Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

SEITE 8·SAMSTAG, 22.FEBRUAR2020·NR.45 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


ieganzeHilflosigkeitderEu-
ropäer angesichts des Ge-
schehens in Syrien kommt
in einerFormulierung in der EU-Er-
klärung zu denKämpfeninIdlib zum
Ausdruck: „Nicht hinnehmbar“ sei
die militärische Offensivedes syri-
schenRegimes und seinerUnterstüt-
zer,die dortgroßes menschliches
Leid verursacht .Dasselbewarinden
vergangenen Jahren schon über so
vieles zu sagen: den Einsatzchemi-
scherWaffen, die Fassbomben auf
Wohnviertel, dengezielten Beschuss
vonKrankenhäusern.Unddochhat
die EuropäischeUnion das alles hin-
genommen.Wassolltesie auc htun?
Die einzigeund auchnur theoreti-
sche Möglichkeit,etwa sgegen den
Vormarsc hder Regierungstruppen in
Idlib zu tun,wäre eine militärische
Unterstützung derTürkei –und da-
mit eines Herrschers, der mit seiner
EinmischungindensyrischenBürger-
krieg einegehörig eMitschuld an der
gegenwärtigen Lageträgt. Bei Assad
und seinenrussischenVerbündeten
tref fenAppelle an die Menschli ch-
keit ohnehin auf eine Leerstelle. Hät-
te dieEUzu BeginndesAufstandsge-
gendas Assad-Regime schon jene
„Sprache der Macht“gesprochen, die
zu lernen sie sichnun vorgenommen
hat, wäre es vielleicht möglichgewe-
sen, diegroße Tragödie einzudäm-
men. Nunsollt esie wenigstensdiepo-
litischen und wirtschaftlichenKosten
in die Höhe treiben, dieRuss land für
seine Politik zu zahlen hat;und so
viel wie möglichtun, um dasvonPu-
tin und Assadverschuldete Leid zu
lindern.


Sprache der Macht


VonReinhardVeser

N


acheinerJahrzehnteandauern-
den Debattelegalisiertendie
Niederlande im Jahr 2001 als
erstesLan dweltweitdieSterbe-
hilfe. Seitdem sind Ärzten dortsowohl die
aktiveSterbehilfeals auc hdie Beihilfe
zum Suiziderlaubt,wenn einPatient, des-
sen Zustand aussichtslos istund dessen
Leiden unerträglichsind, „freiwilligund
nachreiflicherÜberlegung“ darumgebe-
tenhat.Unter strengerenVoraussetzun-
gengilt dasGesetzsogar fürKinder.Wenn
es nac hder linksliberalenRegierungspar-
teiD66 ginge, dürften auchMenschen
SterbehilfeinA nspruchnehmen, die zwar
nicht todkrank sind, ihr Leben aber für
„abgeschlossen“ oder „vollendet“ halten.
Werdiesen Vorstoßnicht unwillkürlich
für bedenklichhielt, dem half das nieder-
ländischeGesundheitsministerium auf die
Sprünge. In einerkürzlichveröf fentlich-
tenStudie machten dieWissenschaftler
etwa 10 000 Niederländer aus, die angeb-
lichmit ihrem Leben „abgeschlossen“ ha-
ben und einen dringendenTodeswunsch
empfinden. Dieser sei jedochselten ein-
deutig; die Hälfteder Befragten empfinde
ihn „mal mehr,mal weniger“, zumTeil
hängeervonJahreszeitenab.NureinFünf-
telder Befragten sehne sich„täglich“ und
„dauerhaft“ nachdem Tod.
Wieheikel es ist, selbstunheilbar kran-
kenund schwer leidenden Menschen ei-
nen eindeutigenTodeswunschzuunter-
stellen, beschäftigtevergangenen April
auchdas Bundesverfassungsgericht. Erst-
mals befasstesichdas höchsteGerich tda-
mals eingehend mit derSterbehilfe. Ent-
sprechendgroß sind die Erwartungen an
die Entscheidung, die das Gerichtkom-
menden Mittwochfällen wird.
DemZweitenSenatliegen sechsVerfas-
sungsbeschwerdenvor, die sic hgegen das
Ende 2015 in Kraftgetretene Verbotge-
schäftsmäßigerSterbehilferich ten.Als Re-
aktion auf zunehmende Aktivitätenvon
Sterbehilfevereinen hatteder Bundestag
dieRegelung unterAufhebung desFrakti-
onszwangs beschlossen. Seitdem istdie ei-
gentlichstraflose Beihilfezum Suizidver-
bot en, wenn sie „geschäftsmäßig“erfolgt,
also aufWiederholung angelegt ist. Auf
ein Profitinteressekommt es nicht an. Er-
fasstsind Fälle, in denen jemand einer an-

