Die Welt - 20.02.2020

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8 POLITIK DIE WELT DONNERSTAG,20.FEBRUAR


J


uan Branco trägt einen
schwarzen Dreiteiler, in dem
er wie ein Konfirmand wirkt,
hält den Kopf schief und sieht
seine Gäste schräg von der
Seite an, weil er einen steifen Hals hat,
„eine falsche Bewegung“ sei schuld, lau-
tet seine lapidare Erklärung.
Der junge Franzose war lange Zeit
Anwalt von Julian Assange, kurze Zeit
Anwalt des russischen Aktionskünstlers
Pjotr Pawlenski, 30 Jahre jung, hochbe-
gabt, multidiplomiert, Bürgerssohn im
Revoluzzermodus, Ikone der Gelbwes-
ten-Bewegung und Bestsellerautor des
Anti-Macron-Pamphlets „Niedergang“.
„Politik ist eine Sache der Verkörpe-
rung“, schreibt er in seinem jüngsten
Buch. Man muss diesen Satz in Erinne-
rung behalten, wenn man versucht, die
Sitcom zu entschlüsseln, die sich seit
dem Valentinstag vor den Augen der
Franzosen abspielt, als Benjamin Gri-
veaux, Kandidat für das Bürgermeister-
amt von Paris, ein treuer „Leutnant“
des Präsidenten Emmanuel Macron,
über ein Sextape stolperte und seine
Kandidatur niedergelegte.

VON MARTINA MEISTER
AUS PARIS

Griveaux hat niemanden vergewal-
tigt, er hat onaniert und sich dabei ge-
filmt. Das Video hat er 2018 an eine hüb-
sche Studentin verschickt, an die da-
mals 27-jährige Alexandra de Taddeo,
die während ihres ersten Verhörs ausge-
sagt hat, die Beziehung mit Griveaux sei
zu diesem Zeitpunkt „rein virtuell“ ge-
wesen. Verschickt hat es Kandidat Gri-
veaux in einem Modus, in dem es sich
eigentlich nach dem ersten Ansehen
selbst hätte auflösen müssen. Hat es
aber nicht. De Taddeo hat es gespei-
chert. Das Video hat sich nicht selbst
zerstört, dafür aber die Karriere des
Benjamin Griveaux. Wichtiger noch: Es
hat ins Wanken gebracht, was man in
Frankreich la macronienennt, ein politi-
sches Planetensystem, in dessen Mittel-

punkt Emmanuel Macron steht, höchs-
te Macht und kurze Zeit eine Art Sonne
am düsteren Horizont Frankreichs.
Das Video hat der russische Aktions-
künstler Pjotr Pawlenski, inzwischen
Lebensgefährte von de Taddeo, wenige
Tag vor Valentinstag auf eine Webseite
mit dem Namen Pornopolitique ge-
stellt. Begleitet wurde es von einem
kurzen Text in perfektem Französisch,
das Pawlenski, der seit 2017 in Frank-
reich Asyl genießt, in Wahrheit nur sehr
gebrochen spricht. Erklärt wird darin,
warum das wirklich nicht zusammenge-

