Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1

DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 49


GESELLSCHAFT


Herausgeschält


„Wir leben in einem Land der Un-
gleichheit“: US-Bürgerrechtler Bryan
Stevenson im Interview  Seite 56

A


ls ich zum ersten Mal nach Is-
tanbul kam, nahm ich ein
Schiff. Es fuhr zu den Prinzen-
inseln. Ich hatte gehört, dass in
den Klöstern dort einst byzanti-
nische Prinzessinnen und Prinzen einge-
kerkert waren, sonst wusste ich wenig. Es
war November, Nebel lag auf dem Wasser.
Mein Begleiter, der Türkisch konnte und
mich zu dieser Reise überredet hatte, woll-
te trotz der Kälte auf dem Schiffsdeck blei-
ben. Das war mein Glück.
Denn so sprach uns ein Mann an, er tat
dies wohl aus Neugier. Damals, Anfang der
Achtzigerjahre, kurz nach einem Militär-
putsch, waren Ausländer ein ungewöhnli-
cher Anblick auf einem der alten Linien-
schiffe, die den Bosporus und das Marma-
rameer befahren.
Der Mann, der so freundlich nach dem
Woher und Wohin fragte, trug eine blaue
Uniform und war der Kapitän. Er lud uns
auf die Kommandobrücke ein. So standen
wir beim Ablegen neben dem großen Steu-
errad und schwebten auf Augenhöhe vor-
bei an der filigranen Silhouette des Serails,
an spitzen Minaretten und der hohen Kup-
pel der Hagia Sophia. Eine magische Kulis-
se, wie gebaut für den Blick vom Wasser.


Nun wäre dies schon zauberhaft genug
gewesen, um sich in diese Stadt auf ewig zu
verlieben. Aber dann entschuldigte sich
der Kapitän, sagte, er wolle sich für einen
Moment zurückziehen. Er übergab das
Steuer seinem Ersten Offizier, nahm eine
Aktentasche und holte einen Gebetstep-
pich heraus, so klein wie ein halbes Hand-
tuch. Er trat zur Seite, kniete nieder, für
sein Mittagsgebet. Nach ein paar Minuten
stand er wieder neben uns, setzte die Kapi-
tänsmütze auf und übernahm mit einem
Kopfnicken zum Ersten Offizier die Füh-
rung des Schiffs. Es war die Selbstverständ-
lichkeit, mit der dieser Mann agierte, ohne
Scheu vor zwei Fremden, die mir unver-
gesslich blieb. Er ließ uns an seinem Alltag
teilhaben und kam gar nicht auf die Idee,
dass wir daran Anstoß nehmen könnten. Er
war nun mal ein religiöser Mann.
Der Kapitän war in der zweiten Hälfte
seines Lebens, und ich nehme einmal an,
sollte er das Jahr 2002 erlebt haben, hat er
wahrscheinlich Recep Tayyip Erdoğan ge-
wählt. Der trat damals mit seiner AK-Partei
erstmals zu einer Parlamentswahl an und
hatte versprochen, sich um die sogenann-
ten kleinen Leute zu kümmern, zu denen
auch ein städtischer Angestellter auf ei-
nem Bosporus-Schiff gehörte. Erdoğan ver-
sprach zudem, den religiösen Türken die


gleichen Rechte zu verschaffen wie den sä-
kularen, die gewöhnlich auf ihre frommen
Landsleute eher herabblickten. Erdoğan
und seine cleveren Berater hatten sich übri-
gens bei der CSU/CDU in Deutschland abge-
schaut, wie Volkspartei geht – auch à la tur-
ka –, mit einem Mix aus Frömmigkeit, Fa-
miliensinn und Kapitalismus.
In seiner Kindheit und Jugend hatte un-
ser Kapitän schon zwei Militärputsche er-
lebt, 1960 und 1971. Auch das motivierte
ihn womöglich, seine Stimme Erdoğan zu
geben, der sich ebenfalls zum Ziel gesetzt
hatte, die politischen Einmischungen der
Generäle ein für alle mal zu beenden.
Noch ein Blick zurück: Zu Beginn der
Achtzigerjahre erlebte ich Istanbul als
graue, triste Stadt. In der Luft lag der bei-
ßende Geruch billiger Braunkohle. Einmal
sah ich mitten in einer Gasse einen solchen
Kohlehaufen, einfach von einem Laster ge-
kippt. Mit Blecheimern holten sich die Leu-
te das Brennmaterial. Die Angst vor einem
falschen Wort, vor Militär und Polizei, war
allgegenwärtig. Jeder wusste von Verhaf-
tungen und Folter. Die bedrückende Atmo-
sphäre teilte sich auch dem Fremden mit.
Aber wie häufiger in der türkischen Ge-
schichte folgte auf eine bleierne Zeit ein
neuer Aufbruch. Die Generäle gaben die
Macht wieder ab, wirtschaftlich öffnete
sich das Land, bald ging es etwas aufwärts.
Vorher aber verhalf ausgerechnet das Mili-
tär dem politischen Islam noch zu einem so-
liden Fundament. Die Generäle machten
Religion zum Pflichtfach an Schulen. Eine
denkwürdige Intervention. Republikgrün-
der Kemal Atatürk hat der Türkei vor fast
100 Jahren ein strenges säkulares Korsett
verpasst. Es war so streng, dass Frauen mit
Kopftuch kein staatliches Krankenhaus,
kein Gericht, keine Universität betreten
durften. Offiziere wurden unehrenhaft ent-
lassen, wenn herauskam, dass ihre Gattin
Tuch trug. Die Generäle wollten all das gar
nicht ändern. Ihnen erschien ein gläubiges
Volk nur weniger gefährlich als eines, das
für linke Ideen anfällig ist. Die Kommunis-

