Die Welt - 21.02.2020

(Grace) #1
tionen – woher bekommt die Szene die Waf-
fen, welche Rolle spielen Auslandskontakte,
wer radikalisiert junge Neonazis – werden
nicht nur öffentlich zurückgehalten, sondern
auch nicht erkennbar genutzt, um eine effekti-
ve Anti-Terror-Strategie zu entwickeln.
Das wiegt um so schwerer, als die rechte
Terror-Gefahr noch größer geworden ist und
die Szene noch komplexer. Zu den üblichen
Verdächtigen, wie Stephan Ernst, der Walter
Lübcke erschossen haben soll, und Jahrzehnte
(!) als Rechtsterrorist bekannt war, kommen
nun Männer in weißen Hemden und Sakkos,
wie der Hanauer Attentäter, der in seinem
Zimmer vor einem ungemachten Bett Youtu-
be-Video aufnimmt und sich auf eine globale
Bewegung bezieht, in der sich Rassisten, Nazis
und Verschwörungstheoretiker zu immer
schlimmeren Taten anstacheln. Der kollektive
Online-Wahnsinn wirkt offenbar wie eine Dro-
ge. Dass Mord-Chatter vermutlich psychische
Probleme haben, macht sie nicht weniger ge-
fährlich, im Gegenteil, und der Übergang zwi-
schen realem Wahn und phantastischem
Wahnsinn ist fließend.
Wie wollen die Behörden, die noch immer
so sehr auf Eigensicherung bedacht sind, die-
ser Gefahr begegnen? Das ist schwer, aber
nicht unmöglich – aber dazu gehört der offene
Umgang mit Fehlern. Vertuschen ist die
Grundlage des nächsten Versagens.
Die Dienste müssen vorab agieren – so
schwer das im Einzelfall auch sein mag. Die
Politik muss ihnen die Möglichkeiten dazu
geben. Und wenn etwas schief geht, dann ist es
die Aufgabe der Öffentlichkeit und der Politik
aufzuklären, woran es gelegen hat. Sonst bleibt
die Gesellschaft wehr- und schutzlos. Die bis-
herigen Erfahrungen von A wie Amri bis Z wie
Zschäpe sind ein Beispiel dafür, wie es nicht
weiter gehen – und wie viel man sich nicht
gefallen lassen sollte.

Blutspur des Wahnsinns


KOMMENTAR


STEFAN AUST UND


DIRK LAABS


[email protected]


G


egen Dummheit kämpfen Götter
selbst vergebens. Und gegen Wahn-
sinn auch die Nachrichtendienste,
gleichgültig ob er sich politisch maskiert, reli-
giös oder sich auf andere Weise tarnt.
Aber auch tote Täter sind nicht resistent
gegen die Aufklärung ihrer Motive. Meistens
haben sie selbst versucht zu erklären, warum
sie wahllos in die Menge schossen. Immer
wollten sich in den Dienst einer höheren Sache
stellen, die jede noch so abscheuliche Tat
rechtfertigen soll. Jedes Wahnsystem ist in
sich logisch. Und jedes Mal ist man erneut
fassungslos über die Blutspur des Wahns.
Nach dem Auffliegen des NSU lautete die
Verteidigungslinie der Behörden, die eigentlich
die Menschen in diesem Land vor Terroran-
schlägen schützen sollen: Man konnte sich
rechte Morde nicht vorstellen, man war über-
rascht und nicht vorbereitet. Alles gelogen.
Tatsächlich war vor allem das BfV nah, wahr-
scheinlich viel zu nah an den Tätern dran. Bis
heute – fast neun Jahre später – wenden das
BfV und andere Behörden, allen voran das
Hessische Landesamt für Verfassungsschutz,
die für die Terrorabwehr verantwortlich sind,
eine enorme Energie auf, damit nicht bekannt
wird, wie nah man den Rechts-Terroristen des
NSU war.
Nach dem Mord an Walter Lübcke wieder-
holte sich das Spiel: Nicht alle relevanten In-
formationen über den mutmaßlichen Mörder
kamen sofort auf den Tisch. Es wurde und
wird bis heute vertuscht, gemauert, gelogen.
Jahre wurden so vertan, um sich auf die rechte
Gefahr besser einzustellen. Zentrale Informa-

IMPRESSUM Verleger AXEL SPRINGER (1985 †)


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8


21.02.20 Freitag, 21. Februar 2020DWBE-HP


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8 FORUM DIE WELT FREITAG,21.FEBRUAR


