Die Zeit - 27.02.2020

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  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10 WIRTSCHAFT 27


DIE ZEIT: Herr Biebricher, steht das Comeback
von Friedrich Merz für eine Sehnsucht nach
mehr Neoliberalismus? In welchen Milieus ver-
fängt so was?
Thomas Biebricher: Jedenfalls steht er eher für ein
neoliberales als für ein konservatives Profil. In der
CDU gibt es sicherlich viele, die sich nach einem
»klaren marktwirtschaftlichen Kurs« sehnen; gera-
de unter den Ordnungspolitikern in und außerhalb
der Mittelstands- und Wirtschaftsunion. Aber ob
man mit den alten Merz-Rezepten Steuersenkun-
gen, Bürokratieabbau und mehr private Vorsorge
heute Wahlen gewinnen oder auch nur die Union
einen kann, erscheint mir eher zweifelhaft.
ZEIT: Obwohl der Neoliberalismus angeblich seit
Langem regiert, will sich niemand zu ihm beken-
nen – wie kommt das?
Biebricher: Neoliberalismus – damit will sich
wirklich kaum noch jemand erwischen lassen. Der
Begriff hat eine geradezu toxische Qualität ange-
nommen und wird eigentlich nur noch zur Stigma-
tisierung des politischen Gegners genutzt. Gleich-
zeitig ist unklar, was genau unter »neoliberal« ei-
gentlich zu verstehen ist. Trotzdem glaube ich, dass
der Begriff hilfreich sein kann, weil man damit
über eine bestimmte Entwicklung des Kapitalismus
reden kann.
ZEIT: Was also ist Neoliberalismus?
Biebricher: Die verschiedenen Spielarten eint vor
allem eines: Es geht um die Frage, was die besten
Bedingungen für funktionierende Märkte sind. Wie
kann man es schaffen, dass auf Märkten der Preis-
mechanismus möglichst uneingeschränkt regiert?
Auf diese Frage geben Neoliberale sehr verschiedene
Antworten, und man tut ihnen unrecht, wenn man
sie nur als Marktfundamentalismus abtut. Das ist
eher die Haltung des Laissez-faire-Liberalismus.
Der geriet im 19. und 20. Jahrhundert mit Börsen-
crashs, der aufkommenden Arbeiterbewegung, Na-
tionalismus und Krieg in die Krise. Der Neolibera-
lismus, der in den 1930er-Jahren entstand, war eine
Reaktion darauf.
ZEIT: Was sind die Gegenpositionen?
Biebricher: Zum einen ist das der Kollektivismus,
also die Planwirtschaft in allen Formen, sei es im
Kommunismus, sei es im Faschismus. Später wer-
den andere Gegnerschaften wichtig: die zum
Keynesianismus, also der Wirtschaftslenkung
durch staatliche Investitionen, dann auch die zum
starken Sozialstaat. Fälschlicherweise verbinden
viele mit Neoliberalismus auch die Vorstellung
vom Nachtwächterstaat, der die öffentliche Sicher-
heit gewährleistet, das Eigentum schützt und sich


ansonsten aus fast allen Lebensbereichen zurück-
zieht. Doch selbst Hardcore-Neoliberale wie
Friedrich August Hayek haben eine klare Vorstel-
lung davon, was der Staat notwendigerweise darü-
ber hinaus zu leisten hat, um das Funktionieren
der Märkte zu sichern
ZEIT: Gab oder gibt es denn irgendwo den real
existierenden Neoliberalismus?


Neoliberalismus


  • »damit will sich wirklich kaum noch jemand erwischen lassen«, sagt
    der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. Ein Gespräch darüber,
    wie aus einer politischen Idee ein Schmähwort wurde


Kopfpauschale in der Krankenversicherung ein, die
Beiträge nicht länger nach der Höhe des Einkom-
mens staffeln soll. Und für die radikale Steuerreform
von Friedrich Merz und dem Verfassungsrechtler
Paul Kirchhof, der später im Wahlkampf von
Schröder als »Heidelberger Professor« verspottet
wird. Von diesem Programm ist bei der CDU mit
Regierungsantritt 2005 praktisch nichts mehr üb-
rig, während die Agenda für die SPD bekanntlich
desaströse Folgen hatte.
ZEIT: Die CDU bezahlte nicht dafür?
Biebricher: Das Leipziger Programm erzeugte eine
ungeheure Spannung zwischen dem neoliberalen
und dem klassischen christdemokratischen Flügel,
der nicht fassen konnte, was da beschlossen worden
war. Das war der schärfste Richtungswechsel, den die
Partei seit 1949 vollzogen hat, als man mit dem kla-
ren Bekenntnis zur Marktwirtschaft die kapitalis-
muskritischen Elemente des Ahlener Programms
entsorgte. Horst Seehofer trat 2004 wegen der Kopf-
pauschale als stellvertretender Fraktionschef zurück.
Aber enttäuscht waren kurz darauf eben auch jene
um die Mittelstandsunion und Friedrich Merz, die
so große Hoffnungen in das Leipziger Programm
gesetzt hatten. Sie mussten feststellen, dass im Grun-
de nichts von dem Reformeifer übrig blieb.
ZEIT: Ist das die Zeit, in der »neoliberal« zum po-
litischen Schmähwort wird?
Biebricher: Was den politischen Diskurs in
Deutschland betrifft ja; in der akademischen De-

