Die Zeit - 27.02.2020

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DIE ZEIT: Herr Arnold, Sie kennen die Realität
der Sterbehilfe in Deutschland besser als jeder an-
dere Arzt, denn Sie haben diese Hilfe über zwanzig
Jahre hinweg geleistet. Nicht in einem Verein,
nicht gegen hohes Honorar, ganz einfach als nie-
dergelassener Arzt. Gibt es einen Fall, den Sie im
Nachhinein bereuen?
Uwe-Christian Arnold: Ja. Der Fall liegt lange zu-
rück, aber er hat mir heftige Gewissensbisse berei-
tet. Ein krebskranker Mann war als »austherapiert«
aus dem Krankenhaus entlassen worden, doch zu
Hause wimmerte und schrie er vor Schmerzen.
Seine Ehefrau schilderte mir das am Telefon so
verzweifelt, dass ich sofort einen Besuch machte.
Der von Metastasen entstellte Mann empfing
mich mit der flehentlichen Bitte, er wolle ganz
schnell sterben. Ich erklärte, als deutscher Arzt
dürfe ich nur palliativ helfen, spritzte ihm also
Morphium und Valium, was auch gleich Linde-
rung brachte. Doch wenige Stunden später rief die
Ehefrau weinend wieder an: Alles sei wie zuvor.
ZEIT: Also entschlossen Sie sich, Beihilfe zum
Suizid zu leisten?
Arnold: Nein, eben nicht. Ich besorgte in Windes-
eile und mithilfe meiner privaten Kontakte zu
Berliner Chefärzten einen der damals raren Plätze
auf einer Palliativstation. Da wusste ich noch
nicht, dass ein beträchtlicher Anteil der Schmerz-
patienten – heutige Zahlen differieren zwischen
fünf und zwanzig Prozent – trotz bester palliativer
Versorgung qualvoll sterben. Bei diesem Mann zog
sich das zwei Wochen hin. Seine Frau machte mir
schwere Vorwürfe, dass ich mich dem Wunsch ih-
res Mannes, ihn durch eine Überdosis »zu erlösen«,
verweigert hatte.
ZEIT: Das wäre aktive Sterbehilfe gewesen.
Arnold: Ja, Tötung auf Verlangen, und die ist in
Deutschland strafbar. Dazu wäre ich so oder so
nicht bereit gewesen. Trotzdem empfand ich Reue:
dass ich das Ehepaar nicht über die legale Alterna-
tive aufgeklärt hatte, den assistierten Suizid. Der
Arzt überlässt dem Sterbewilligen ein tödliches
Medikament, das dieser nach ärztlicher Beratung
und zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt
selber einnimmt. Diese Option war umstritten,
rechtlich war ich zu nichts verpflichtet. Aber sie
verschweigen? Was hätte ich selbst in solcher Not-
lage von einem guten Arzt erwartet?

Es ist eine rhetorische Frage, doch Arnold stellt
sie zu einem Zeitpunkt, da sie ihn betrifft.
Ende März 2019 ist er schwer krank, der
Sterbe helfer selber Patient. Bei unserer Bitte
um ein Interview wissen wir das noch nicht.
Bereits 2015 hatte die ZEIT mit Uwe-Christian

Arnold ein erstes großes Gespräch über das
selbstbestimmte Sterben geführt. Damals galt
der Paragraf 217 StGB noch nicht, wir besuchten
den pensionierten Arzt in seiner Wohnung in
Berlin. Nun, 2019, soll das Bundesverfassungs-
gericht prüfen, ob Paragraf 217 verfassungs-
konform ist. Deshalb haben wir Arnold per
Mail um ein Interview gebeten. Seine Antwort
kommt prompt: »Ja gern. Melden Sie sich rasch.
Ich bin total verkrebst und schleppe mich so
durch, um in gut zwei Wochen in Karlsruhe zu
sprechen; ich bin nämlich persönlich geladen.
Das ist für mich eine große Herausforderung
und auch Ehre. Nun komme ich als Halbtoter.
Rollstuhl, stark abgemagert, passend!? Drücken
Sie mir die Daumen, dass ich durchhalte.«
Später sagt Arnold, man dürfe das ruhig zitieren.
Wir verabreden uns zum Telefonieren, weil ihn
das weniger anstrengt.