tenangst übernahmen sie vom Westen, es
herrschte Kalter Krieg, die Türkei war ein
Frontstaat gegen die Sowjetunion.
Die Geschichte zeigt: Die Türkei war sel-
ten frei von äußeren Einflüssen, auch
wenn sie gern ihre Souveränität betont.
Als ich 2001 als Korrespondentin nach Is-
tanbul zog, war mein Begleiter nicht mehr
dabei. Er hatte schon zehn Jahre zuvor als
Journalist in Jugoslawien sein Leben verlo-
ren. In die Türkei zurück wollte ich immer
wieder, seit damals, seit der Fahrt auf dem
Schiff. Ich machte dann im selben Jahr das
erste Interview mit Erdoğan. Einer seiner
Berater führte mich zu ihm. Dieser Mann
war ein erfolgreicher Istanbuler Unterneh-
mer, der stolz darauf war, mindestens ein
halber Kurde zu sein. Er sagte mir, diesen
Politiker müsse ich kennenlernen, „der
wird einmal groß“. Ich fragte Erdoğan nach
seinem Verhältnis zur Demokratie, zu Euro-
pa und auch zur Religion. Und ich weiß
noch, dass er sagte, Religion sei „Privatsa-
che“, sein Verhältnis zu Gott „rein persön-
lich“. Erdoğan hatte damals das, was man
politisches Charisma nennt. Und er hörte

zu, fragte zurück. Zwei Jahre später war er
Premier, seine neue Partei hatte in einer tie-
fen Wirtschaftskrise 2002 fast alle anderen
Parteien aus dem Parlament gefegt. Erdo-
ğan selbst musste noch ein paar Monate
auf die Macht warten, denn er hatte zeitwei-
se Politikverbot, wegen der Rezitation ei-
nes Gedichts, in dem es heißt: „Die Minaret-
te sind unsere Bajonette.“
Siebzehn Jahre später regiert Erdoğan
immer noch, er ist Staatspräsident, wird
am 26. Februar 66 Jahre alt, und kein türki-
scher Politiker – ausgenommen Atatürk –
hatte je mehr Macht. Kritik könne er inzwi-
schen schwer ertragen, heißt es, zahlreiche
Weggefährten haben über die Jahre das

