Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1
SZ: Warum experimentieren viele junge
Unternehmen mit alternativen Lohnmo-
dellen? Gibt es eine Krise beim Gehalt?
Nick Kratzer: Eine Krise der Entlohnung
gibt es schon lange, zumindest in Bezug
auf die leistungsorientierte Entlohnung.
Zum einen, weil die Arbeitswelt so kom-
plex geworden ist, dass sich Ergebnisse
immer weniger einer individuellen Leis-
tung zuschreiben lassen. Zum anderen,
weil sich viele Unternehmen nicht mehr
für den Aufwand, die Anstrengung interes-
sieren, sondern vor allem für das Ergeb-
nis. Bei jüngeren Unternehmen kommt
ein weiteres Problem hinzu: Alle sind auf
Augenhöhe, alle duzen sich, alle brennen
gleich für das Projekt, aber der eine ver-
dient mehr als die andere – das entspricht
nicht den Erwartungen und dem Gerech-
tigkeitsgefühl der Generation Y. Aber par-
tizipative Entlohnungsmodelle, bei denen
die Mitarbeiter also mitreden dürfen, ha-
ben auch ökonomische Vorteile.
Welche denn?
Die Unternehmen nutzen das Potenzial
der Selbststeuerung ihrer Mitarbeiter
ganz gezielt. Es ist auch eine Antwort auf
die schwere Begründbarkeit und die
Gerechtigkeitsprobleme der Entlohnung.
Das kann allerdings zu einer Verschleie-
rung von Unternehmertum führen: Bei
mehr Transparenz kann das Management
sich auch leichter aus der Schusslinie zie-
hen, wenn es um die Legitimierung der
Entlohnung geht. Außerdem verschaffen
sie sich so einen Vorteil bei der Konkur-
renz um Fachkräfte. Viele junge Leute
sind nicht mehr mit der Vorstellung einer
Konzernkarriere zu kriegen. Es könnte al-
lerdings sein, dass manche neuen Gehalts-
modelle ein Etikettenschwindel sind.
Ein Etikettenschwindel?
Angeblich ist alles verhandelbar, aber ei-
gentlich ist ein großer Teil des Gehalts von
Machtfaktoren festgelegt, die Mitarbeiter
nicht beeinflussen können. Und wenn es
wirtschaftlich nicht so gut läuft, kann das
Management bei partizipativen Lohnmo-
dellen die Belegschaft ein Stück weit er-
pressen: Die müssen dann ihrer eigenen

Lohnsenkung zustimmen. Das birgt jede
Menge Flexibilisierungspotenzial. Über-
spitzt könnte man sagen: Die Unterneh-
men haben dadurch keine fixen Personal-
kosten mehr. Das geht aber natürlich nur
gut, solange das Personal nicht von seiner
Option Gebrauch macht, zu kündigen.
Ist das Ganze also nur eine höher entwi-
ckelte Form der Ausbeutung?
Nein, nicht nur. Ich will gar nicht leugnen,
dass neue Organisationsformen durchaus
eine wirkliche Befreiung bewirkt haben.
Mir scheint auch, dass da ein intergenera-
tionaler Lernprozess stattgefunden hat.
Während die Babyboomer-Generation ih-
re Selbstverwirklichung in der Arbeit ge-
sucht hat, sieht die Generation Y auch die
Risiken und sucht Selbstverwirklichung
durchaus auch außerhalb der Arbeit.
Istdie viel beschworene Generation Y
denn nicht nur ein Schlagwort?
Als Mythos ist sie jedenfalls sehr wirk-
mächtig. In meinen Befragungen hat sich
herausgestellt, dass es viele junge Leute
gibt, die andere Werte als vorangegange-
ne Generationen nicht nur vertreten, son-
dern offensiv einfordern. Dazu gehören
Flexibilität und Freiheit, aber auch Ge-
rechtigkeit. Auch Personaler, mit denen
ich gesprochen habe, wissen sehr wohl,
dass sich viele junge Leute nicht nur an-
passen und beobachten, sondern aktiv ih-
ren Platz und ihre Werte im Unternehmen
einfordern. Und am Arbeitsmarkt auch ge-
nug Chancen haben, sich das leisten zu
können. Manche Personaler haben davor
Angst, andere sehen es als Chance.
interview: tobias maier