derenPerson die Gelegenheit zum Suizid
bietet,ihr etwaein Medikament zurVerfü-
gung stellt, das unmittelbar zum Tod
führt.
Geklagt haben schwerkrankePatien-
ten, dieSterbehilfeinAnspruchnehmen
möchtenundmeinen,dasVerbotgreifeun-
verhältnismäßigindenKernbereichperso-
naler Selbstbestimmung ein.Ausdem all-
gemeinenPersönlichkeitsrecht leiten sie
ein Rechtauf selbstbestimmtesSterben
ab. Daneben sindSterbehilfevereine und
Ärzt evor das Bundesverfassungsgericht
gezogen. Diese berufen sichauf eineVer-
letzung ihrer Gewissens- und Berufsfrei-
heit.Der unbestimmteBegriff der „Ge-
schäftsmäßigkeit“ stelle zudem nicht si-
cher,dassbisher straffreie Formen der
Sterbehilfeerlaubtblieben;auchdieGren-
zen erlaubterPalliativmedizin seien un-

klar geworden. ImFokusder zweitägigen
Verhandlung im Aprilstand allerdings die
Aut onomieSchwerkranker –auf die sich
sowohl Gegner als auchBefürworter der
Sterbehilfeberufen. Den einengeht es um
Schutzvorzuviel Staat, der ein selbstbe-
stimmtesSterben verhindere,denanderen
um den SchutzvorAngeboten,die Men-
schengeneigterfür einen Suizidmachen
könnten.
Tatsächlichgeht ausStudien vonMedi-
zineth iker nhervor, dassdieZahlderSuizi-
deinLändern, die Sterbehilfeliberalisiert
haben, eindeutig zunimmt.Alteund kran-
ke Menschen, so die Befürchtung,könn-
tensichunter Druckgesetzt fühlen. Die
Furcht, anderen eine Last zu sein, gilt da-
bei als einwesentlicherFaktor .Vor die-
sem Hintergrund sprachder Präsident der
Deutschen Gesellschaftfür Palliativmedi-