Weite gesucht. Aber Erdoğan hat immer
noch glühende Anhänger und ergebene
Helfer. Aus der Nähe wirkt er eher starr, als
höre er nur denen zu, die ohnehin sein Ohr
haben. Seinem Schwiegersohn hat er das Fi-
nanzministerium und das Schatzamt an-
vertraut. Das Dynastische stößt auch Leute
in seiner Partei ab, aber sie schweigen.
Die Gesellschaft ist tief gespalten. In Um-
fragen kommt Erdoğan auf etwa 50 Pro-
zent, aber nur noch mit einem ultranationa-
listischen Koalitionspartner, den seine Par-
tei schon seit einer Weile an ihrer Seite hat.
Die anderen 50 Prozent entfallen auf eine
heterogene Opposition aus Säkularen in
der Tradition Atatürks, linken Kurden, ge-
mäßigten Nationalisten und Menschen,
die einfach genug haben von der AKP.
Erdoğans Unterstützer halten ihm zu Gu-
te, dass er das Land in die Moderne katapul-
tiert hat, mit Tunneln unter dem Meer und
Satelliten im All. Die Krankenhäuser sind
so gut, dass sich die halbe arabische Welt in
Istanbul behandeln lässt. Aber die Türkei
sperrt einige ihrer klügsten Köpfe ein, sie
treibt kritische Akademiker aus dem Land,
drangsaliert Journalisten. Es ist zum Ver-
zweifeln. In den letzten drei Jahren habe
ich viele Tage in Gerichtssälen verbracht,
um Prozesse zu beobachten gegen Men-
schen, mit denen ich früher zum Essen ver-
abredet war. Die Justiz sei unabhängig,
sagt die Regierung, aber warum wird dann
jener Richter juristisch verfolgt, der vor we-
nigen Tagen den Kulturmäzen Osman Ka-
vala von absurden Terrorvorwürfen freige-
sprochen hat? Und warum wird dieser Frei-
spruch dann gleich wieder kassiert? Es ist,
als läge ein Schatten über der schönen
Stadt. Manchmal vergisst man ihn, wenn
der Himmel über dem Bosporus besonders
blau ist, aber eigentlich ist er immer da.
Was dem Präsidenten nicht gelungen
ist, und dieser Befund mag erstaunen: eine
„religiöse Generation“ zu erziehen. Das hat-
te er sich ebenfalls vorgenommen. Umfra-
gen zeigen, dass junge Türken sich eher
von einer politisierten Religion abwenden.

In fast allen Istanbuler Stadtvierteln kön-
nen Frauen heute alleine eine Wohnung
mieten oder mit einem Partner unverheira-
tet zusammenleben. Vor 20 Jahren war
dies undenkbar. Ich halte es übrigens nicht
für falsch, dass Frauen mit Kopftüchern
heute Richterinnen und Abgeordnete wer-
den oder bei Turkish Airlines arbeiten dür-
fen. Menschen, nur weil sie fromm sind,
die Grundrechte zu entziehen, ist nicht ak-
zeptabel. Wenn sich die Türkei von Europa
entfernt hat, dann nicht, weil sie konserva-
tiver oder „religiöser“ geworden wäre, son-
dern weil die „neue Türkei“, von der Erdo-
ğan so viel spricht, den alten Fehlern verfal-
len ist. Die heißen autoritärer Staat, Zentra-
lismus, Nationalismus. Damit verbunden
ist das Auslöschen der Erinnerung.
In den Geschichtsbüchern kommen die
zu Hunderttausenden vertriebenen und er-
mordeten osmanischen Armenier nicht
vor, geschweige denn ihr enteigneter Be-
sitz. Unter den 36 Sprachen, die ein automa-
tisches Übersetzungssystem am neuen Is-
tanbuler Airport beherrscht, fehlt das Kur-
dische. Aber es gibt auch die Unermüdli-
chen, die nicht aufhören, an die offizielle
Vergesslichkeit zu erinnern. Zum Beispiel
in jedem Januar an den 2007 ermordeten
armenisch-türkischen Journalisten Hrant
Dink. Er hat mir einmal gesagt: Zwei Tür-
ken könnten nie wissen, ob sie nicht viel-
leicht miteinander verwandt sind, deshalb
sollten sie nicht streiten. Auch wenn der ei-
ne Armenier und der andere Türke oder
Kurde ist. Weil in der Geschichte dieses Lan-
des sich so vieles vermischt hat, weil einige
ihre alte Identität einfach vergessen haben.
In diesem Jahr haben sie an Dink mit einer
Lichtinstallation erinnert: Drei Nächte lang
leuchtete sein Porträt auf der Fassade des
Gebäudes, vor dem er von einem jungen Na-
tionalisten erschossen wurde.
Seit dem Militärputsch von 1980 sind
vier Jahrzehnte vergangen – und bis vor
vier Jahren haben wohl die meisten Türken


  • wie auch ich – geglaubt, es werde nie wie-
    der einen Putsch geben. Und dann schick-
    ten im Juli 2016 im sommerlichen Freitag-
    abendverkehr bis heute schattenhafte Ver-
    brecher nichts ahnende Militärschüler auf
    eine Istanbuler Brücke. Die jungen Solda-
    ten dachten, es gehe zu einer Übung. Ihre
    Anführer waren womöglich von der Idee
    verführt, der unzufriedene Teil des Volkes
    werde ihnen nachlaufen, wenn sie nur Er-
    doğan wegputschen. Womit sie nicht rech-
    neten: Ein Militärregime im 21. Jahrhun-
    dert überlebt in der Türkei nicht mal einen
    Twittersturm. Und die Älteren erinnern
    sich an 1980, an das Trauma, das der
    Putsch von damals hinterließ, dahin zu-
    rück will niemand.
    Meine türkischen Freunde, egal welcher
    politischen Richtung sie angehören, sagen,
    führende Kader der Gülen-Sekte seien an


