Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
23

Alexander Neubacher Die Gegendarstellung

Paragrafen-Deutschland


Liebe Leserinnen und Leser, sollte Ihnen die hier vor-
liegende SPIEGEL-Ausgabe einen Tick weniger sorg-
fältig redigiert vorkommen, als Sie es sonst von uns
gewohnt sind, bitte ich um Nachsicht. Ein Gutteil
der SPIEGEL-Mitarbeiter war in den vergangenen
Tagen leider damit beschäftigt, den alljährlichen
Onlinefragebogen zum Thema Sicherheit am Arbeits-
platz auszufüllen. Freitag war Abgabeschluss. Auch ich habe es
gerade noch geschafft, Prüfungsfragen wie diese durchzuarbeiten:
‣Wie wird an einem Bildschirmarbeitsplatz das optimale Blick-
feld eingestellt? (Antwort: »Die Hauptblicklinie sollte aus der
Waagerechten um etwa 20 Grad nach unten gesenkt sein.«)
‣ Wie müssen Fußstützen beschaffen sein? (Antwort:
»Die Fußstütze muss individuell in ihrer Neigung und Höhe
verstellbar sein.«)
‣ Welche Eigenschaften sollte ein Bürostuhl mindestens
aufweisen? (Antwort: »Der Bürostuhl muss mindestens
fünf Rollen haben.«)
Ich will nicht bestreiten, dass Arbeits-
schutz ein wichtiges Thema ist. Die Fra-
ge ist nur, ob Aufwand und Ertrag hier in
einem vernünftigen Verhältnis stehen,
denn die Prüfung ist keine SPIEGEL-
Marotte, sondern Gesetz. Jeder Arbeit-
geber in Deutschland ist verpflichtet, sei-
ne Beschäftigten regelmäßig »über
Sicherheit und Gesundheitsschutz bei
der Arbeit ausreichend und angemessen«
zu unterweisen. So steht es in Paragraf
12 Arbeitsschutzgesetz. Und so klicken
sich Hunderttausende Büroangestellte
Jahr für Jahr durch immer neu formulierte Fragen zu Haupt-
blicklinien, Fußstützwinkeln und Bürostuhleigenschaften.
Warum tun wir uns das an? Die »Frankfurter Allgemeine«
berichtete diese Woche von einer neuen Umfrage des Allens-
bach-Instituts, wonach die Mehrheit der Berufstätigen in
Deutschland über Bürokratie im Arbeitsalltag klagt. Bei vielen
Bürgern habe sich der Unmut über immer mehr Regeln, For-
mulare und Vorschriften aufgestaut, so die Allensbach-For-
scher. 57 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten »sehr viel«
oder »viel« mit dem Ausfüllen von Formularen, Nachweis-
und Dokumentationspflichten zu tun. Eine deutliche Mehrheit
erklärte außerdem, dass die Bürokratie in den vergangenen
Jahren zugenommen habe.
Dazu passt, wie besonders betroffene Berufsgruppen in
früheren Allensbach-Umfragen die Lage einschätzten. Zwei
Drittel aller niedergelassenen Ärzte sagten, die starke Regu -
lierung sei ein sehr wichtiger Grund für den Ärztemangel
in Deutschland. Ähnlich urteilten Alten- und Krankenpfleger:
Nichts sei belastender für ihren Arbeitsalltag als der hohe
Verwaltungsaufwand.
Ich glaube, wir sollten bürokratische Vorschriften strenger
daraufhin prüfen, welche Kosten sie verursachen. Wenn
SPIEGEL-Beschäftigte ihre Arbeitszeit verplempern, mag
sich der gesamtgesellschaftliche Schaden in Grenzen halten.
Doch wenn Ärzte und Pflegekräfte einen wesentlichen
Teil ihres Arbeitstages mit Papierkram statt mit Patienten
verbringen, wird es für uns alle teuer.