zin vordemVerfassungsgerichtgardavon,
dankbar für dasVerbotzusein. So sah es
inKarlsruheaucheineanderePalliativme-
dizine rin,die zudemvoreinemeinfältigen
Aut onomieverständniswarnte.Sobald ein
MenschSterbehilfeinAnspruchnehme,
sei er auf andereangewiesen.GelebteAu-
tonomie setze auf Beziehung.Um nein sa-
genzukönnen, seien Ärzteauf die neue
Regelungangewiesen.DerenBefürworter
warnen darüber hinaus davor, voreilig von
„autonomen“ Todeswünschen zu spre-
chen. In neunzig Prozent allerSuizidege-
hen Psychiater vonerheblichen psy-
chischen Störungen aus, die kognitive
Funktionen entscheidendverzer ren. Die
Rede is tvon „psychiatrischenNotfällen“,
dievonAmbivalenz,Hoffnungs-undHilfs-
losigkeitgekennzeichnetsind. Zwargebe
eseinenAnteilfreiverantwortlicherSuizi-
de, der überwiegendeTeil gehöre aber
nichtdazu, berichteten Sachverständigein
Karlsruhe.ZudemließenSterbewünsche
in allerRegelnach, wenn sic hPatienten
aufgehoben fühlten.
SchwerkrankeMenschen allerdings nur
an Hospize und an diePalliativmedizin zu
verweisen,stelltederZweiteSenatwieder-
holt inFrageund gabzuerkennen, ein
RechtaufselbstbestimmtesSterbenzumin-
destzuerwägen.Verfassungsrichter Jo-
hannesMasingwiesaufdiejenigenhin,de-
renSterbewunsch freiverantwortlich sei
und die schlicht nicht die Krafthätten,
sichdurch alle Stufen derPalliativmedizin
zu kämpfen.„Aus Freiheitserwägungen“
könne man ihnen ärztliche Suizidhilfe
kaum verwehren. Bis heuteist allerdings
nicht bekannt, dassesinfolg edes Verbots
auchnur zu einemStrafverfahrenkam.
Obdi eneueRechtslag eärztlicheSterbe-
hilfeinEinzelfällenverbietet, mussdas
Gericht trotzdem klären, schon aus Grün-
den derRechtssicherheit.Dabei darfnicht
ausdemBlickgeraten,welcheDynamiken
eineausdrücklicheLegalisierungvonSter-
behil fe offenbar nachsichziehenkann.
Trotzder Gefahren eines juristischen
Graubereichs spricht insofernvieles für
die Forderung desVorsitzenden der Lan-
desärztekammer Baden-Württembergs,
der inKarlsruhe betonte:„Es darfnicht
aufa llesLichtgelenktwerden,wasimVer-
traue nsverhältnis zwischen Arzt undPa-
tientpassier t.“

S

chon wiederRuss land! Schon
wieder,wie 2016, haben offen-
bar russische Stellen Appetit
auf illegaleTeilhabe an der amerika-
nische nPräsidentenwahl.DerAuffas-
sung sind zumindestdie amerikani-
schen Geheimdienste.Die sindgene-
rell im Weißen Haus nicht sonderlich
gelitten;weil sie abermalsvorrussi-
scher Einmischungwarnen, nochwe-
niger ;und weil sie ihreSorgenmit
(demokratischen)Abgeordne tendes
Repräsentantenhausesteilten, noch
viel weniger –der amtierende Ge-
heimdienstkoordinator Maguire
mussdeswegen sogargehen, weswe-
genAmerikas anscheinend unausge-
lastete rBotschaf terinBerlin, Gre-
nell, zusätzlichzuseiner diplomati-
schen Verwendung vorübergehend
MaguiresPosten übernehmen soll.
Vordem Zorn des Präsidenten ist
niemand sicher,vor allemwenn es
um einen Aktvermeintlicher Illoyali-
tätgeht.Man weiß nicht,wasschwe-
rerwiegt: Trumps Absolutismus und
der Hassauf die Demokraten oder
der russische Versuch, abermals in
eine demokratischeWahl einzugrei-
fen. Die Mächtigen im Kreml haben
offenkundig Gefallen daran gefun-
den, westliche Länder inAufregung
zu versetzen und das Herzstückder
Demokratie zu manipulieren. Man
musssichdasvorstellen:DerGeheim-
dienstkoordinator wirdentlassen,
weil er demKongress vondieser Ein-
mischung berichten lässt.„Illoyali-
tät“ hatTrump vonGrenell nicht zu
befürchten. Wieerwohl reagieren
würde,wenn nicht er der Begünstigte
ausländischer Einmischungwäre?


