Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1
HeimatBayern war das erste Zuhause,
das ich mir selbst aussuchen konnte. Als
mir mein Verleger Benedikt Taschen vor-
schlug, ein Buch über dieses Bundesland
zu machen, war ich trotzdem erst mal we-
nig begeistert. Ich habe diese Ecke als zu
konservativ in Erinnerung. Aber ich liebe
Trachten und finde es toll, dass es Leute
gibt, die sie heute noch tragen. Also bin
ich für mein Buch „Heimat“ ein Jahr lang
durch Bayern gefahren. Die Bilder im Pin-
up-Stil erinnern an Bauernkalender,
aber sollten nicht so bierernst rüberkom-
men. Meist haben wir in Dörfern fotogra-
fiert, in denen niemand mehr wohnt. Das
war praktisch, damit gab es mit meinen
leicht bekleideten Mädchen keinen Ärger
mit erregten Nachbarn. Dabei sind die
Bayern ja auch nicht gerade prüde. Zur
Veröffentlichung war ich 2017 dann sogar
auf dem Oktoberfest, aber das ist selbst
für mich ein bisschen too much.

StarsIch war in Berlin, da bekam ich ei-
nen Anruf: „Hey Ellen, where are you?“
Da war Rihanna am Apparat. Sie wollte
mich für ihr neues Album buchen, zwei
Tage nach dem Telefonat haben wir in
einer leeren Berliner Fabrik dieses Bild
geschossen. Nervös bin ich selten, au-
ßer ich weiß, dass morgen ein Shooting
mit Madonna ansteht. Ist ja klar: Sie ist
die Queen! Und man weiß, dass sie nicht
ganz so einfach ist. Aber die Arbeit mit
ihr war immer lustig. Am meisten über-
rascht hat mich jedoch Catherine Deneu-
ve: Für die französischeVoguehabe ich
ihr mal ein paar Bad Boys in einem Tanz-
saal zur Seite gestellt. Ich war gespannt,
wie sie darauf reagiert, weil sie von au-
ßen so kühl wirkt. Stattdessen war sie
begeistert, hat getanzt und mit ihnen
Armdrücken gemacht. Ein paar Monate
später habe ich sie erneut fotografiert,
ohne Jungs. Da war sie enttäuscht. Mir
ist es wichtig, meine Frauen stark und
sexy zu zeigen. Doch die „Me Too“-Be-
wegung hat die Branche sehr verändert,
ich fühle mich in meiner Arbeit heute
eingeschränkt. Es gibt unglaublich vie-
le Regeln und jede Menge Angst. Das ist
schade, denn Kunst muss frei sein.

FotografieDa bin ich mit Claudia Schif-
fer 2019 in der Opera Gallery in Zürich,
hinter uns sieht man ein Bild aus einer
alten Guess-Kampagne, ein unerwarte-
ter Erfolg, für uns beide. Wir standen
beide noch am Anfang unserer Karriere,
danach ging es für uns richtig los. Mir
fiel gleich Claudias Ähnlichkeit mit Bri-
gitte Bardot auf, deswegen habe ich sie
auch Bardot-mäßig inszeniert. So man-
ches Model verfolge ich seit vielen Jah-
ren. Naomi Campbell etwa kenne ich,
seitdem sie 16 ist. Bei ihr hat man sofort
gemerkt, dass sie ein Star ist. Kate Moss
hingegen war kein normales Model:
klein, spitze Zähne, aber eine Persönlich-
keit, die auf den Bildern herausstach.
Das war nach den perfekten Supermo-
dels eine gute Wende in der Modewelt.
Mich fasziniert es, ein Stück Leben mit
der Kamera zu erfassen. Da passiert es
schon mal, dass ich anfange zu fotogra-
fieren, ohne dass ein Film eingelegt ist.
Ich versuche mir keinen Stress zu ma-
chen, auch wenn ein Foto mal unscharf
ist. Sondern immer nur an die Geschich-
te zu denken, die ich im Kopf habe. Das
macht ein Bild einfach besser. Meine
Lieblingsfotografen sind Helmut New-
ton, den ich für seine Stärke und seinen
Humor schätze und die Geschichten,
die er erzählt, und Jacques-Henri Larti-
gue für seine Leichtigkeit und Eleganz.

FamilieDas Kleid war mein ganzer
Stolz, ich habe es zu Karneval getragen.
Ich mochte die schwarzen Pik-Zeichen
darauf und die große Schleife auf dem
Kopf. Mein Bär durfte auch nicht fehlen.
Das Kostüm hatte meine damalige Pfle-
gemutter für mich genäht, zu ihrer Fa-
milie in Laubach bei Gießen kam ich im
Alter von vier Jahren. Meine eigentliche
Mutter starb, als ich zwei war; einen Va-
ter, der sich um mich kümmerte, gab es
nicht. Also bin ich in verschiedenen Wai-
senhäusern und bei Pflegefamilien auf-
gewachsen. Man sagt, ich sei ein freches
und stures Kind gewesen. An das Leben
in der kleinen Stadt habe ich gute Erin-
nerungen, doch zu den Pflegeeltern
oder ihren drei Söhnen habe ich längst
keinen Kontakt mehr. Bei mir war das
schon immer so: Ich drehe eine Seite in
meinem Leben um und gucke nicht
mehr zurück. Aus Selbstschutz.