An dieser Stelle schreiben Alexander Neubacher und
Markus Feldenkirchen im Wechsel.

Nachgezählt
E-Busse in Europa


Quelle: Chatrou CME Solutions



  • ohne Oberleitungsbusse


Die Zahl der rein batterie-
elektrisch betriebenen Busse*
hat sich gegenüber
dem Vorjahr verdreifacht.

548
Elektrobusse fuhren
2018 in Europa.

1687
Elektrobusse waren
2019 unterwegs.

171 E-Busse wurden 2019
in Deutschland neu
zugelassen. Der Bestand
stieg auf 321 Fahrzeuge.

Auch keine
Ahnung, was
eine Haupt-
blicklinie ist?
Passen Sie
auf, dass Sie
keinen Ärger
bekommen.

CDU-Spenden


23 Jahre mietfrei


 Auf die CDU in Hessen
könnten erhebliche Strafzah-
lungen wegen lückenhafter
Rechenschaftsberichte im
Zusammenhang mit einer lan-
ge verheimlichten Immobilie
zukommen. Hintergrund ist
eine von der Partei genutzte
Gründerzeitvilla in Marburg,
in der sich auch das Wahl-
kreisbüro von Hessens
Finanzminister Thomas Schä-
fer befindet. Die Immobilie
hatte jahrzehntelang in den
Vermögensbilanzen der Par-
tei gefehlt (SPIEGEL7/2020).
Wie der CDU-Kreisverband
Marburg-Biedenkopf auf
Anfrage einräumte, nutzte
die Partei die Villa inklusive
570-Quadratmeter-Grund-
stück zudem seit mindestens
23 Jahren mietfrei. Überlas-
sen wurde sie ihr vom »Ver-
ein zur Förderung staats -
politischer Bildung«, der im
Grundbuch als Eigentümer
eingetragen ist. Laut einem
internen Protokoll einigte
sich der Verein 1996 mit der
Partei auf einen »Miet -
vertrag«, wonach der CDU-
Kreisverband »kostenfrei«
die Liegenschaft nutzen dürfe.
Ihm oblag lediglich die
Instandhaltung. Auf diese
Weise blieben der CDU wohl
mehrere Hunderttausend
Euro an Mietkosten erspart.
Dieser geldwerte Vorteil
hätte nach Einschätzung der


Düsseldorfer Parteienrechtle-
rin Sophie Schönberger der
Bundestagsverwaltung gemel-
det werden müssen. »Werden
Immobilien mietfrei einer Par-
tei überlassen, handelt es sich
dabei um eine Parteispende,
die im Rechenschaftsbericht
veröffentlicht werden muss«,
so Schönberger. Wenn ein am
Markt erzielbarer Mietpreis
abzüglich Instandhaltungskos-
ten mehr als 10 000 Euro im
Jahr betrage, müsse auch der
Spender namentlich genannt
werden. Verstöße gegen diese
Veröffentlichungspflicht wer-
den mit Strafzahlungen in
doppelter Höhe der Spende
geahndet. In Marburg dürfte
die 10 000-Euro-Grenze deut-
lich überschritten worden
sein: Die CDU vermietete Tei-
le der Villa an Untermieter
weiter und nahm damit bis-
weilen mehr als 40 000 Euro
pro Jahr ein. Dennoch findet
sich in den Rechenschafts -
berichten der CDU seit 1996
kein Hinweis auf Spenden des
Vereins, in dessen Vorstand
seit 2013 auch Schäfer sitzt.
2019 meldete dann der
CDU- Kreisverband das
Gebäude bei der Bundestags-
verwaltung rückwirkend
für zehn Jahre als Parteieigen-
tum. Zuvor, sagt Finanz -
experte Schäfer, sei seine Par-
tei davon ausgegangen,
dass der Verein »Eigentümer«
der Immobilie gewesen sei –
und der Kreisverband ledig-
lich »Besitzer«. MAB, SRÖ
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