der Militäraktion beteiligt gewesen, aber
nicht allein. Was genau passiert ist, gibt bis
heute Rätsel auf. Erdoğan nannte den
Putschversuch ein „Gottesgeschenk“, eine
Verhaftungswelle rollte durchs Land. Ande-
re bekamen danach die Posten in Polizei,
Justiz und Militär. Auch unter ihnen soll es
wieder Leute geben, für die religiöse Grup-
pen Karrierenetzwerke sind. Man wird von
ihnen wohl leider noch hören.
Mein Kapitän hätte mit solchen Män-
nern nichts zu tun haben wollen, da bin ich
sicher. Der versuchte Coup war ein großes
Unglück für die Türkei. Er hat sie um Jahre
zurückgeworfen. Die Wirtschaft leidet, die
Inflation ist zweistellig, die Arbeitslosig-
keit auch. Das gab es lange nicht mehr. In
den ersten Jahren an der Macht hat Erdo-
ğan das Land geöffnet für fremdes Kapital
und Ideen. Es gab Aufschwung und Auf-
bruch, und im Oktober 2005 zur Beloh-
nung die Eröffnung von Beitrittsverhand-
lungen mit der EU. Die Euphorie war bald
wieder weg. In Ankara merkten sie, wie
mühselig das europäische Kleinklein ist; in
Berlin und Paris wuchs die Skepsis gegen-
über diesem Kandidaten, bis beide Seiten
voneinander enttäuscht waren und man
sich gegenseitig immer weniger verstand.

Wer oft zwischen der Türkei und
Deutschland hin- und herfliegt, der hört
immer wieder die Klage: Ihr versteht uns
nicht! In der Zwischenwelt des Reisens er-
lebt man jedoch auch, wie selbstverständ-
lich vielen jüngeren Türken Deutschland
zur zweiten oder ersten Heimat geworden
ist, wie sie an der Passkontrolle in Mün-
chen vom Türkischen ins Bayerische fal-
len, um den weniger sprachkundigen Älte-
ren oder den Grenzpolizisten auszuhelfen.
Diese deutsch-türkische Leichtigkeit könn-
te öfter als großer kultureller Gewinn ver-
bucht werden.
In den zehn Jahren, die ich in Istanbul ge-
lebt habe, war ich Ausländerin – wie die
Türken vor einem halben Jahrhundert in
Deutschland. Ich musste bisweilen mit Be-
hörden kämpfen, wie sie es oft auch tun
mussten. Aber das, was wir Ausländerfeind-
lichkeit nennen, habe ich in meinem Alltag
in der Türkei so gut wie nie gespürt.
Was aus dem Kapitän geworden ist? Ich
weiß es nicht. Aber wenn ich auf eines der
alten Bosporus-Schiffe steige, schaue ich
gelegentlich, wer auf der Kommandobrü-
cke steht.

Christiane Schlötzer-Scotlandwar Türkei-Korre-
spondentin von 2001 bis 2005, von 2012 bis 2015
und zuletzt von 2018 bis Februar 2020.

An der Basis
FOTO: SORIANO/LE FIGARO/LAIF

Von Madonna bis Rihanna – die
Fotografin Ellen von Unwerth hat sie
alle porträtiert  Seite 50 Libyen versinkt im Bürgerkrieg. Wenn das Land
mittlerweile als unregierbar gilt, dann
hat das vor allem historische Ursachen  Seite 55

Die bayerische Kartoffel hat ein
Imageproblem. Aber wie macht man
ein Lebensmittel sexy?  Seite 51

Frauen mit Kopftuch durften


vor Erdoğan kein staatliches


Krankenhaus betreten


Die Türkei sperrt
einige der klügsten Köpfe ein.
Es ist zum Verzweifeln

Auf der Brücke


Unsere Autorin berichtete zehn Jahre aus der Türkei.


Sie erlebte ein gespaltenes Land, das zwischen Aufbruch und


Despotie schwankt. Ein wehmütiger Abschiedsgruß


von christiane schlötzer


Was wir Ausländerfeindlichkeit
nennen, habe ich in meinem
Alltag in Istanbul nie gespürt

Im Blitzlicht
FOTO:IMAGO IMAGES/ITALY PHOTO PRESS

Im Brennpunkt


Sonnenuntergang in Istanbul: Blick vom Goldenen Horn auf die Süleymaniye-Moschee. FOTO: MAURITIUS IMAGES / AGE FOTOSTOCK

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