Die Welt - 14.03.2020

(coco) #1

M


ündigkeit ist Auftrag von
Anfang an, aber kann
auch vom Ende her ge-
dacht werden. Beein-
druckend ist auch bei der
x-ten Lektüre von Imma-
nuel Kants Aufsatz „Was
ist Aufklärung?“ (1784), wie klarsichtig er den
Weg westlicher Aufklärung und Zivilisation sah
im Sinne einer Bequemlichkeitsoffensive, die es
einfach macht, die Mündigkeit als Ideal auf-
zugeben. „Es ist so bequem, unmündig zu sein“,
schreibt er, Hunderte Jahre bevor es Alexa,
Fahrassistenten und Künstliche Intelligenz gab.
„Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat,
einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,
einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.,
so brauche ich mich nicht selbst zu bemühen.“
Hier wird es dann doch etwas protestantisch,
wenn Kant fortfährt: „Ich habe nicht nötig zu
denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere
werden das verdrießliche Geschäft schon für
mich übernehmen.“
Die Frage nach der Mündigkeit will also nicht
nur auf erkenntnistheoretischer Ebene ver-
handelt werden, sondern auch lebenstechnisch.
„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, wa-
rum ein so großer Teil der Menschen, nachdem
sie die Natur längst von fremder Leitung frei-
gesprochen haben, dennoch gerne zeitlebens
unmündig bleiben; und warum es anderen so
leicht wird, sich zu deren Vormündern auf-
zuwerfen“, schreibt Kant. Ein mündiges Leben
erfordert Anstrengung und Disziplin. Um aber
nicht zu protestantisch zu werden, gilt es dabei,
die Freude der Mündigkeit als Erhabenheit im
Anblick der Herausforderung im Sinne einer
Selbstwirksamkeit zu genießen oder zumindest
zu registrieren.
Der mündig Lebende entzieht den leiden-
schaftlichen Vormündern, denen es im Zweifel
um die Verhinderung von Mündigwerdung
gehen muss, die Geschäftsgrundlage. Und um
hier eine Art Mündigkeitsimperialismus zu
formulieren: Wer die Kraft dazu hat, über die
eigene Verweigerung der Bevormundung hinaus
aktiv sein zu wollen, dem muss es darum gehen,
den Vormundschaftsbrigaden ihre Katheder

und ihr Geschäftsmodell zu zertrümmern.
Kant ahnte den revolutionären Gestus seiner
Überlegungen, als er sie formulierte. Und er
wusste, dass es Zeit benötigt, um die Denk- und
Handlungskonsequenz dieser Überlegungen
erblühen zu lassen. Der Übergang von einem
Zeitalter der Aufklärung zu einem aufgeklärten
Zeitalter ist wohl ähnlich lange wie der vom
Sozialismus zum Kommunismus. Auch über
zweihundert Jahre nach Kant sind wir keines-
wegs in einem aufgeklärten Zeitalter ange-
kommen. Wir sind weiterhin zur Aufklärung
verpflichtet. Wie zu Kants Zeiten ist die Un-
mündigkeit weiterhin zu einer Art schauerli-
chen Natur vieler Menschen geworden, die
diese sogar lieb gewonnen haben und so nie den
Versuch machen, sich des eigenen Verstandes
zu bedienen. Das kann man alles so machen,
aber dann – hier wird Kant drastisch – verletzt
und tritt man „die heiligen Rechte der Mensch-
heit“ mit Füßen.
Am Anfang der Mündigkeit steht der Zweifel.
Das illiberal-antidemokratisch Autoritäre der
Zweifelsfreien drängelt ihre Weltanschauung in
eine simplifizierende Popularisierung um jeden
Preis. Geht die Ermächtigung einer Idee, auch
einer vermeintlich vernünftigen, nur zum Preis
der Aufopferung ihrer Mündigkeitsideale, ist
der Preis in den meisten Fällen zu hoch. Der
Populismus will unmündige Untertanen und
unmündige Bürger und Konsumenten.
Deswegen fängt der Widerstand gegen das
Populäre früh und privat an. Kinder werden
früh entweder zum Gehorsam oder zum klugen
Zweifel erzogen. Sie lernen Autorität entweder
als Ort strenger Gewissheit oder als Ermutiger,
sich des eigenen auch jungen Verstandes zu
bedienen. Souveränität ist erarbeitete Unter-
scheidungsfähigkeit.
Descartes’ Idee, im Zweifel geradeaus weiter-
zulaufen, wenn man sich verirrt hat, bleibt
hilfreich. Wer driftet, weiß, wo er hinwill. Er ist
gerade nicht verirrt, sondern orientiert. Er hat
seine Sinne zusammen, er ist klar und fit. Mün-
digkeit in ihrer idyllisch integrierten Art in-
kludiert die Fürsorge für das leibliche Wohl,
einen nachhaltigen Umgang mit den eigenen
psychischen und körperlichen Ressourcen. Der