Erns tesThema:Der Senat um PräsidentVoßkuhle muss entscheiden. Fotodpa

Auch für den hessischen Innenminis-
terhaben sichdie Ereignisse über-
schlagen. Erst am Dienstag hattePe-
terBeuth im Landtag di eneuen Zah-
len derPolizeilichen Kriminalstatistik
vorgestellt:die Straftat en auf dem
niedrigsten Stand seit 40 Jahren; die
Aufklärungsquotesohochwienoch
nie. SeineRegierungserklärung über-
schrieb der CDU-Politiker mit:„Er-
folgreicher Startinein sicheres Jahr-
zehnt.“Erweiß natürlich ,dassdiese
Daten nur Teil eines Gesamtbilds
sind,verwahrte sichaber gegendie
„üblichenRufe der Opposition“.
Undinder Nachtzum Mittwoch
dann derTerror.Beuth sprach nach
den MordenvonHanau voneinem
„Anschlag aufunserefreieundfriedli-
cheGesellschaft“.Unddahatteschon
Generalbundesanwalt PeterFrank
dasVerfahrenwegenseiner Bedeu-
tungübernommen.MitdenErmittlun-
genistwieüblichdasBundeskriminal-
amt beauftragt, dasmit dem Landes-
kriminalamt zusammenarbeitet.Das
galt auc hschon imFall der Ermor-
dung desKasseler Regierungspräsi-
denten undParteifreund BeuthsWal-
terLübcke und natürlichimVerfah-
rengegen dieTerroristen des NSU.Im
Fall Lübcke musssichBeuth wohl
nocheinem Untersuchungsausschuss
stellen. In dessen Mittelpunkt wird
die Fragestehen, warumder Täter
vomRadar desVerfassungsschutzes
verschwundenwar.Anknüpfenkann
das Gremiuman die Arbeit des NSU-
Untersuchungsausschusses.DieseFra-
ge stellt sichjetzt wieder,ohne dass
man damitgleicheinen Vorwurfver-
bindenkönnte. Warumfallen solche
Täternicht eher auf?Ist der Staat auf
dem rechtenAuge blind?
Auch diesem Vorwurfsah sich
Beuthschon ausgesetzt.Sowurde sei-
ne Informationspolitik überrechtsex-
treme Bestrebungen in der hessischen
Polizei gerügt.Erfand andererseits
Beachtung für seineInitiativen,Poli-
zistenmit Body-Camsauszustatten,
für das Präventionsprogramm „Kom-
pass“ sowie denVorstoß, Rettungs-
kräf te re chtlic hbesser zu schützen.
Schar fwandte sichder Innenminister
gegenBengalosinFußballstadien und
forderte, solche Pyrotechni knach
dem Sprengstoffrecht zu behandeln.
Beuth ist kein großer Redner,gilt
aber als geschickter Vermittler .In
Köln 1967geboren, machte Beuth
Abitur inTaunusstei nund studierte
JurainMainz. 1999 wurde er direkt in
den Landtaggewählt, warGeneralse-
kretär der Hessen CDU undkoordi-
nierte erfolgreichdie Koalitionsge-
spräche mit den Grünen. 2014 wurde
BeuthMinisterfür Inneres und Sport;
das Amt behielt derverheirateteVa-
terzweierKinderauchnachderLand-
tagswahl 2018.
Nachdem Beuthnach IS-Festnah-
men imvergangenen Herbst inFrank-
furtnochmahnte, dieBedrohung
durch den internationalen islamisti-
schenTerrorismussei weiterhin akut
und real, steht nun mehrdenn je wie-
der derRechtsterrorismus imFokus.
Unddaswir dwohleinstweilensoblei-
ben. REINHARD MÜLLER