RebeccaMeine Tochter ist gerade 30 Jah-
re geworden, unglaublich! Sie wohnt in
New York, so wie auch ich die meiste Zeit,
deswegen sehen wir uns oft. Sie macht
Modefilme, manchmal arbeiten wir auch
zusammen, aber wir achten darauf, dass
jede ihr eigenes Ding macht. Manchmal
habe ich das Gefühl, dass Rebecca eine al-
te Seele ist und ich das ewige Baby.
Manchmal sagt sie etwas, das mir wirk-
lich die Augen öffnet. Zum Abschalten
fahre ich in unser Haus in die Normandie
und arbeite im Garten. Mein Mann er-
mahnt mich, doch Handschuhe anzuzie-
hen, aber ich will meine Hände lieber tief
die Erde stecken.

HippieMit 16 durfte ich endlich selbst
entscheiden, wo ich wohnen möchte.
Weil ich einen Freund im bayerischen
Oberstdorf hatte, bin ich dorthin gezo-
gen. Zu sechst haben wir ein Bauernhaus
gemietet, diese Zeit war eine der schöns-
ten in meinem Leben. Wir waren eine
bunte Truppe mit vielen Hunden und Kat-
zen. Die Nachbarn fanden uns nicht so
gut. Mich haben sie immer schief ange-
schaut, weil ich tagsüber am liebsten in
Ballkleidern herumgelaufen bin.
Zum Studium bin ich nach München.
Meine Noten waren so schlecht, da kam
nur Wirtschaft für mich in Frage. Doch
am ersten Tag hat mich noch am Eingang
ein Mann gefragt, ob ich Fotomodell sein
möchte für ein Haarprodukt. Somit habe
ich die Uni nie betreten, was für ein
Glück! Zehn Jahre lang habe ich als Mo-
del gearbeitet und eine Weile auch als Lü-

ckenfüller beim Circus Roncalli. Ich war
nach einer Vorstellung so begeistert, dass
ich André Heller, den damaligen Direk-
tor, fragte, ob ich mitmachen kann. Ich
bin im Glitzeroutfit durch die Manege
stolziert, habe Seifenblasen gemacht und
dem Publikum Patchouli-Duft hinters
Ohr geschmiert. Einmal durfte ich dem
Messerwerfer assistieren, aber weil er
mich mit seinem Messer berührte, blieb
es nur bei diesem einen Mal.
In Paris schenkte mir mein damaliger
Freund meine erste richtige Kamera. Da-
mit ging alles los: Als ich für einen Job in
Kenia war, habe ich Menschen auf der
Straße fotografiert. Freunde von mir ha-
ben diese Bilder gleich in ihrem Magazin
veröffentlicht, sie konnten nicht glauben,
dass ich die gemacht hatte. Zwei Monate
später bekam ich von Designerin Kathe-
rine Hamnett meine erste Kampagne.

FOTOALBUM


MittelpunktIch habe mich vor der Kame-
ra nie wohlgefühlt. Die Fotografen muss-
ten mich stets ermahnen, ruhig stehen zu
bleiben, ich war zu zappelig. Heute will
ich Gefühle sehen, deshalb sollen sich
meine Mädchen bewegen. Die besten Fo-
tos bekomme ich oft, wenn sie denken,
das Shooting ist zu Ende. Dann sind sie
freier. Auf dem Foto feiere ich meinen
65.Geburtstag im Rasputin in Los Ange-
les. Motto: Russian Doll, das war ein toller
Abend. Ich gehe gern feiern. Das ist inspi-
rierender als allein im Hotel zu sitzen.

HELL’S KITCHEN (LVII)


TiereGrumpy Cat habe ich 2017 für ei-
nen Opel-Kalender fotografiert, zusam-
men mit dem Model Georgia May Jagger.
Diese dauermürrisch aussehende Katze
war wirklich ein Star: Sie hat mit dem
Licht gespielt und vor mir posiert wie ein
Mensch, das war faszinierend. Für die
„Heimat“-Ausstellung in Los Angeles ist
sie sogar extra mit ihrer Entourage einge-
flogen – in Lederhosen und mit einem Ti-
roler Hut. Leider ist sie im vergangenen
Jahr gestorben. Mit Tieren zu arbeiten ist
nicht immer so einfach wie mit Grumpy
Cat. Für eine Geschichte im Tarzan-Look
trug Eva Herzigová mal ein Haute-Cou-
ture-Kleid und auf dem Rücken einen
Affen. Als er endlich mal ruhig hielt für
ein Foto, fing Eva plötzlich an zu schrei-
en: Der Affe hatte sie angepinkelt.

