von karoline meta beisel
und marco völklein
B
escheidenheit scheint den Men-
schen in Luxemburg fremd zu
sein: „Wie die Entdeckung der
Schwerkraft!“, „Wie die Erfin-
dung des Rades!“, oder auch:
„Wie die Ankunft des Internets!“ Selbst
mit dem ersten Schritt auf dem Mond ver-
gleichen die Luxemburger auf einer für die-
sen Anlass eigens aufgesetzten Internetsei-
te jene Reform, die vor einem guten Jahr
angekündigt wurde, und in gut einer Wo-
che tatsächlich umgesetzt wird: Von
- März an ist der öffentliche Verkehr in Lu-
xemburg kostenlos, und zwar nicht nur
der Nahverkehr: Egal ob Eisenbahn, Bus
oder Straßenbahn – Einheimische wie Tou-
risten müssen künftig keine Fahrscheine
mehr lösen. Nur das Taxi und die erste
Klasse kosten dann noch Geld.
Die Ankündigung sorgte vor einem Jahr
auch deswegen für so viel Aufsehen, weil
sie so gut in unsere Zeit zu passen scheint:
Auf der ganzen Welt diskutieren Eltern mit
ihren schulstreikenden Kindern und Politi-
ker mit Umweltverbänden darüber, wie
der CO2-Ausstoß gesenkt werden kann. Au-
toabgase machen in Deutschland ein Fünf-
tel der gesamten CO2-Emissionen aus, der
Verkehrssektor kam – anders als die Indus-
trie oder die Energieerzeugung – zuletzt
kaum voran beim Thema Absenkung der
Emissionen. Weniger Autos und mehr öf-
fentliche Verkehrsmittel könnten also zu-
mindest einen Teil dazu beitragen, den
Ausstoß des klimaschädlichen Gases ein-
zudämmen. Zumal in Luxemburg, wo der
Stau sozusagen zum Straßenverkehr dazu-
gehört: Während Autopendler in Deutsch-
land im Durchschnitt mit 50 Kilometern
pro Stunde zur Arbeit fahren, liegt der
Wert in Luxemburg bei Tempo 22.
Umso erstaunlicher ist, dass Luxem-
burgs Verkehrsminister François Bausch
gar nicht damit rechnet, dass die Leute ihr
Auto nun stehen lassen, um gratis mit dem
Bus zur Arbeit zu fahren. „Wir glauben
nicht, dass die Maßnahme eine große Men-
talitätsänderung bewirken wird“, sagt sei-
ne Sprecherin Dany Frank. Dementspre-
chend ist auch das Echo auf die Reform in
den nationalen Medien: Wenn der öffentli-
che Verkehr nun kostenlos werde, sei das
„die Antwort auf eine Frage, die niemand
gestellt hat“, hieß es beispielsweise vor eini-
gen Tagen in einem Leitartikel in der Zei-
tungLuxemburger Wort.Was aber ist dann
die richtige Frage?
„Wenn die Leute die Möglichkeit hätten,
auf öffentliche Verkehrsmittel umzustei-
gen, dann würden sie es längst tun“, sagt
Jean-Claude Juchem. Er ist der Direktor
des Luxemburger Automobilklubs (ACL),
der sich aber ausdrücklich nicht nur als ein
Klub für Autofahrer versteht, sondern seit
einem Jahr auch Pannenhilfe für Fahrrä-
der anbietet – auch hier ist der Wandel also
angekommen. Juchem fragt: „Warum wer-
den nicht erst die Strukturen verbessert?“
Die Züge seien viel zu voll und oft verspä-
tet, außerdem fehlten wichtige Querver-
bindungen. „Der Verkehrskollaps ist jeden
Tag da“, sagt er. Und daran werde sich erst
einmal nichts ändern, nur weil der auch bis-
her schon relativ günstige öffentliche Ver-
kehr von März an gar nichts mehr koste.