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Wiederholungstat


VonKlaus-DieterFrankenberger

Im Namen der Autonomie


PeterBEUTH FotoMichael Kretzer

Man müsse in Afghanistan„dem Frieden
eine Chancegeben“,sagteder amerikani-
sche VerteidigungsministerMarkEsper.
Dasgeheabernur aufdemWege einerpo-
litischenVereinbarung–und wenn man
bereit sei, Risiken einzugehen. Daswar
voreinerWocheaufderMünchnerSicher-
heitskonferenz, als es ersteBericht egab,
wonachsichdie Amerikaner und dieTali-
ban nachlangenVerhandlungenauf ein
Abkommengeeinigt hätten. Seither sind
einigeDetails zu derVereinbarung be-
kanntgeworden, auchwenn diekomplet-
tenBestimmungen bis datonicht öffent-
lichgemacht wurden und zentraleFragen
offenblieben. Dochnun soll es schnellge-
hen: Radio Free Europe berichteteam
Freitag unterBerufungaufranghoheTali-
ban-Mitgliedersowiede nSprecherdesaf-
ghanischen Nationalen Sicherheitsrats,
dassdie er stePhase desAbkommens
schon an diesem Samstag um Mitternacht
beginnensolle:diesogenannte„Gewaltre-
duzierung“.
Schon dieTerminologieverdeutlicht,
wie schwierig dieVerhandlungen über
diese Fragewaren: Es istnicht voneiner
Waffenruhe dieRede, sondernvon einer
siebenTage langenPhase„reduzierterGe-
walt“. Wenn sie erfolgreichist,soll diese
in das eigentlicheAbkommen zwischen
Washingtonund den Taliban-Rebellen
münden. Das sieht einen schrittweisen
Abzug der ausländischenTruppenvor;im
Gegenzugverpflichten sichdie Taliban,
international operierenden Terrorgrup-
pen keine Unterstützung mehr zugewäh-
ren. Zudem gibt es Bestimmungen zum
EinstiegininnerafghanischeFriedensver-

handlungen. In einer Mitteilung derTali-
ban hieß es amFreitag, dieUnterzeich-
nung desAbkommens sei für den 29.Fe-
bruargeplant –also unmittelbar nach
dem Ablauf der siebentägigen erstenPha-
se. BeideSeiten würden nun eine „günsti-
ge Sicherheitssituation“ für die Unter-
zeichnung desAbkommens schaffen, die
ineinerZeremonieimBeisein vonVertre-
tern„zahlreicherLänderund Organisatio-
nen“ stattfinden solle.
ZurErinnerung: Anfang September
hatten die Amerikaner und dieTaliban
schon einmalkurz vorder Unterzeich-
nung eines solchenAbkommensgestan-
den, bis DonaldTrumpdie Sache in letz-
terMinuteabblies. Das Bestreben, einen
Schlussstric hunter einenvonAmerikas
„endlosen Kriegen“ zu ziehen–zumal in
einemWahljahr –, blieb beim amerikani-
schen Präsidenten jedochbestehen. Und
auchdie Taliban habenstets weiter Inter-
esse an einem Deal bekundet, durch den
sie absehbar einegewichtigeRolle bei der
BestimmungvonAfghanistans Zukunft
spielenwerden –auf friedlichemWege
oder durch Gewalt.Das is tdas „Risiko“,
vondem Esper in München sprachund
das auchvon den unmittelbar Betroffe-
nen–derafghanischenRegierungundBe-
völkerung–immer wieder hervorgeho-
ben wird: dassdie Taliban auf einenAb-
zug der amerikanischen undNato-Trup-
pen warten und dannwortbrüchigwer-
den.
Ein Mittel, um diesemRisik ozubegeg-
nen, istdie „Ge waltreduzierung“. DieRe-
gierunginKabul hattelange Zeiteineein-
monatigeWaffenruhegeford ert, die ei-