mündige Konsument schont sich und seine
Umwelt: Er braucht keinen Arzt, der für ihn die
Diät beurteilt.
Der gesunde erwachsene Anteil geht selbst-
fürsorglich mit sich um, ohne sich oder andere
Menschen zu verletzen. Er beinhaltet Verständ-
nis und Mitgefühl für die eigene Geschichte,
schlägt einen gesunden Mittelweg vor zwischen
milder Nachsicht und realistischen Anforderun-
gen beim Erreichen von Zielen. So formuliert
das die Schematherapie von Jeffrey Young.
Sie formuliert eine emotionale Rationalität,
deren intellektuelles Pendant bei Karl Popper
zu finden wäre, wenn er über den Rationalisten
spricht. Der ist – so Popper – „einfach ein
Mensch, dem mehr daran liegt zu lernen, als
recht zu behalten; der bereit ist, von anderen
zu lernen, nicht etwa dadurch, dass er die frem-
de Meinung einfach annimmt, sondern dadurch,
dass er gerne seine Ideen von anderen kritisie-
ren lässt und gerne die Ideen anderer kriti-
siert“. Der Rationalist, den Popper den echten
Rationalisten nennt, glaubt nicht, dass er selbst
oder irgendjemand im Besitz der Weisheit ist.
Popper, der neben dem Studium auch eine
Tischlerlehre abgeschlossen hatte, schuf mit
dem kritischen Rationalismus eine wissen-
schaftstheoretische Startrampe für jene Mün-
digkeitsanstrengungen, die nie aufhören kön-
nen, weil Wahrheit und Weisheit keinerlei Ru-
hepunkte schaffen. Mündigkeitsfortschritte gibt
es nur durch Versuch und Irrtum.
Das mündige Leben hat einen authentischen
Zugang zur eigenen Emotionalität, weil sie
zugelassen und reflektiert ist. Die Freiheit, frei
zu sein, bedeutet, jeden Aspekt menschlicher
Existenz in seiner Soheit anzunehmen, aber in
keinem aufgehen zu wollen. Die innere Distanz
zu letztlich nahezu allem konstituiert Mündig-
keitsreserven auch in Extremsituationen, wo
dies anderen Lebenstechniken schwer möglich
ist. In den Riten von Ignatius von Loyola, dem
Gründer des Jesuitenordens, wird Distanz trai-
niert.
Im Zwischenmenschlichen ist Mündigkeit
Loyalität. Der Mündige bindet sich in Hingabe
zu Loyalität. Sie erlischt erst, wenn die Loyali-
tät kategorisch einseitig wird. Aber auch eins-

tige, erloschene Loyalitäten haben noch eine
Bindekraft des Anständigen in Erinnerung an
alte gelebte wie geliebte Loyalitäten.
Mündigkeit ist ein Panzer gegen den Hang
zum Opportunismus, der zeitgenössischsten
Form der Ich-Verweigerung. „Never lift“, heißt
ein Gruß unter Petrolheads, und das verbindet
progressive Akteure einer Gesellschaft, die sich
im Kern vor der Veränderung fürchtet. An ihrer
Ungeduld sollt ihr die Mündigen erkennen. Und
progressiv kann nur derjenige sein, der die
Veränderung gestalten kann und will. Mündig
erschiene vor diesem Hintergrund derjenige,
der seine Vorstellung von einer besseren Welt
wirklich auch umsetzen kann. Mündige Indivi-
duen sind als Ideal Kühlaggregate erhitzter
Erregungs- und Empörungsmaschinerien.
Die Stoa hat in der Antike die Lebenstechnik
der Selbstabkühlung erfunden und zur frühen
Reife gebracht. In ihr versteckt sich ein natur-
romantischer Klassiker der Selbsttechnik: Auch
der mündige Intellektuelle kann seine innere
Stimme – zwischen dem Lärm des Alltags und
den gewünschten Arbeitsverdichtungen – hören
und damit wissen, wenn er dabei ist, Körper
oder Geist nachhaltig zu beschädigen. Mündig
zu leben heißt, im Zweifel Gesundheit als Frei-
heitsgarant souveräner Entscheidungen zu
erhalten, so es in der eigenen Macht steht.
Der Mündige muss verführen. Er muss die
anderen affizieren. Und immer wieder sich
selbst. Es geht nicht ohne Schönheit. „Man
muss verrückt sein, man muss den Boden
‚Mensch‘ unter den Füßen verlieren können,
um in der Luft zu schweben und mit dem Le-
ben Liebe zu machen“, schreibt Francis Picabia.
„Was für eine schöne Frau und was für ein
schöner junger Mann zugleich das Leben ist.“
Schönheit ist wichtiger als die Moral, wenn es
der freie Weg sein soll. Und alles kann schön
sein.
Das Mündigwerden hört nie auf. Es beginnt
in der Wiege und endet im Tod. Alles dazwi-
schen ist mündig einfach besser.

TDer Text stammt aus dem neuen Buch des
Autors, das gerade erschienen ist: „Mündig“
(Klett-Cotta)

ESSAY


DER


TRAUM


VOM


MÜNDIGEN


BÜRGER


ULF POSCHARDT

Auch zwei


Jahrhunderte nach


Immanuel Kant sind


wir keineswegs in


einer aufgeklärten


Epoche


angekommen.


Wie zu Zeiten des


Königsberger


Philosophen fühlen


sich viele Menschen in


der Unmündigkeit am


wohlsten und lassen


sich vom Katheder


sagen, was sie zu


denken haben.


2


14.03.20 Samstag,14.März2020DWBE-HP


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