he: Dick-Pics verschicken, wie die Ame-
rikaner kompromittierende Fotos
männlicher Genitalien nennen, und
gleichzeitig als Kandidat für das Rat-
haus in Hochglanzmagazinen mit der
eigenen Frau posieren und „Familien-
propaganda“ machen. Es sei gefährlich,
einen „Heuchler ins Rathaus“ zu wäh-
len, warnt Pawlenski.
Griveaux hatte, das stimmt, mehr-
fach in „Paris Match“ posiert und die
Familie gepriesen. Doch zum Zeitpunkt
der Veröffentlichung des Videos hatte
Griveaux bereits keine Chance mehr,
Bürgermeister zu werden. Er rangierte
auf Platz drei der Umfragen und fiel,
weil selbst die Pariser ihn für arrogant
halten, Woche für Woche weiter ab.
Ein Masturbationsvideo also, bislang
nicht mehr als das. „Et alors?“, na und,
sagen die Franzosen gern in solchen La-
gen. Tatsächlich ist die strafbare Veröf-
fentlichung des Videos von Frankreichs
Politikern einhellig verurteilt worden,
mit einer einzigen Ausnahme, der Mari-
ne Le Pens. Viele haben sich gefragt,
warum der Kandidat angesichts der La-
ge das Handtuch geworfen hat. Gri-
veaux hatte höchstwahrscheinlich wei-
tere Enthüllungen zu befürchten.
Fest steht nur: Zum ersten Mal ist ein
französischer Politiker über sein Sexu-
alleben gestolpert, ohne das Gewalt im
Spiel war wie bei Präsidentschaftskan-
didat Dominique Strauss-Kahn, dessen
Jünger Griveaux einst war. Ein Novum.
Von der galoppierenden Amerikanisie-
rung der Sitten war die Rede. Wieso
mischt sich ein Russe in die Rathaus-
wahlen von Paris ein? Steckt Putin da-
hinter? Die Geschichte bot Stoff für die
wildesten Verschwörungstheorien.
Pawlenski, nicht bekannt für eine
prüde Auffassung der Sexualität, hat bei
dieser Aktion nur ein einziges Ziel: der
Macronie einen heftigen Stoß zu verset-
zen, die Macht ins Wanken zu bringen.
„Ich dachte, Frankreich sei das Land der
freien Meinungsäußerung, aber das war
ein Irrtum“, sagt Pawlenski in die Ka-
meras, als er nach 48 Stunden Polizeige-

wahrsam entlassen wird. Anwalt Branco
ist irgendwie mit verwickelt in das Gan-
ze und zog es vor, sein Mandat nieder-
zulegen. Er sprach von einem „politi-
schen Prozess“.
Pawlenski hat jetzt zwei Strafanzei-
gen am Hals, eine wegen Verletzung der
Privatsphäre, eine weitere für Körper-
verletzung: Auf der von Branco veran-
stalteten Silvesterparty in der weiträu-
migen Wohnung der Eltern einer Freun-
din über dem berühmten „Café de Flo-
re“ am Boulevard Saint-Germain, im
Zentrum jener Macht also, die Branco in

seinen Büchern anklagt, soll Pawlenski
mit einem Mann in Streit geraten und
handgreiflich geworden sein. Um ihn zu
bremsen, habe man eine Flasche Cham-
pagner auf seinem Kopf zerschlagen.
Darauf habe der Russe zum Messer ge-
griffen, das er erst einem Gast in den
Oberschenkel gehauen haben soll, dann
soll er nach Aussagen von Zeugen einen
zweiten im Gesicht verletzt haben. Als
die Polizei eintraf, waren de Taddeo und
Pawlenski verschwunden.
Noch haben die Franzosen Mühe,
dieses seltsame Trio zu verstehen, das

die sogenannte Macronie in derartigen
Schwierigkeiten gebracht hat. Da wä-
ren: ein Aktionskünstler, der sich
rühmt, genauso viel Zeit im Irrenhaus
wie im Gefängnis verbracht zu haben,
der sich wahlweise den Mund zunäht
oder den Hodensack auf dem Roten
Platz annagelt; dazu ein junges Mäd-
chen aus gutem Haus, das perfekt Rus-
sisch spricht, eine Masterarbeit über die
Außenpolitik Putins geschrieben hat
und sich frühzeitig für die Kandidaten
der Kommunalwahl in Paris interessiert
hat und „über beide Ohren verliebt ist“,

wie ihr Bruder bestätigt, in besagten
Künstler Pawlenski.
Als Letzter der Riege tritt Branco auf
den Plan, der junge, promovierte An-
walt, geboren in Spanien, Sohn eines
berühmten Kinoproduzenten und einer
Psychoanalytikerin, der mit „Nieder-
gang“ ein Pamphlet gegen die demo-
kratiefeindliche, französische „Oligar-
chie“ Macrons geschrieben hat und
sich nicht scheut, Parallelen mit Russ-
land zu ziehen. Hunderttausende Male
ist es von seiner Webseite geladen wol-
len. Als er endlich einen Verleger dafür