nem Abkommen vorausgehen müsse,
aber daskonnteder amerikanische Son-
derbeauftragteZalmayKhalilzad bei den
Taliban offenbar nicht durchsetzen.Statt-
dessen solldie seitdemvergangenenSom-
mer erhebliche Gewalt im Land sieben
Tage lang spürbar zurückgehen. Das soll
die Friedenswilligkeit derTaliban unter
Beweis stellen –und auch, dassihre Un-
terhändler inQatar Einflussauf dasVer-
halten derFeldkommandeure haben. In
derVergangenheit,etwa bei derkurzzeiti-
genWaffenruhe im Juni 2018, haben die
Taliban sichals sehrgeschlossen und dis-
zipliniert agierende Organisation erwie-
sen; dennoch gibt es Spekulationen, dass
ein FriedensabkommenAbsetzbe wegun-
geninGang setzenkönnte, etwa zu dem
afghanischenAbleger derTerroror ganisa-
tion „IslamischerStaat“. In derTaliban-
Führungselbstgibt es darüber hinaus of-
fenbar Befürchtungen, eine anhaltende
Waffenruhekönntesichnegativ auf die
Kampfmoral auswirken.
Unklar sind bislang diegenauen Be-
stimmungenzuder„Gewaltreduzierung“.
Verschiedenen Äußerungen amerikani-
scher Offizieller undvonTaliban-Vertre-
tern zufolg esehen dieTaliban in dieser
Zeit vonAngriff en aufgrößereBevölke-
rungszentren ab, also auf dieStädte, so-
wie aufRegierungsinstitutionen undgro-
ße Verbindungsstraßen; zudemverzich-
tensie auf den EinsatzvonHaftminen an
Straßen, auf Selbstmordattentate, aufRa-
ketenangriff e. Dies soll für amerikani-
sche wie für afghanischeTruppengelten.
Hingegen haben dieTaliban –wie auch
die anderen Kriegsparteien, also die af-

ghanischen Sicherheitskräfte und die aus-
ländischenTruppen–das Recht, sic hge-
waltsamVersuchen zu widersetzen, die
militärischen Kräfteverhältnisse in entle-
genen Gebietenindieser Zeit zu verän-
dern. ObLuftangriff esowie nächtliche
Operationen der internationalenKoaliti-
on in der Phase der „Gewaltreduzierung“
ausgesetztwerden, warbislang nicht klar.
Eine wichtigeFrage ist, wie der ange-
strebteRückgang der Gewalt gemessen
werden kann. ThomasRuttig vonder
Denkfabrik AfghanistanAnalysts Net-
work weistdarauf hin, dassder Ein wand
vonKritikern,imWinterruhe dasKampf-
geschehen ohnehin, nurteilweise berech-
tigt sei; in denStädten sowieso, aber auch
in einigen Provinzenkomme es mittler-
weile ganzjährig zu Gewalt.Dennochsei
die schneereiche Zeit dieruhigste im
Jahr.Auf der BasisvonVergleichsdaten
für den MonatFebruar kommt Ruttig zu
dem Ergebnis, dassman voneiner signifi-
kanten Reduzierung der Gewalt sprechen
könnte, wenn es in denkommenden sie-
ben Tagenlandesweit weniger als 40 An-
griffe proTag gäbe.
Weitgehend offenist,was nachder
möglichenUnterzeichnung einesAbkom-
mens am 29.Februar geschehen wird. In-
nerhalbvonzehn Tagensollen inneraf-
ghanischeFriedensgespräche beginnen.
In der afghanischenRegierung hat aber
gerade ein neuer Machtkampf zwischen
PräsidentAbdulGhani undRegierungsge-
schäftsführer AbdullahAbdullahbegon-
nen. Ob dieRegierung in der Lageist,
rascheine Delegation zusammenzustel-
len, is tungewiss–ebenso, ob dieTaliban
diese ohneweiteres anerkennen würden.

Innenminister


im Feuer


Friede den Städten, Krieg den Dörfern?


Worauf sic hAmerikaner undTalibangeeinigt haben /VonChristianMeier


Das Bundesverfassungsgericht muss


über Sterbehilfeentscheiden


VonMarlene Grunert

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