Interessanterweise sieht man die Lage
im Verkehrsministerium ähnlich. „Der Um-
stieg vom privaten auf den öffentlichen
Verkehr wird nur gelingen, wenn das öf-
fentliche Angebot auch qualitativ einen
Quantensprung macht“, sagt Frank. Ge-
nau dieser Quantensprung soll nun kom-
men: Durch die Verlängerung des Tramnet-
zes etwa oder durch eine neue Trasse für
den Eisenbahnverkehr. Auch die Auto-
bahn A3 im Süden des Landes wird ausge-
baut – auf der neuen dritten Spur sollen
künftig in Spitzenzeiten nur Busse und
Fahrgemeinschaften fahren dürfen.
Verkehrsminister Bausch wirbt gerne
damit, dass Luxemburg 600 Euro pro Jahr
und Einwohner in das Schienennetz inves-
tieren will, seiner Rechnung zufolge ein
Vielfaches dessen, was Deutschland in
Gleise, Stellwerke, Brücken, Weichen und
Signale steckt. Nachdem zuvor 20 Jahre so
gut wie gar kein Geld in die Infrastruktur
geflossen sei, sei das aber nun auch drin-
gend notwendig, sagt ACL-Chef Juchem.
Hinzu kommt, dass das Problem mit
den endlosen Staus künftig eher noch grö-
ßer werden dürfte – einfach weil die Men-
ge der Pendler steigt. Einer Studie des
Luxemburgischen Wirtschafts- und Sozial-
rats zufolge pendeln bereits jetzt 43 Pro-
zent der Arbeitskräfte jeden Tag aus dem
benachbarten Ausland nach Luxemburg –
wenn man so will, kommt die Wirtschafts-
kraft jeden Morgen mit dem Auto ins
Land. Aber Luxemburg altert rapide, so-
dass der Anteil an sogenannten Grenzgän-
gern der Studie zufolge sogar noch steigen
dürfte. Zwar werden zum 1. März auch die
Preise für grenzüberschreitende Fahrten
erheblich günstiger, an der Qualität des
Netzes ändert das aber noch nichts. „In Lu-
xemburg sind auch die Schulbücher gratis,
aber deswegen sind wir noch lange nicht
besser im Pisatest“, kommentiert Juchem.
In Deutschland beobachten viele das
Vorgehen der Luxemburger mit großem
Interesse. Vor allem aus dem Lager der
Linkspartei ist der Ruf nach einem kosten-
losen Nahverkehr immer wieder zu verneh-
men, Vertreter vieler anderer Parteien be-
geistern sich zumindest immer öfter für
die Idee einer 365-Euro-Jahreskarte, wie
es sie seit einigen Jahren in Wien gibt. Frei
nach dem Motto: „Bus und Bahn fahren
für nur einen Euro pro Tag.“ Auch das wäre
gegenüber dem Status quo zumindest eine
deutliche Absenkung der Fahrpreise.
Die allerdings müsste, ähnlich wie in
Luxemburg, über Steuermittel finanziert
werden. Allein in München würde die Um-
setzung des 365-Euro-Jahrestickets nach
dem Wiener Modell einer ersten groben
Schätzung zufolge einen jährlichen Staats-
zuschuss von mehreren Hundert Millionen
Euro nötig machen, ein Gratis-ÖPNV wür-
de bundesweit nach Branchenschätzungen
etwa 13 Milliarden Euro kosten. Kritiker sa-
gen daher: Das viele Geld sollte besser in
den Bau neuer Strecken, die Anschaffung
neuer Fahrzeuge und die Beschäftigung
weiterer Fahrerinnen und Fahrer fließen,
um das Netz zu erweitern und die Taktung
bei den Bussen und Bahnen zu verbessern.
Die Verfechter des Gratis-Modells entgeg-
nen: Wer die Verkehrswende wolle, der
müsse eben beides machen – das Angebot
ausbauenunddas Tarifniveau deutlich ab-
senken. So wie in Luxemburg.