fffand, hat sich das Buch 150.000 Maland, hat sich das Buch 150.000 Mal
verkauft.
Juan Branco, das zeigt sein Buch,
hegt eine tiefe Verachtung für Macron
und sein System. Aber welche Rolle
spielt er in dem ganzen Szenario, das et-
was von einem russischen Kompromat
hat, wie die KGB-Agenten ihr kompro-
mittierendes Material nannten? „Es
sind die Journalisten, die mir eine Rolle
zuschreiben“, sagt Branco zur Eröff-
nung des Gesprächs.
Seine Kanzlei liegt in einer Altbau-
wohnung unweit von Saint-Germain-
des-Prés. Vor Branco liegt eine Schreib-
mappe mit der Aufschrift „Yale Univer-
sity“, auch die hat er besucht. Aber die
besten Jobs hat er nach kurzer Zeit nie-
dergelegt und zwei Jahre von Sozialhilfe
gelebt, um seine Mandanten unentgelt-
lich vertreten zu können. Sein Schreib-
tisch ist makellos leer, kein Zettel liegt
rum, nur ein paar Datenschlüssel. Ein
dicker, getigerter Kater läuft hin und
wieder durchs Bild und versucht, anders
als der Hausherr, sich bei den Journalis-
ten anzubiedern. Auf einer Anrichte
steht eine orangefarbene Schreibma-
schine, Silver Reed 100, dahinter Bran-
cos Bücher: sein jüngstes über Julian
Assange, den „Antiherrscher“, „Gegen
Macron“ und natürlich der Superbest-
seller „Niedergang“.
Er kenne „Pjotr und Alexandra“ erst
seit Anfang Dezember, erzählt Branco.
Man habe sich gegenseitig auf Vorträge
eingeladen, sympathisiert. Erst wenige
Tage vor der Veröffentlichung habe er
das Video gesehen und Pawlenski darü-
ber aufgeklärt, was ihm bei Veröffentli-
chung als Strafe drohe. „Aber was wol-
len Sie machen?“, fragt Branco fast naiv:
„Pjotr ist wie Assange: Er lässt sich von
niemandem abbringen.“
Der Sturz von Griveaux muss ihm
doch irgendwie gefallen haben? Branco
schweigt. „Für mich ist Griveaux eins
der schlimmsten Symbole der Deka-
denz der Republik“, sagt er dann. Schon
in seinem Bestseller hatte er dem Ma-
cron-Getreuen viele Seiten gewidmet.
Er steht seiner Meinung nach für die
Elite, die sich wie ein Wetterfähnchen
mit der Macht dreht.
Mit offensichtlichem Genuss erin-
nert er sich daran, wie er im Dezember
2018, auf dem Höhepunkt der Gelbwes-
ten-Demos gegen Frankreichs Regie-
rung, einige Demonstranten zufällig be-
gleitet hat, die „wie Touristen“ durch
Paris irrten und schließlich mit einem
Gabelstapler die Tür eines Ministeri-
ums eingerammt haben. „Sie waren aus-
gelassen. Und ich als Intellektueller
kann nur sagen: Das war ein schöner
Moment“, sagt Branco im Nachhinein.
Es war das Ministerium von Regie-
rungssprecher Griveaux.
„Juan Branco ist gefährlich, weil er
sehr talentiert ist“, sagte Ex-Kulturmi-
nisterin Aurélie Filippetti einst über ih-
ren früheren Zögling, als sie ihm, dem
22-Jährigen, verweigerte, Kabinettschef
in ihrem Ministerium zu werden. An-
fangs merke man es nicht, dann wende
er sein Talent gegen einen. Man ahnt,
was sie damit gemeint haben könnte.
So endet, vorläufig, die Geschichte
der hübschen Intrigantin, des sympathi-
schen Anwalts, der sich nicht als „links-
extrem“ tituliert wissen will, und des
Exilrussen, der Kunst mit dem eigenen
Körper und Politik mit dem anderer
macht. Der Zuschauer hat während der
ersten Folge dieser Sitcom gelernt:
Wenn Politik Verkörperung ist, dann
reicht es tatsächlich, einen einzigen
Menschen zu Fall zu bringen, damit das
System ins Wanken gerät. Fortsetzung
folgt. Ganz bestimmt.