ZEIT: Herr Arnold, wie vielen Sterbewilligen ha-
ben Sie eigentlich beim Suizid assistiert?
Arnold: Es werden so an die 500 gewesen sein, in 25
Jahren. Das ist gar nicht viel, wenn man die sechs-
stellige Zahl der jährlichen Suizidversuche bedenkt.
Anfangs kamen wenige Patienten, dann immer
mehr, und bevor Paragraf 217 in Kraft trat, waren
es wohl achtzig pro Jahr. Ich hatte den Eindruck,
dass sie vor dem neuen Gesetz flohen. Einige sagten
mir: Herr Doktor, jetzt müssen Sie mir schnell hel-
fen, denn bald dürfen Sie das nicht mehr.
ZEIT: Und, haben Sie sich tatsächlich beeilt?
Arnold: Nein. Ich musste die Fälle prüfen, dazu oft
mehrere Besuche machen. Und immer habe ich
streng gefragt, ob die nächsten Angehörigen Be-
scheid wissen. Man kann nicht zu einem Schwerst-
kranken fahren und ihm ein paar Pillen hinwerfen.
Manche haben von der Option dann doch keinen
Gebrauch gemacht, ihnen genügte es, das Medika-
ment zu haben. Aber viele waren leider auch in
einem so dramatischen Zustand, dass ich sie nicht
mehr hinhalten konnte. Also, es war anstrengend.
ZEIT: Seit Sie sich als Sterbehelfer bekennen, ha-
ben Sie betont: Die Mehrheit der Deutschen will
im Ernstfall selbstbestimmt sterben, darunter viele
Ärzte. Dennoch hätten Ärztekammer und Gesetz-
geber dies fast unmöglich gemacht. Sie, Herr Ar-
nold, nennen den Paragrafen 217 auch »Sterbehil-
feverhinderungsgesetz«. Unethisch sei, dass tod-
kranke Patienten alleingelassen würden, während
Ärzte durch ihren Zugang zu tödlichen Medika-
menten eine Hintertür hätten. – Sind Sie aus
schlechtem Gewissen zum Sterbehelfer geworden?
Arnold: Wenn Sie es so nennen möchten, bitte.
Tatsächlich wollte ich mich Anfang der Neunzi-

gerjahre, als ich noch meine urologische Praxis hat-
te, über assistierten Suizid nur informieren – aber
als sich das herumsprach, meldeten sich Patienten.
Später kamen sogar Kollegen und baten um Hilfe:
beispielsweise der Leiter einer Privatklinik in Süd-
deutschland, der an der Nervenkrankheit ALS litt.
Jetzt können Sie gleich einwenden, dass der be-
rühmteste Betroffene von ALS, der Physiker Ste-
phen Hawking, damit jahrzehntelang überlebt hat.
Doch mein Kollege war schon eineinhalb Jahre
nach der Diagnose fast bewegungsunfähig, konnte
kaum schlucken oder sprechen. Spindeldürr saß er
in einen Spezialpflegestuhl geschnallt, litt unter Er-
stickungskrämpfen. Als ich ihn zum ersten Mal be-
suchte, schaute er mich mit klaren Augen an, aber
gab unverständliche Laute von sich, während ihm
große Mengen von Speichel aus dem Mund liefen.
Dieser Arzt drohte mit 61 Jahren bei vollem Be-
wusstsein seine Fähigkeiten zu verlieren, sich nach
außen verständlich zu machen.
ZEIT: Wie sollte er dann noch Suizid begehen?
Arnold: Er hatte sich schon vorher ein Infusions-
system ausgedacht, das er noch mühsam betätigen
konnte. Auch das Medikament hatte er frühzeitig
besorgt. Mich brauchte er nur als Berater und Si-
cherheit, die Assistenz übernahm seine Frau. Trotz
seines Zustandes starb er ruhig, im Kreis seiner Fa-
milie. Ich werde nie vergessen, wie erschütternd sein
Bittbrief an mich war, mühsam mit nur einem
Finger in den Computer getippt. Und ich vergesse
auch nicht die Erleichterung in seinen Augen, am
Ende, als er sicher war, nicht zum stummen Gefan-
genen seines gepeinigten Körpers zu werden.
ZEIT: Hatten Sie nie Furcht, dass genau die
Schwäche und Hilfsbedürftigkeit von Patienten,
die Sie beschreiben, von Sterbehilfevereinen aus-
genutzt werden könnte?
Arnold: Nein. Denn es ging beim assistierten Sui-
zid niemals darum, dass ein Arzt oder ein Angehö-
riger über den Todeszeitpunkt eines Kranken be-
findet, geschweige denn ihn tötet. Ärgerlich an
dem Ausweichen auf organisierte Sterbehilfe in
der Schweiz fand ich immer, dass man sich für das
Sterben entscheiden muss, bevor man überhaupt
in die finale Sterbephase eingetreten ist. Ich ver-
stehe die Furcht der Sterbehilfegegner vor einem
Missbrauch der Sterbehilfe, aber ich halte sie für
Theorie. Realistisch ist dagegen die Furcht vieler
Schwerstkranker, am Ende ausgeliefert zu sein –
ob nun den Schmerzen oder dem Gutdünken
Dritter. Meine Erfahrung ist: Sterbewillige fürch-
ten sich weniger davor, in absehbarer Zeit qualvoll
zu sterben, als davor, auf unbestimmte Zeit und
unerträgliche Weise weiterleben zu müssen.
ZEIT: Was heißt denn nun unerträglich?