Dort werden sie den großen Tag kom-
mende Woche laut begehen: Den ganzen
Tag über spielen Bands in den Bahnhöfen,
um dann am Abend gemeinsam zur gro-
ßen Party im Tram-Betriebshof zu fahren.
Natürlich kostenlos mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln, also fast „wie bei der ers-
ten Weltreise“ oder beim „ersten Flug mit
einem Flugzeug“, wie es auf der Werbesei-
te im Internet heißt. Ob man mit der Kam-
pagne nicht doch ein bisschen übertrieben
hat? „Wir meinen das eher mit einem Au-
genzwinkern“, sagt Ministeriumsspreche-
rin Frank. „Wir hätten nicht gedacht, dass
das, was wir hier machen, plötzlich die
Menschen auf aller Welt interessiert.“
Eine gute Vorratshaltung gehört bei Klaus
Kollnig zum Job dazu. 500 Tonnen Streu-
salz sind stets auf Lager, etwa ein halbes
Dutzend Fahrzeuge sind mit Schneepflug
oder -fräse ausgestattet und können jeder-
zeit ausrücken. Außerdem gibt es am Süd-
portal des Felbertauerntunnels, direkt
über der Einsatzzentrale der Schneeräu-
mer, Schlaf- und Ruheräume für die Mann-
schaft. Denn wenn es hart auf hart kommt
hier oben in den österreichischen Alpen,
1600 Meter über dem Meer, wenn es gar
nicht mehr aufhört zu schneien, dann müs-
sen Kollnig und seine Kollegen vom Win-
terdienst auch mal über mehrere Tage in
der Einsatzzentrale verbringen und dafür
sorgen, dass die Felbertauernstraße be-
fahrbar bleibt. „Dann sieht einen die Fami-
lie unter Umständen mehrere Tage lang
nicht“, sagt der Betriebsleiter.
1967 wurde die gut 36 Kilometer lange
Felbertauernstraße eröffnet, sie verbin-
det die Bundesländer Salzburg mit Ostti-
rol. Auch viele Urlauber nutzen die Straße
zur Fahrt gen Italien. Herzstück ist der
fünf Kilometer lange Felbertauerntunnel,
eine enge Röhre mit je einer Fahrspur pro
Richtung. Damit möglichst nichts passiert
im Tunnel gibt es drei Pannenbuchten,
130 Kameras übertragen Bilder aus der
Röhre in die Einsatzzentrale. Und an der
Tunneldecke sind etwas mehr als
9000 Düsen verbaut, die bei einem Brand
über eine Hochdrucknebelanlage einen
feinen Wasserfilm verteilen und so helfen
sollen, das Feuer einzudämmen.
Damit bei Schneefall und winterlichen
Temperaturen der Verkehr rollen kann,
gilt für Kollnig und seine 50 Mitarbeiter
die Vorgabe: „durchgehende Schwarzräu-
mung“. Das schwarze Asphaltband sollte al-
so ständig zu sehen sein. Deshalb sind die
Räumfahrzeuge bei Schneefall binnen we-
niger Minuten auf der Strecke; nähert sich
die Temperaturanzeige dem Null-Grad-
Punkt an, wird bereits vorbeugend ein Salz-
Sole-Gemisch ausgebracht, um Reifbil-
dung zu verhindern. Eine Lawinenkommis-
sion hebt bei Bedarf mit dem Helikopter ab
und prüft aus der Luft, wo Gefahr droht.
Notfalls lösen Sprengmeister einzelne La-
winenabgänge kontrolliert aus.
In diesem Winter allerdings haben die
Räumkräfte an der Felbertauernstraße
eher weniger zu tun. Zwar fiel bereits Ende
November über Nacht eine größere Menge
Schnee, seither aber mussten die Räum-
kräfte im Vergleich zu früheren Zeiten in
dieser Saison kaum was wegschaffen. Das
deckt sich mit den Erfahrungen in anderen
Regionen: In Bayern zum Beispiel verzeich-
neten viele kommunale Räum- und Streu-
dienste in diesem Jahr weniger Winterein-
sätze als in den Jahren zuvor. Und auch der
Verbrauch von Salz und Streusplit hält sich
den Angaben zufolge in Grenzen.
