Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
Anthropologie

Die älteste Geschichte


der Welt


 Zu Anbeginn aller Zeit zogen vier
Riesen nach Südostaustralien. Einem
von ihnen – Budj Bim war sein Name –
gefiel die Gegend so sehr, dass er sich
niederhockte und in einen Vulkan
verwandelte. Seine Zähne wurden zu
Lavaströmen. So lautet, in Kürze, die
Schöpfungsgeschichte der Gunditjmara,
einer Aborigines-Volksgruppe aus dem
australischen Bundesstaat Victoria.
Forscher der University of Mel-
bourne halten es nun für möglich,
dass die Sage von Budj Bim, die bis
heute in der Gegend erzählt wird,
keiner nachträg lichen Zuschreibung
entspringt, sondern dass die Menschen
dem Hügel einst tatsächlich bei seiner
Entstehung zusahen. Damit wäre
die Legende die älteste mündlich über -
lieferte Geschichte der Welt.

Denn der Vulkan, so fand das Team
um die Geowissenschaftlerin Erin Mat-
chan nun heraus, ist rund 37 000 Jahre
alt. Vergleichsweise plötzlich türmte sich
der Feuerberg damals auf: durch eine ra-
sche Serie von Eruptionen. Waren Men-
schen Zeugen des Geschehens? Wahr-
scheinlich ja. Eines der Indizien ist eine
bereits in den Vierzigerjahren in der Ge-
gend geborgene Steinaxt, die nun neu
datiert werden konnte. Sie fand sich näm-
lich unter dem vulkanischen Gestein und
beweist damit, dass schon vor den Erup-
tionen Menschen in der Region lebten. PBH

Klimawandel

»Es wäre ein


extremer Eingriff«


Der Meteorologe
Joakim Kjellsson,
33, vom Geomar
Helmholtz-Zen-
trum für Ozean -
forschung in
Kiel über den Vorschlag, die
Nordsee einzudämmen

SPIEGEL:Zusammen mit dem
niederländischen Ozeanogra-
fen Sjoerd Groeskamp schla-
gen Sie vor, Dämme zwischen
Norwegen und Schottland
sowie zwischen Frankreich
und England zu errichten, um
die Nordsee vom Nordatlantik
abzutrennen. Im Ernst?
Kjellsson: Wenn es uns nicht
gelingt, den Klimawandel auf
andere Weise abzumildern,
könnte die Konstruktion eines
Damms eines Tages die letzte
Möglichkeit sein, um Nord-
westeuropa vor dem steigen-
den Meeresspiegel zu bewah-
ren. Prognosen zufolge könnte
der Meeresspiegel 2500 fünf
bis zehn Meter höher liegen
als heute. Rund 25 Millionen
Europäer wären in Gefahr.
SPIEGEL:Dennoch erscheint
Ihre Idee wie Gigantomanie.

Kjellsson:Unser Vorschlag ist
noch nicht als konkrete
Lösung gemeint, sondern soll
eher eine Warnung sein, ein
Gedankenexperiment, um die
extremen Kosten technischer
Lösungen des Klimawandels
klarzumachen. Die Erkenntnis,
dass ein riesiger Damm über-
haupt eine praktikable und
kosteneffiziente Lösung sein
könnte, veranschaulicht, wie
sehr uns der Anstieg des Mee-
resspiegels bedroht.
SPIEGEL:Sind wir uns dieser
Bedrohung nicht längst be -
wusst?
Kjellsson:Das glaube ich
nicht. Wer über den Klima-
wandel diskutiert, spricht
meist über Hitzewellen, Tro-
ckenheit oder Waldbrände.
Der Anstieg des Meeresspie-
gels könnte aber mindestens
genauso verheerende Folgen
haben. Im Moment steigt das
Meer nur ein paar Millimeter
pro Jahr. Das klingt nicht
nach viel. Aber der Anstieg
beschleunigt sich.
SPIEGEL:Zwischen der fran -
zösischen Bretagne und dem
Südwesten Englands liegen
161 Kilometer, zwischen
Schottland und Westnorwegen
sogar 476 Kilometer. Die
durchschnittliche Meerestiefe
beträgt dort 127 Meter. Wäre

es tatsächlich möglich, dort
einen Damm zu bauen?
Kjellsson:Unseren Berech-
nungen zufolge gibt es keine
ernsthaften technischen oder
finanziellen Hindernisse. Eine
Herausforderung wäre das
natürlich schon. Ständig fließt
Wasser über Flüsse in die
Nordsee. Es müsste abge-
pumpt werden. Außerdem
müsste der Damm den Meeres-
graben direkt vor Norwegens
Küste queren, der ist dort 321
Meter tief. Wir brauchten eine
Menge Sand und Steine, aber
möglich wäre es wohl. Schon
heute sind wir in der Lage, fes-
te Ölplattformen in Tiefen von
über 500 Metern zu bauen.
SPIEGEL:Gibt es denn einen
Plan B?

Kjellsson:Ich kenne keinen.
Ohne Küstenschutz müssten
ja Millionen von Menschen
umgesiedelt werden. Oder
jedes Land könnte versuchen,
seine eigene Küstenlinie zu
verteidigen. Das wäre sehr
wahrscheinlich noch viel teu-
rer. Ein gemeinsamer Nordsee-
damm wäre durchaus finan-
zierbar. Wir haben Baukosten
von etwa 250 bis 500 Milliar-
den Euro errechnet. Das
wären bei 20 Jahren Bauzeit
nur 0,1 Prozent des derzeiti-
gen Bruttoinlandsprodukts
aller Länder, die durch einen
solchen Staudamm geschützt
würden.
SPIEGEL:Die Auswirkungen
auf die Nordsee, deren Ökolo-
gie, auf Schifffahrt und Fische-
rei wären massiv.
Kjellsson:Natürlich. Die
Gezeiten wären dahin und
damit auch der Transport von
Nährstoffen. Das Ökosystem
würde komplett verändert,
schließlich entstünde ein Süß-
wassersee – es wäre ein extre-
mer Eingriff. Deshalb sind wir
auch gar nicht dafür, dass ein
solcher Damm gebaut wird.
Die beste Lösung wäre natür-
lich, den Klimawandel jetzt
auf andere Art einzudämmen.
Genau dazu wollen wir auf -
rufen. PHB

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Fußnote

Wochen dauert es, bis ein mensch -
licher Körper vollständig kompostiert
ist; das berichteten Forscher jetzt auf
der alljährlichen Wissenschaftskonfe-
renz der AAAS in Seattle. Die Kompost-
bestattung ist in den USA als klima-
freundliche und ökologisch nachhaltige
Leichenbeseitigung bislang nur im
Bundesstaat Washington legalisiert.
Der tote Leib wird bei dem Verfahren
in einem Komposter mit Pflanzen -
material versetzt, dann gelegentlich
gedreht und gut belüftet. Übrig bleibt
am Ende eine dunkle, bröselige Sub-
stanz. Die ersten sechs Kadaver sind
im Rahmen einer Pilotstudie an der
Washington State University verrottet.
Von Anfang 2021 an soll das Verfahren
kommerziell angeboten werden.

4 bis 7


JAN STEFFEN / GEOMAR

Nordsee

Nord-
atlantik

Damm
161 km

Damm
476 km

Mögliche Dammverläufe

EUGENE VON GUERARD
Vulkan Budj Bim (Zeichnung, 19. Jahrhundert)
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