Das Land Niederöster-
reich investiert heuer fünf Millio-
nen Euro in Job-Projekte und
unterstützt damit 15 Maßnahmen
im Bundesland. Die Aktionen für
Arbeitslose über 50, Frauen und
Menschen mit Behinderung seien
„auf die jeweiligen Bedürfnisse
der Regionen abgestimmt und ver-
folgen unterschiedliche Schwer-
punkte“, sagt Landesrat Martin
Eichtinger (ÖVP). Der Geschäfts-
führer des AMS Niederösterreich,
Sven Hergovich, hob hervor, dass
mit den Projekten Menschen, die
es am Arbeitsmarkt „besonders
schwer haben“, Chancen eröffnet
würden. (APA)

Kindergeld jahrelang
nichtausbezahlt
Wien–Familien müssen in grenz-
überschreitenden Fällen oft jahre-
lang auf die Auszahlung des
Kinderbetreuungsgeldes warten.
Eine entsprechende Missstands-
feststellung hat die Volksanwalt-
schaft beschlossen. Sie übt hefti-
ge Kritik am Familienministe-
rium. Mehr als 30 Fälle sind der-
zeit bei der Volksanwaltschaft an-
hängig. Es handelt sich um in
Österreich lebende Familien, bei
denen ein Elternteil in einem an-
deren EU-Land lebt oder arbeitet,
sowie in einem EU-Land lebende
Familien, in denen ein Elternteil
in Österreich arbeitet. (APA)

KURZ GEMELDET


Blümel lässtWechselnachWienundKoalitionen offen


DerFinanzminister istmit 96,8 ProzentzumWienerÖVP-Chefgewähltworden


Wien–Gernot Blümel und Heinz-
Christian Strache regierten schon
einmal gemeinsam–doch dann
kam Ibiza, und Strache schoss
sich mit seinen Korruptionsfan-
tasien ins politische Aus. Nun ste-
hen im Herbst Wien-Wahlen an.
Blümel tritt dabei als ÖVP-Spit-
zenkandidat an, Strache als Front-
mann der blauen Abspaltung „Die
AllianzfürÖsterreich“(DAÖ).Am
Ende könnten die beiden wieder
miteinander regieren. Zumindest
weigert sich der türkise Landes-
parteichef Blümel, das auszu-
schließen: „Wir wollen Wien neu
regieren“, alles Weitere sei Ent-
scheidung der Wähler, sagte Blü-
mel am Sonntag in der ORF- Pres-
sestunde. Gleichzeitig kritisierte
er Strache scharf. „Man sollte nie
spekulieren, was wäre wenn.“
Auch in Wien „soll es einmal ech-
te gelebte Demokratie geben und
nach 100 Jahren vielleicht auch
einen anderen Bürgermeister“, er-
klärte der Finanzminister, der am
Samstag mit 96,8 Prozent der
Delegiertenstimmen zum Wiener
Landesparteiobmann wiederge-
wählt worden war.
Auch was seine sonstige politi-
sche Zukunft betrifft, lässt sich
der Finanzminister alles offen: Ob
ernurals Bürgermeisteroderauch
als Vizebürgermeister einer mög-
lichen rot-türkisen Koalition in

die Bundeshauptstadt wechseln
würde, beantwortete er am Sonn-
tag nicht.
Bei den Casinos Austria, für die
Blümel als Minister zuständig ist,
strebt er ein „Österreich-Paket“
an, bei dem die heimischen
Steuereinnahmen, die Arbeits-
plätze und ein Standort in Öster-
reich sichergestellt sind.
Es sei wichtig, dass das Unter-
nehmen wieder in ein ruhigeres

Fahrwasser komme, er hoffe, dass
das jetzt in eine andere Richtung
gehe. Darüber hinaus kündigte
Blümel an, dass die Agenden
Glücksspiellizenz-Vergabe und
Aufsicht über die Branche, die
derzeit beide im Finanzministe-
rium liegen, in eine unabhängige
Glücksspielbehörde ausgelagert
werden sollen. Diese Aufgaben
wolle man von der Rolle des
Eigentümervertreters (mittels der
Beteiligungsgesellschaft Öbag)
trennen, die Zuständigkeiten also
„aufdröseln“.
Die Holding Öbag, die Staatsan-
teile verwaltet, solle gemeinsam
mit den anderen Aktionären prü-
fen, wie das von ihm umrissene
„Österreich-Paket“ am besten si-
chergestellt werden könne, mein-
teBlümel.VoneinemAusstiegdes
Staates an den Casinos gehe er
nicht aus–die Beteiligung der Re-
publik an dem Unternehmen sei
historisch gewachsen.
Derzeit hält der Staat über die
ÖBAG 33 Prozent an den Casinos.
Mehrheitseigentümerin ist mit 38
Prozentschon jetzt die tschechi-
sche Sazka-Gruppe. Sazka soll
aber auch das 17-Prozent-Paket
der Novomatic an den Casinos auf-
greifen,denn Novomatic-Eigen-
tümer Johann Graf will aus dem
ehemals größten Konkurrentenim
Inland aussteigen.

Auf die Verbreitung des Coro-
navirus angesprochen, erklärte
Blümel, dass es derzeit kein staat-
lichesProgrammzurBelebungder
heimischen Konjunktur brauche.
Allerdings seien die möglichen
Folgen für die Wirtschaft zum jet-
zigen Zeitpunkt noch gar nicht ab-
zusehen.

Herzerlbaum und Bärenbaby
Blümel hat die Wiener Landes-
partei nach der Gemeinderats-
wahl 2015 übernommen. Er sei oft
gefragt worden, warum er sich das
antue, erinnerte sich Blümel beim
Parteitag am Samstag zunächst an
die damals wenig erfreuliche Situ-
ation der Partei. Aber man habe
den Mut zur Veränderung be-
wiesen und sei zu einer kantigen
Oppositionspartei geworden. Die
Wiener ÖVP habe es geschafft, die
Bedürfnisse der Wienerinnen und
Wiener wieder in den Mittelpunkt
zu stellen und nicht „parteiinter-
ne Befindlichkeiten“–wie es die
FPÖ derzeit vormache.
Auch den Sozialdemokraten
fehle der Mut zur Veränderung.
„Es ist bezeichnend, wenn aus
Sicht des SPÖ-Bürgermeisters
(Michael Ludwig, Anm.) das bren-
nendste Thema der Herzerlbaum
am Rathausplatz oder die Paten-
schaft fürs Eisbärenbaby ist“,
meinte Blümel. (APA)

Gernot Blümel will für die
Casinosein „Österreich-Paket“.
Foto: APA/Oczeret
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