Dennoch sind die Mitarbeiter auf den
Straßen unterwegs: „Es fehlen zwar im
Moment die Schneefälle, aber temperatur-
bedingt sind am Morgen immer wieder
Glättekontrollen nötig“, berichtet beispiels-
weise Augsburgs Umweltreferent Reiner
Erben (Grüne). Und gerade bei Temperatu-
ren um null Grad Celsius herum ist die Ge-
fahr von überfrierender Nässe groß. Viele
Straßen- und Autobahnmeistereien schi-
cken dann die Streu-Lkws vorsorglich los
und bringen salzhaltige Sole aus.
Fachleute warnen: Die Winter müssen
nicht auf Dauer mild bleiben. Ganz im
Gegenteil: Wegen des Klimawandels, sagt
der Meteorologe Friedrich Föst vom Berli-
ner Vorhersagedienst Wettermanufaktur,
dürften Extremwetterereignisse zuneh-
men – und dazu zählten zum Beispiel über-
raschende Starkschneefälle oder auch an-
haltend lange und besonders schneereiche
Winterperioden wie im Januar 2019, wo
Helfer von Feuerwehren und Technischem
Hilfswerk in weiten Teilen Oberbayerns ei-
nen extrem pappigen Schnee von den Dä-
chern schaufeln mussten. Föst sagt: „Sol-
che Extremlagen werden zunehmen.“
In Dingolfing in Niederbayern testet der
Winterdienst daher neue Wege: Seit Janu-
ar stellt die Feinkostfirma Develey dem
Bauhof überschüssiges Salzwasser aus der
Gurkenproduktion zur Verfügung. Die Gur-
kensole vom Werk (Salzgehalt: fünf Pro-
zent) wird mit zusätzlichem Salz versetzt,
um den für den Winterdienst notwendigen
Salzgehalt von 22 Prozent zu erreichen. An-
schließend bringen die Straßenwärter die
Sole auf die Straßen rund um Dingolfing
aus. Bislang, so heißt es, habe sich der Pra-
xistest bewährt – wenngleich der Bedarf
angesichts der Temperaturen in diesem
Winter gering war. marco völklein
Auch die Autobahn kriegt
eine zusätzliche Spur –
reserviert für Busse
und Fahrgemeinschaften
Gurkenwasser gegen Glätte
In diesem Winter haben die Räum- und Streukräfte wenig zu tun. Doch Fachleute warnen: Das kann auch wieder anders werden
DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 68
MOBILES LEBEN
Die Mobilität ist im Wandel:
Selbst der Autoklub bietet nun
Pannenhilfe für Fahrräder an
Gratis zusteigen
Luxemburg erstickt im Stau, von 1. März an sind sämtliche Eisenbahnen, Trams und Busse kostenlos.
Kann das Modell ein Vorbild sein, um die Verkehrsprobleme in deutschen Städten zu lösen?
Blick in eine moderne Straßenbahn in Luxemburg, die „Stater Tram“: Bis in die Sechzigerjahre hinein fuhren Straßenbahnen in Luxemburg, dann wurden – wie in vielen deutschen Städten auch – die Gleise
herausgerissen, Busse ersetzten die Trambahnen. Erst in jüngster Zeit machten die Verkehrspolitiker einen Schwenk zurück und ließen die Stater Tram neu errichten: 2017 ging sie an den Start. FOTO: IMAGO
Ausbau der Infrastruktur
Eine Schneefräse räumt die Felbertauernstraße. Für die Mitarbeiter dort gilt der Auftrag:
„durchgehende Schwarzräumung“.FOTO: MARTIN LUGGER / FELBERTAUERNSTRASSE AG
Mit dem Polestar 2 gibt es in der
Mittelklasse endlich eine Alternative
zum Tesla Model 3 Seite 67
Lange erwartet