Arnold: Das ist eben völlig verschieden. Jeder hat
ein individuelles Empfinden davon, was er noch
ertragen kann. Es gehört zur Würde eines jeden
Menschen, darüber selber zu entscheiden. Als Arzt
bin ich lediglich verpflichtet, diese Entscheidung
zu prüfen, aber ich darf sie mir nicht anmaßen.
ZEIT: Bitte ein Beispiel.
Arnold: Ich hatte eine noch relativ junge Patientin,
die mit einem fürchterlichen Unterleibskrebs jah-
relang lebte. Man hatte ihr bereits die Scheide, die
Gebärmutter, die Blase wegoperiert – trotzdem
bewahrte sie Lebensmut. Ich musste ihr jedoch
versprechen, wenn sie es nicht mehr aushielte, ein
tödliches Medikament zu besorgen. Der Punkt
war für sie erreicht, als sie ihren eigenen Kot er-
brach. Wer außer ihr selbst durfte das entscheiden?
ZEIT: Der ehemalige Intendant des MDR, Udo
Reiter, der jahrzehntelang im Rollstuhl saß, löste
eine deutschlandweite Debatte aus, als er sich er-
schoss. Viele empörten sich über den Suizid mit
dem Argument, der Mann sei gesund gewesen.
Arnold: Von da ist es nicht weit bis zu einem Ge-
setz, das selbst den offensichtlich Leidenden ihr
Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende be-
streitet. Ich sage: Es gibt ein Recht auf letzte Hilfe.
Was ältere Rollstuhlfahrer betrifft: Mit zunehmen-
dem Alter wächst die Gefahr, dass sie sich wundsit-
zen. Die offenen Wunden heilen schlecht und tun
wahnsinnig weh. Man kann das behandeln, aber
oft platzen die Wunden wieder auf. Wer das mehr-
fach durchhat, hat womöglich die Nase voll.
ZEIT: Haben Sie entschlossenen Sterbewilligen
auch mal deutlich Nein gesagt, abgesehen von
dem zuerst geschilderten Fall?
Arnold: Natürlich! Wir haben jede Entscheidung
gründlich beredet. Ich hatte mal einen über Neun-
zigjährigen mit einem Bauchspeicheldrüsen-Karzi-
nom, der war beim Militär gewesen, Pilot. Er wollte
quasi auf Befehl ein Medikament. Als ich ihm er-
klärte, dass so etwas Bedenkzeit braucht, war er
richtig sauer. Nachher half ich ihm, und wir haben
uns zuvor noch übers Fliegen unterhalten, weil das
auch meine Leidenschaft war. Ich bin ja Segelflieger.
ZEIT: Apropos Himmel. Glauben Sie an ein Le-
ben nach dem Tod?
Arnold: Nein. Der Himmel ist blau, die Menschen
sind sterblich, ich glaube an kein Jenseits. Aber mir
gefällt die christliche Trauerformel »Erde zu Erde,
Asche zu Asche, Staub zu Staub«. Und beim Segel-
fliegen, da hat man ein solches Gefühl der Freiheit,
das ist überirdisch schön. Ach, ich wäre gern noch
mal geflogen.
ZEIT: Sie haben mir anfangs lapidar gesagt, Sie
seien morgen mit Ihrem Bestatter verabredet.
Macht das Sterbenmüssen Sie gar nicht zornig?