von tobias maier

B


ei einem Betriebsausflug der
Berliner Agentur Wigwam
stellte plötzlich ein Mitarbei-
ter die Frage, die alles verän-
derte: „Was würde eigentlich
passieren, wenn jeder für sich entschei-
det, wie viel er verdienen will?“ Das Team
war an einen See in Brandenburg gefah-
ren, um über Geld zu sprechen, genauer ge-
sagt: über den Lohn der 21 Mitarbeiter.
Die Sonne schien, die Stimmung war
gut, doch die Diskussion zog sich wie Kau-
gummi. Ein Modulsystem war im Ge-
spräch, aber auf verbindliche Kriterien
konnte man sich nicht einigen. Ein Ein-
heitsgehalt? Fanden die meisten dann
auch nicht fair. Immer wieder scheiterte
die Konsensfindung an Einzelfällen, an
ein paar Euro. Hier ging es nicht nur um
Geld, sondern um Fragen wie: Welche Ar-
beit ist wie viel wert? Und welchen Sinn
hat Entlohnung überhaupt?
Bei Wigwam entschied man sich dazu,
einfach loszulassen: keine allgemeingülti-
gen Regeln aufzustellen und die Verant-
wortung den Mitarbeiterinnen selbst zu
übertragen, es zumindest einmal auszu-
probieren. Das Ergebnis war allgemeine
Euphorie. „Ganz spontan haben alle einen
vierstelligen Betrag auf einen Zettel ge-
schrieben“, erzählt Wera Stein, damals
Aufsichtsratsvorsitzende von Wigwam.
Diese Freiheit war für die meisten aber
erst mal ungewohnt: „Plötzlich stand man
da vor ganz neuen Fragen: Was trau ich
mich zu verlangen? Wie viel darf ich?“
Zusammengerechnet waren die Ge-
haltsvorstellungen der Wigwam-Mitarbei-
ter erstaunlich nah am vorhandenen Jah-
resbudget für Personalkosten. Das mag
überraschen, hängt aber damit zusam-
men, dass Wigwam eine Genossenschaft
ist. Alle Arbeitnehmer sind gleichzeitig Ar-
beitgeber und können als solche frei über
das gemeinsame Budget verfügen. Diese
Macht bringe aber auch die Verantwor-
tung mit sich, beide Perspektiven einneh-
men zu müssen, sagt Wera Stein: „Als Ar-
beitgeberin muss man sich fragen: Wie
viel Geld können wir überhaupt verteilen?
Und wie können wir diesen Betrag erhö-
hen? Als Arbeitnehmer: Wie viel brauche
ich, um zufrieden zu sein?“
Die Agentur Wigwam ist nicht der einzi-
ge Betrieb, in dem die Mitarbeiter in Ge-
haltsfragen mitentscheiden. Das funktio-
niert nicht immer so konsensdemokra-
tisch wie bei Wigwam, hat aber im Prinzip
denselben Anspruch: betriebliche Entloh-
nung so zu gestalten, dass sie von den Be-
schäftigten als fair wahrgenommen wird.
Gerechtigkeit wird damit individuelle Er-
messens- und Empfindungssache: „Fair-


ness ist gefühlte Gerechtigkeit“, schreiben
Sven Franke, Stefanie Hornung und Nadi-
ne Nobile in ihrem kürzlich im Haufe-Ver-
lag erschienenen Buch „New Pay – Alterna-
tive Arbeits- und Entlohnungsmodelle“.
Von der Bewertung durch Kollegen
über kollektive Lohnentscheidungen und
selbstgewählte Gehaltsentscheider bis
hin zur freien Vergütungswahl reichen die-
se Modelle. Klassische Institutionen wie
Gehaltsverhandlungen, Zielvereinbarun-
gen und gewerkschaftliche Tarifverhand-
lungen verlieren damit an Bedeutung.

Die neuen Gehaltsmodelle sind auch
eine Reaktion auf veränderte Anforderun-
gen der Arbeitswelt, vor allem in der IT-
und der Kreativbranche. Dass dort die
Arbeitsbeziehungen eher dezentral, selbst-
organisiert und möglichst hierarchiefrei
strukturiert sind, hängt mit dem Tempo
und der Komplexität ihres technologi-
schen und wirtschaftlichen Umfelds zu-
sammen. Dort kann kein Chef der Welt
den vollen Überblick über alle Prozesse
und Problemstellungen haben, mit denen
seine Mitarbeiter gerade beschäftigt sind.
Erfolgreiche Führung bedeutet dann
auch: loslassen können.
Das gilt auch für Lohnfragen. Wenn ein
Chef die Leistung eines Mitarbeiters in ei-
nem selbstorganisierten Team bewerten
soll, kommt er schnell an seine Grenzen.
So ging es jedenfalls Joachim Seibert, Ge-
schäftsführer von Seibert Media, einer
Wiesbadener IT-Firma. „Die Leute haben
gesagt: Ihr wollt uns bewerten? Ihr wisst ja
gar nicht, was wir machen!“ Bei Seibert
wurden deshalb die „Gehaltschecker“ ein-
geführt, ein demokratisch gewähltes Mit-
arbeitergremium, das im Streitfall über
Gehaltserhöhungen entscheidet.
Nadine Nobile, Mitautorin des Buchs
„New Pay“, sieht einen grundlegenden
Zusammenhang zwischen Dezentralisie-
rung und partizipativen Lohnmodellen:
„Wer selbstorganisierte Teams etabliert
und Entscheidungskompetenzen dele-
giert, wird sich früher oder später die Fra-
ge stellen müssen, welche Konsequenzen
das für die Bestimmung und Entwicklung
von Gehältern hat.“