batte ist der Begriff schon seit den frühen Neunzi-
gerjahren eindeutig negativ konnotiert und wird
eigentlich nur von Kritikern verwendet.
ZEIT: Welche Bedeutung hatte die Finanzkrise für
den deutschen Neoliberalismus?
Biebricher: Es herrschte großes Entsetzen, womit
man es eigentlich beim Finanzkapitalismus zu tun
hat. Für klassische Ordnungspolitiker ist der Gedan-
ke einfach grauenhaft, nun mit einem staatlichen
Eingriff in den Markt all diese Banken vor der Pleite
retten zu müssen. Wer die Vorstellung hatte, dass
Kapitalismus etwas mit Moral, mit dem ehrlichen
Kaufmann zu tun hatte, der sah sich eines Besseren
belehrt. Die Idee vom Leistungswettbewerb, dass
man etwas Tolles produziert haben muss, um große
Profite zu erzielen – all das wurde untergraben durch
diese obskuren Finanzprodukte, die womöglich gar
keinen Wert darstellen. Das ist für die Union immer
sehr wichtig gewesen. In der damaligen schwarz-gel-
ben Regierung wurde diese sarkastische Stimmung,
in die man nach der Finanzkrise und der anschlie-
ßenden Euro-Krise geraten war, nicht besser. Man
nennt sich »Gurkentruppe« und macht taktische
Fehler. Dazu gehört etwa die »Mövenpick-Steuer«,
die Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für Hotel-
übernachtungen, die als Klientelpolitik der Liberalen
gelesen wird. Die Regierung findet keine Gestal-
tungskraft mehr. Dafür ist auch einfach nicht mehr
viel Raum angesichts dessen, was in Europa zu die-
sem Zeitpunkt los ist. Das fällt vor allem der FDP

auf die Füße, die das neoliberale Programm offensiv
vertritt – es aber auf Steuersenkungen verengt und
gleichzeitig den Rettungsschirmen zustimmt.
ZEIT: Worin war der Neoliberalismus erfolgreich?
Biebricher: Man kann es vielleicht so formulieren:
Die Intensivierung des Wettbewerbs hat den Kon-
sumenten stellenweise – wenn auch keineswegs flä-
chendeckend – Vorteile gebracht. In Deutschland
gilt das etwa für die Privatisierung des Telekom-
munikationssektors. Aber diese Vorteile in Form
von einer größeren Produktpalette und günstigeren
Angeboten werden mit härteren und oftmals
schlecht vergüteten Arbeitsverhältnissen, größerer
sozialer Ungleichheit und nicht zuletzt Beschrän-
kungen der demokratischen Selbstbestimmung er-
kauft. Der Deal des Neoliberalismus lautet verein-
facht gesagt: Sie bekommen die Annehmlichkeiten
des Konsums im Tausch für soziale Gleichheit, gute
Jobs und eine Demokratie, die auch in wirtschaftli-
chen Fragen mehr ist als Fassade. Meinem Eindruck
nach gibt es immer weniger Menschen, die bereit
sind, sich auf dieses Tauschgeschäft einzulassen.