Anwalt, Bürgersohn,
leidenschaftlicher
Macron-Hasser: Juan
Branco begreift den
Präsidenten als
UUUrsache für denrsache für den
NNNiedergang seinesiedergang seines
Landes

AFP

/LIONEL BONAVENTURE

Benjamin Griveaux wollte Bürgermeister von


Paris werden. Doch dann stolperte er über ein


Masturbationsvideo und zog seine Kandidatur


zurück. Hinter der Veröffentlichung steckt ein


Trio, das Frankreichs Präsidenten stürzen will


I


n den vergangenen Tagen ist wieder
Schnee gefallen. Nachts gefriert er
auf den Dächern der Zelte, die den
Flüchtlingen kaum Schutz vor den Tem-
peraturen bieten. Der feuchtkalte Win-
ter ist derzeit die schlimmste Belastung
für die Bewohner der überfüllten Lager
in der Provinz Idlib im Nordwesten Sy-
riens.

VON ALFRED HACKENSBERGER

9 00.000 Menschen sind unterwegs,
die meisten von ihnen Frauen und Kin-
der. In den vergangenen Tagen sind
sieben Kinder im Alter zwischen sieben
Monaten und 14 Jahren gestorben, wie
die Hilfsorganisation Save the Chil-
dren berichtete. Die Verzweifelten
schlafen in Rohbauten, Ruinen oder
einfach im freien Feld. Das Amt der UN
fffür humanitäre Angelegenheitenür humanitäre Angelegenheiten
sprach vom „größten menschlichen
Horror des 21. Jahrhunderts“. Die Be-
wohner Idlibs fliehen vor dem Assad-

Regime, das weiter auf die letzte Basti-
on der syrischen Rebellen vorrückt.
Bisher suchten die meisten der Flücht-
linge Schutz in Grenznähe zur Türkei,
wo sie vor Angriffen der syrischen Ar-
mee und den Bomben ihres russischen
Verbündeten sicher waren. Aber damit
ist es nun vorbei. Erst am Wochenende
traf eine Rakete ein Flüchtlingscamp
bei der Stadt Sarmada, wie ein Augen-
zeuge WELT berichtete. Die Vertriebe-
nen fürchten, in eine Falle gelaufen zu
sein. Die Türkei will keine neuen syri-
schen Flüchtlinge mehr aufnehmen,
Assads Truppen rücken vor. Der türki-
sche Präsident Recep Tayyip Erdogan
hat eine 828 Kilometer lange, drei Me-
ter hohe Mauer entlang der syrischen
Grenze gebaut und mit Stacheldraht
befestigt. Rettung ist hier nicht mehr
zu erwarten.
„Die Flüchtlinge ziehen jetzt nach
Afrin weiter“, sagte ein Aktivist aus Id-
lib im Telefongespräch mit WELT. Aber
sie müssen befürchten, dass auch dieser

Fluchtweg in die von der Türkei 2018
besetzte Kurdenregion bald dicht sein
könnte. „Die jüngsten Bombardements
durch die Russen und Vorstöße der syri-
schen Armee auf der Höhe von Aleppo
deuten darauf hin“, sagt der junge
Mann, der anonym bleiben will. Entwi-
ckelt sich auch Afrin zur Sackgasse, wä-
ren die Flüchtlinge endgültig der Will-
kür des syrischen Militärs und der Si-
cherheitsbehörden ausgeliefert. Das As-
sad-Regime hat im Verlauf des anhal-
tenden Bürgerkriegs gezeigt, dass Geg-
ner der Regierung nicht mit Milde rech-
nen dürfen.
Seit 2016 ließ Assad viele Zehntau-
sende Rebellen und deren Angehöri-
gen nach Idlib deportieren. Kämpfer,
die in Aleppo, Damaskus, Homs und
zuletzt in Daraa eingekesselt waren,
bekamen freies Geleit im Gegenzug
fffür die Aufgabe ihrer schweren Waf-ür die Aufgabe ihrer schweren Waf-
fffen. Idlib wurde so zur letzten Hoch-en. Idlib wurde so zur letzten Hoch-
burg der syrischen Revolution und
Tummelplatz radikaler Islamisten-