Arnold: Nein, zornig macht mich nur, dass ich vie-
len Menschen, die mich seit dem Gesetz von 2015
um Sterbehilfe baten, nicht helfen konnte. Früher
arbeitete ich in einer Grauzone: Was ich tat, war le-
gal, trotzdem verklagte die Ärztekammer mich, aber
ich konnte mich gerichtlich wehren. Der Paragraf
217 hat meine Arbeit in eine Schwarzzone gedrängt.
ZEIT: Haben Sie trotzdem noch geholfen?
Arnold: schweigt
ZEIT: Nach unserem ersten Interview in der ZEIT
2015 haben Angehörige Ihrer Patienten mir ge-
schrieben, wie dankbar sie für Ihre Hilfe seien.
Arnold: Dieser Dank und die Erleichterung der
Patienten waren mir immer wichtig. Ich konnte ja
außer mit meiner Frau Helga kaum mit jemandem
über all die Fälle sprechen. Aber viele sind in mei-
nem Buch Letzte Hilfe beschrieben. Das ist mein
politisches Testament.
ZEIT: Was tröstet Sie jetzt?
Arnold: Dass ich ein schönes Leben hatte. Eine
wunderbare erste Ehe, herrliche Kinder. Und jetzt
meine geliebte Frau Helga. Gestern Abend haben
wir Alfredo Kraus gehört, das ist ein leichter Tenor,
nicht so ein Brüller wie Pavarotti oder Domingo.
Die klassische Musik ist auch etwas Bleibendes.
Nein, ich kann mich über nichts beklagen, nur mei-
ne Krankheit hätte noch zehn Jahre warten können.

Das Telefonat mit Uwe-Christian Arnold
dauerte über zwei Stunden. Wir diskutierten
und lachten, am Ende wünschten wir ihm viel
Glück für Karlsruhe. Er sagte, wir dürften das
Gespräch auch später veröffentlichen. Das war
am 29. März 2019. Am Morgen des 12. April
beendete der Arzt sein Leben selbstbestimmt.
Zuvor schickte er seine Stellungnahme an das
Bundesverfassungsgericht. Darin heißt es: »Ich
habe mir sehr gewünscht, zur mündlichen
Verhandlung erscheinen zu können, aber leider
ist mir das aufgrund meiner fortgeschrittenen
Krebserkrankung nicht mehr möglich. Da ich
mehrere Hundert Personen in den Tod begleitet
habe, weiß ich, was nun zu tun ist. Als Arzt
bin ich privilegiert, die meisten Menschen
hingegen wissen nicht, wie sie mit ihrem Elend,
ihrem Schmerz, ihren Ängsten umgehen sollen
und an wen sie sich in einer solchen Notlage
wenden können. Deshalb bitte ich Sie, verehrte
Richterinnen und Richter, beschäftigen Sie sich
mit den individuellen Schicksalen und treffen
Sie erst danach Ihre Entscheidung! Versagen Sie
den Menschen nicht ihr letztes Menschenrecht
auf einen würdevollen Tod!«

Das Gespräch führte Evelyn Finger

GLAUBEN & ZWEIFELN 60



  1. FEBRUAR 2020 DIE ZEIT No 10


»Es gibt ein Recht auf letzte Hilfe«


Der Berliner Arzt Uwe-Christian Arnold begleitete mehr als 500 Schwerkranke, die selbstbestimmt sterben wollten. Als er selber an Krebs erkrankte
und seine Schmerzen unerträglich wurden, legte er sich eine tödliche Infusion. Vor seinem Tod gab er noch dieses Interview

Foto: Gordon Welters für DIE ZEIT


Uwe-Christian Arnold wenige Tage vor seinem Freitod im April 2019, in seiner Wohnung in Berlin. Er wurde 74 Jahre alt

Der Sterbehelfer
Uwe-Christian Arnold sollte als erster
Experte vor den Verfassungsrichtern
in Karlsruhe sprechen. Die Streitfrage
lautete: Darf der Strafparagraf 217
die Suizidbegleitung so erschweren,
dass sie nahezu unmöglich wird?
Doch Arnold schaffte es wegen seiner
Krebs erkrankung nicht mehr zur
Anhörung: Er starb am 12. April
2019 selbstbestimmt zu Hause in
Berlin. Am 16. April 2019 ließen die
Karlsruher Richter seine Stellung-
nahme verlesen.

Das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts fiel am
Mittwoch dieser Woche. Der Paragraf
217 wurde für verfassungswidrig
erklärt. Lesen Sie dazu auch Heinrich
Wefing auf Seite 5 dieser Ausgabe im
Politik-Ressort. Patienten, Ärzte und
Sterbehilfevereine hatten geklagt, das
»Gesetz zur Strafbarkeit der geschäfts-
mäßigen Förderung der Selbsttötung«
erschwere nicht nur die Arbeit von
Medizinern, sondern verletze auch
das Selbstbestimmungsrecht
Schwerstkranker am Lebensende.

Das Buch
»Letzte Hilfe«, das Uwe-Christian
Arnold 2014 im Rowohlt Verlag
veröffentlichte, schildert aus Sicht des
Arztes die Schicksale Sterbewilliger in
Deutschland. Mit Co-Autor Michael
Schmidt-Salomon plädiert er für ein
selbstbestimmtes Sterben.

Kronzeuge


der Betroffenen

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