Das Gespräch führte Mariam Lau

Biebricher: Regierungen sind ja kaum jemals
»sozialdemokratisch« oder »neoliberal« aus ei-
nem Guss, niemand kann nach der reinen Lehre
agieren. Aber angefangen hat es ganz sicher mit
Chile in den Siebzigerjahren, mit der Herrschaft
Augusto Pinochets unter autoritären, militär-
diktatorischen Vorzeichen. Eine Schocktherapie
mit Ausschaltung der Gewerkschaften und der
politischen Opposition, Privatisierungen in gro-
ßem Stil, Aufhebung aller Preiskontrollen. Im
Norden folgten die US-amerikanischen und
britischen Regierungen unter Reagan und That-
cher, bis es dann in den Neunzigerjahren unter
Gerhard Schröder, Bill Clinton und Tony Blair
auch Neoliberalismus von links gab. Wobei man
bei all diesen Regierungen Maßnahmen findet,
die nicht ins Bild passen.
ZEIT: Es ist bezeichnend, dass Ihnen als Erstes
eine Militärdiktatur einfällt. Hat der Neolibe-
ralismus ein Problem mit der Demokratie?
Biebricher: Der Neoliberalismus hat jedenfalls
kein großes Zutrauen in die Bevölkerung, in
Fragen der Wirtschaftspolitik kluge, informier-
te Entscheidungen zu treffen. Die Erfahrung
mit den Massen in den Dreißigerjahren, als der
Neoliberalismus entstand, war ja auch keine
ermutigende. Neoliberale versuchen, so viel wie
möglich unverrückbar festzuschreiben, sodass
die Leute wählen können, wen sie wollen, ohne
die Wirtschaftspolitik wirklich zu verändern.
Die Schuldenbremse ist so ein Beispiel, bei
dem versucht wird, Staatsverschuldung einfach
per Verfassung auszuschließen.
ZEIT: Solche Beschränkungen lassen sich doch
autoritäre Regierungen nicht auferlegen.
Biebricher: Das Seltsame etwa bei Hayek ist
der Glaube, dass autoritäre Regime in den ent-
scheidenden Fragen – also den wirtschaftspoli-
tischen – liberal bleiben. In einem Interview
bezeichnete Hayek einmal die Regierung des
gestürzten chilenischen Präsidenten Salvador
Allende als totalitäre Demokratie. Grundsätz-
lich liefen aus Hayeks Perspektive alle Demo-
kratien der damaligen Zeit Gefahr, in den Tota-
litarismus abzurutschen. Natürlich insbesonde-
re dann, wenn eine ausdrücklich sozialistische
Politik wie unter Allende verfolgt wird und es
sich auch noch um ein »Entwicklungsland«
handelt. Denen werden im neoliberalen Dis-
kurs bisweilen die politisch-kulturellen Voraus-
setzungen für eine funktionierende Demokra-
tie abgesprochen. Warum aber nun eine Dikta-
tur wie die Pinochets davor gefeit sein soll, sich
zu einem totalitären Regime auszuwachsen,
bleibt Hayeks Geheimnis.
ZEIT: In Deutschland hat der Neoliberalismus
später einen Siegeszug quer durch das politische
Spektrum angetreten. Wie kam es dazu?
Biebricher: In den Achtziger- und vor allem
Neunzigerjahren hatte der Neoliberalismus eine
Art weltweite Hegemonie erreicht. Die briti-
schen Sozialdemokraten des New Labour um
Tony Blair lernten von den amerikanischen New
Democrats des Bill Clinton. Von Blair wiede-
rum lernte Gerhard Schröder. 1999 schreiben
die beiden ein gemeinsames Papier, das schon
eine Art Blaupause für das enthält, was bald
folgt: Neoliberalismus ist Teil des Zeitgeistes,
weil er sich mit gesellschaftspolitisch progressi-
ven Vorstellungen verbindet. Homoehe, neues
Staatsbürgerschaftsrecht, Hilfe zur Selbsthilfe,
Freiheit und persönliche Autonomie als zentrale
Begriffe der Selbstverwirklichung – das machte
den Neoliberalismus auch außerhalb von Wirt-
schaftskreisen attraktiv. Dann passiert etwas In-
teressantes: In den beiden großen Parteien, und
natürlich auch bei den Grünen, geht der politi-
sche Zug in die gleiche Richtung, in der SPD
sogar noch schneller als in der CDU. Aus der
Konfrontation mit wirtschaftlichen Problemen
Anfang des Jahrhunderts, allen voran der hohen
Arbeitslosigkeit, ziehen sie ähnliche Schlüsse.
ZEIT: In der SPD entsteht die Agenda 2010,
die auf eine Liberalisierung des Sozialstaats zielt.
Biebricher: Und die CDU beschließt das be-
rüchtigte Leipziger Programm, eine Art Agen-
da on steroids, also noch neoliberaler als die
SPD-Variante. Die CDU tritt nun für eine

Thomas Biebricher, 45, forscht an
der Universität Frankfurt. Im Herbst
erscheint »Die politische Theorie des
Neoliberalismus« (Suhrkamp)

Composing: DZ (Foto: Getty Images); kleines Foto: privat

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