Nur ihre Initialen verraten, dassEllen von Unwerthihr Studio im Erdgeschoss eines schlichten Hauses


in Paris hat. Auch innen bleibt es bescheiden: Die 66-Jährige teilt sich einen Tisch mit den Assistentinnen


und nimmt Pakete für die Nachbarn selbst entgegen. Glamouröser ist es im New Yorker Museum


Fotografiska: Dort sind gerade Bilder aus dreißig Jahren Arbeit der bekannten Modefotografin zu sehen


protokolle: julia rothhaas

von christian zaschke

Bevor ich nach Hell’s Kitchen zog, habe
ich einige Jahre in London gewohnt,
und eines Abends begab es sich, dass
ich mit der Jubilee Line nordwärts in
den Stadtteil Kilburn fuhr. Seit jeher
erfreut es mein schlichtes Gemüt, dass
es eine Gegend in London gibt, die
übersetzt „Tötbrenn“ heißt.
Die Abendgesellschaft traf sich in
einem afghanischen Restaurant na-
mens Ariana II. Der kluge M., einer
meiner ältesten Freunde, hatte eingela-
den, ich glaube, er feierte einen runden
Geburtstag. Weil das Restaurant keine
Schanklizenz hatte, konnten die Gäste
ihren eigenen Alkohol mitbringen, und
da ich wusste, dass es immer Gäste
gibt, die aus strategischen Gründen
lieber nichts mitbringen, rückte ich
mit einer schönen Auswahl an Fla-
schen an, die erst mit großem Hallo
begrüßt und dann mit englischer Kon-
sequenz geleert wurden.


Es waren unter anderem einige Me-
diziner anwesend, und ich bin immer
wieder erstaunt darüber, was Ärzte so
wegkippen. Ich bin wirklich kein Kind
von Traurigkeit, aber es gibt Ärzte, die
mich gelassen unter den Tresen trin-
ken und danach lächelnd vielleicht
nicht an den Operationstisch schreiten,
aber doch aufrecht von dannen.
Ich kenne M. seit Jahrzehnten. Wir
gingen eine Weile in derselben Stadt
auf verschiedene Schulen, und auf
erstaunliche Weise haben sich unsere
Linien immer wieder gekreuzt. Einmal
standen wir, gerade 18, auf einer Party,
auf der alle anderen zuvörderst saufen
und vögeln wollten, und wir zitierten
permanent Gryphius. Dann trennten
sich unsere Wege.
Aber just, als ich mich an der Uni in
Edinburgh einschrieb, ging M. nach
Oxford, also trafen wir uns öfter. Als
ich Jahre später nach München kam,
um mich einer gewissenSüddeutschen
Zeitunganzuschließen, war M. schon
da. Bis er die Stadt verließ, tranken wir
einmal pro Woche ein paar Biere in
einem Wirtshaus namens Alter Simpl.
Schließlich zog ich nach London.
Es war, glaube ich, ein Zufall, aber
M. wohnte da bereits mit seiner Fami-
lie. Wir sahen uns dauernd. Dann
schob das Schicksal mich nach New
York und M. nach Osnabrück, und ich
dachte, vielleicht ist jetzt das Ende der
sich kreuzenden Linien gekommen.
In dieser Woche entdeckte ich auf
der 9th Avenue ein afghanisches Res-
taurant namens Ariana. Es war später
Nachmittag. Ich ging hinein.
„Es gibt in London ein Restaurant
namens Ariana II“, sagte ich zu den
Ariana-Leuten.
Die Ariana-Leute nickten.
„Seid ihr Ariana I?“, fragte ich.
Die Ariana-Leute nickten.
Ich setzte mich und bestellte Baden-
jan Chalow, ein Gericht mit Auberginen
und Lamm, ich aß es, es war köstlich,
und ich dachte an M.
M. ist in Osnabrück angekommen.
Ich bleibe erst einmal in Hell’s Kitchen.
Mal sehen, wo die Ariana-Leute ihr
drittes Restaurant aufmachen.


RATTELSCHNECK


Ariana


Gerade Ärzte trinken mich
oft gelassen unter den Tresen
und gehen aufrecht davon

FOTOS: IMAGO, ELLEN VON UNWERTH/INSTAGRAM, PRIVAT (2), RIHANNA, BERLIN, 2009 © ELLEN VON UNWERTH, ALL4PRICES(2), GETTY, ON THE HIGH HORSE, BAVARIA, 2015 © ELLEN VON UNWERTH

50 GESELLSCHAFT Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020, Nr. 44 DEFGH

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