Diese Frage wird umso komplizierter,
je mehr man sich auf die Forderung ein-
lässt, dass Lohn auch den Wert der Arbeit
widerspiegeln soll. Hier zeigt sich ein Di-
lemma: Gesellschaftlich wichtige und an-
erkannte Arbeit ist oft unterbezahlt, wäh-
rend man mit gesellschaftsschädigenden
Praktiken reich werden kann. An welchen
Regeln, welchen Werten soll man sich also
orientieren, wenn man versuchen will, Ent-
lohnung besser und fairer zu machen?
Die Wigwam-Belegschaft umging das
Problem, Arbeit allgemeingültig bewerten
und vergleichen zu müssen, indem sie die
Entlohnung nicht am Erfolg, an der Leis-
tung oder am Wert der Arbeit festmachte.
Stattdessen orientierten sie sich beim
Wunschgehalt an individueller Zufrieden-
heit. „Das Ziel war: Alle sollten mit ihrem
Lohn zufrieden sein und sich die Dinge
leisten können, die ihnen wichtig sind“,
sagt Wera Stein. So schön man diesen An-
satz finden mag, er zeigt auch, wo der
Schuh eigentlich drückt: Die Frage nach ei-
nem allgemeingültigen Wert der Arbeit ist
so problematisch, dass sie auf betriebli-
cher Ebene nicht gelöst, sondern nur um-
gangen werden kann.
Zumal auch andere Firmen versuchen,
dieser Frage mit Kunstgriffen beizukom-
men. Die Hamburger PR-Agentur Minis-
try Group hat ebenfalls ein neues Gehalts-
modell eingeführt. Dort wirken Kollegen
an der Festlegung von leistungsabhängi-
gen Gehaltskomponenten mit. Einer ob-
jektiven Leistungsbewertung will man je-
doch auch bei Ministry aus dem Weg ge-
hen. Chef David Cummins sagt offen: „Ich
glaube nicht, dass es möglich ist, Leistung
objektiv zu bewerten. Wir müssen zu einer
Trennung von Entlohnung und Bewer-
tung kommen.“ Die Umsetzung dieser
Idee besteht bei Ministry allerdings nur
darin, Teammitglieder in die gehaltsrele-
vante Bewertung einzubeziehen und diese
vom Feedback zu trennen. Die Bewertung
der Leistung wirkt sich also weiterhin auf
das Gehalt aus – sie vollzieht sich jetzt nur
hinter geschlossenen Türen.
An diesem Beispiel kann man sehen,
dass Versuche, Lohnmodelle fairer zu ge-
stalten mit einem Widerspruch konfron-
tiert sind. Einerseits ist es in einer Markt-
wirtschaft schwer, ein allgemeingültiges
Urteil über faire Entlohnung zu treffen, be-
sonders im IT- und Kreativsektor, wo übli-
che Standards häufig nicht gelten. Ande-
rerseits ist es auch schwer, auf die Idee
einer leistungsgerechten Entlohnung zu
verzichten, wenn man deren Anreizfunkti-
on nicht aufgeben will. Betriebe, die unter
diesen Bedingungen ihre Entlohnung fai-
rer gestalten wollen, lassen sich also auf
ein Problem ein, dessen Lösung nur teil-
weise in ihrer Macht steht.

Basisdemokratie beim Betriebsausflug: Mitarbeiter der Berliner Agentur Wigwam entscheiden gemeinsam – zum Beispiel, wie die Gehälter ausfallen. FOTO: WIGWAM


Das Ziel war: Alle sollten mit
ihrem Lohn zufrieden sein und
sich die Dinge leisten können,
die ihnen wichtig sind.“

WERA STEIN, WIGWAM EG

DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 61


BERUF & KARRIERE


Nick Kratzerist
Arbeitssoziologe am
Institut für Sozialwissen-
schaftliche Forschung
(ISF) in München.
Er untersucht den
Wandel des Berufslebens
und damit verbundene
Legitimationsprobleme.
FOTO: PRIVAT

Alle reden mit


Unternehmen wollen fairer bezahlen und experimentieren mit neuen


Formen der Entlohnung. Dabei stoßen sie schnell an ihre Grenzen


Gerechtes Gehalt?


Alternative Lohnmodelle sind nicht immer besser


Demografischer Wandel, kontinuierlicher Ressourcenabbau, Arbeitsverdichtung, Anforde-
r ungsveränderungen und digitale Transformation: Der Öffentliche Dienst steht vor großen
Herausforderungen. Aber wie implementiert man kooperative digitale Geschäftsprozesse?
Gibt es Konzepte oder Good Practices? Welche arbeitsrechtlichen Auswirkungen und Fall-
stricke sind zu beachten, damit die Digitalisierung für Beschäftigte und Arbeitgeber nicht
zum Risiko, sondern zur Chance werden?
Um diese Fragen zu diskutieren, starten wir 2020 das rehm Barcamp. Machen Sie mit!
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tauschen, sich gegenseitig inspirieren und voneinander lernen. Freuen Sie sich auf spannende
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D igitalisierung und agiles


A rbeiten in der Verwaltung


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