gruppen. Nicht umsonst fand Abu Bakr
al-Baghdadi, der selbsternannte Kalif
des Islamischen Staats (IS), Unter-
schlupf in Idlib, wo ihn ein US-Spezial-
kommando im vergangenen Jahr ent-
deckte und tötete.
Das Kommando in Idlib übernahm
fortan die Gruppe Hajat Tahrir al-
Scham (HTS) unter der Führung von
Mohammed Dschulani. Der Emir war
einst als Gesandter Baghdadis nach Sy-
rien gekommen, um dort den IS aufzu-
bauen. Aber er spaltete sich mit seiner
Nusra-Front ab und schloss sich dem
Terrornetzwerk al-Qaida an, um sich
Jahre später wieder von diesem loszusa-
gen. Nach Angaben des renommierten
Soufan Centers aus New York soll HTS
über bis zu 15.000 Kämpfer verfügen.
Die Al-Qaida-Nachfolge hat in Idlib die
Gruppe Hurras al-Din übernommen. Sie
soll 3500 bis 5000 Militante unter Waf-
fen haben, darunter auch viele Auslän-
der, die bereit sind, Anschläge im Wes-
ten auszuführen.

Auch die Terrormiliz selbst ist in Id-
lib wieder aktiv. Laut UN-Sicherheitsrat
hat der IS ein breites Netzwerk aufge-
baut und neue Einnahmequellen er-
schlossen. Der verbleibende Teil vom
Kämpfern steht unter dem Oberbefehl
der Türkei, die sie finanziert und ausbil-
det. Ankara setzte diese Einheiten bei
seinen Interventionen in Syrien als Bo-
dentruppen ein.
Unterdessen bekräftige Syriens Prä-
sident Baschar al-Assad am Montag vor
dem Parlament seine Absicht, „jeden
Zentimeter Syriens“ zu befreien. Auch
der Angriff auf Idlib würde „bedin-
gungslos“ fortgesetzt, bis „der totale
Sieg“ errungen sei. Davon ließe man
sich nicht von diesem „Land im Nor-
den“ abhalten, wie der syrische Herr-
scher die Türkei abfällig nannte.
Ankara hatte ursprünglich zwölf Be-
obachtungsposten in Idlib eingerichtet,
die die syrische Armee von einem An-
griff abhalten sollte. Inzwischen sind
acht dieser türkischen Militärbasen ein-

gekesselt. Dafür hat Ankara in den ver-
gangenen zwei Wochen seine Militär-
präsenz verstärkt, und das mit mindes-
tens 600 Militärfahrzeugen, darunter
auch zahlreiche Panzer. Immer wieder
kommt es zu direkten Konfrontationen
zwischen Assads und Erdogans Trup-
pen. Der jüngste Zwischenfall liegt nur
eine Woche zurück, seither verhandelt
Ankara mit Moskau, um den mächtigen
Verbündeten Assads zum Stopp der Of-
fensive zu bewegen. Aber die Gespräche
brachten bisher kein Ergebnis, wie der
türkische Präsident am Mittwoch be-
tonte. „Eine Operation steht unmittel-
bar bevor“, drohte Erdogan vor dem
türkischen Parlament. „Wir werden Id-
lib nicht dem syrischen Regime überlas-
sen.“ Eine weitere Eskalation der
Kämpfe in Idlib wäre besonders für die
Zivilbevölkerung eine Katastrophe.
Noch mehr Menschen müssten fliehen
und würden die bereits prekäre Lage in
den Flüchtlingslagern im Grenzgebiet
zur Türkei noch weiter verschärfen.

Mit dem Rücken zur Wand


Im Norden Syriens verfolgen 900.000 Regimegegner, wie Assads Truppen näher rücken. Auswege gibt es keine mehr, nur die Verzweiflung und der Hunger wachsen


Macrons


FALLENSTELLER


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