S


echsundachtzig Cent mehr im Monat
sollen es sein für den Rundfunkbeitrag,
die Länderparlamente müssen darüber
in diesem Jahr abstimmen. Für 86 Cent be-
kommt man keinen Müsliriegel, könnte man
jetzt sagen. Mit anderen Worten: Das können
wir uns doch gerade noch leisten. Ja, stimmt
wohl für die meisten Beitragszahler, und doch
ist der Vergleich bezogen auf das Gesamt-
system des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
vielleicht doch die falsche Größenordnung.
Denn der absolute Anstieg der Einnahmen aus
dem Rundfunkbeitrag seit 2013 beläuft sich auf
etwa eine halbe Milliarde Euro pro Jahr. Vor
allem weil mehr Haushalte bezahlen müssen –
auch die, in denen gar kein Fernseher steht. So
kommen Jahr für Jahr rund 8 Milliarden Euro
in die Kassen von ARD, ZDF und Deutschland-
radio (wobei die Kollegen vom Radio sich mit
einem schmalen Anteil von 50 Cent begnügen
müssen). Und darum ist es nicht in Ordnung,

wenn Intendanten der Sender im Vorfeld der
neuen Beitragsdebatte behauptet haben, sie
hätten vom kommenden Jahr an weniger Geld
zur Verfügung, ihre Kassen würden knapper,
oder sie bekämen noch nicht einmal die Teue-
rungsrate kompensiert. Diese Aussagen sind
irreführend, das hat die unabhängige Kommis-
sion zur Ermittlung des Finanzbedarfs der
Rundfunkanstalten (KEF) bei der Vorstellung
ihres Berichtes, auf dem die Empfehlung fußt,
unmissverständlich klargemacht. Denn tat-
sächlich haben die Finanzexperten den An-
stalten für die kommende Periode einen zu-
sätzlichen Aufwand von 1,8 Milliarden Euro
anerkannt. Und die allgemeine Preissteigerung
ebenfalls einkalkuliert. Dazu kommt, dass
ausgerechnet die großen Anstalten WDR und
SWR über hohe Eigenmittel verfügen. Und
dazu kommt auch noch, dass vor allem ARD-
Sender in den vergangenen vier Jahren mehr
als 400 Millionen Euro, die für den Programm-
aufwand bewilligt waren, gar nicht dafür aus-
gegeben haben. Es gibt keinen wirklich hand-
festen Beleg, dass die Anstalten nicht aus-
reichend finanziert sind. So sensibel die De-
batte um den Rundfunkbeitrag auch sein mag


  • sie sollte mit fairen Mitteln geführt werden.


AAAusreichend finanziertusreichend finanziert


KOMMENTAR


CHRISTIAN MEIER


[email protected]


D


rei Langzeitkanzler stellte
die CDU: Der erste, Kon-
rad Adenauer, blieb auf
Anhieb 14 Jahre im Amt.
Der zweite, Helmut Kohl,
brachte es auf 16 Jahre.
Und die Dritte im Bunde,
Angela Merkel, amtiert nun schon 15 Jahre
lang. Zusammen: 45 Jahre – Jahre atemberau-
bender Veränderungen, Jahre aber auch be-
trächtlicher, zäher Kontinuität.
Für Letztere vor allem wollte die CDU im-
mer ganz besonders stehen. Sie wollte bere-
chenbar und verlässlich erscheinen. Und ohne
dass das vielen CDU-Funktionären bewusst
gewesen wäre, war die Partei immer bemüht,
der alten goldenen Regel konservativer Ge-
sinnung gerecht zu werden: das Neue nicht
aaablehnen, sondern menschenverträglich ge-blehnen, sondern menschenverträglich ge-
stalten. Und jede Änderung möglichst so aus-
sehen lassen, als sei sie im Grunde nichts an-
deres als die pure Fortsetzung des Gehabten.
So hat Adenauer die Westbindung undHans
Globke, der Mitverfasser der Nürnberger
Rassegesetze gewesen war, im Kanzleramt
verteidigt. So hat Helmut Kohl die Ostpolitik
der SPD fortgesetzt unddie staatliche Einheit
Deutschlands, die nicht auf diesem Weg lag,
durchgeboxt. Und so hat Angela Merkeldas
christliche Wertefundament der CDU be-
schworen unddie Partei in die diffusen Are-
nen der Regenbogengesellschaft geführt.
Die CDU war die Partei, der es gelang, den
Eindruck zu erwecken, sie stehe stets auf ein
und derselben Stelle und bleibe sich immer
treu. Zwischen gestern, heute und morgen war
schwer zu unterscheiden. Das ist nun vorbei.
Die CDU bewegt sich heute im Modus der
Unberechenbarkeitvoran wie alle anderen
auch. Schlingernd wie ein außer Kontrolle
geratener Gartenschlauch.
Als Angela Merkel 2018 auf die weitere Kan-
didatur zum Parteivorsitzverzichtete, wurde
die Nachfolge nicht mehr wie bisher üblich in
den Gremien geregelt. Die drei Kandidaten,
die sich gemeldet hatten, tourten als Trio
durch die Regionen, um sich der „Basis“ zu
stellen. Das sah ein bisschen modern, ein biss-
chen partizipatorisch aus. Klarheit brachte es
aber nicht, schon deswegen nicht, weil alle
drei Bewerber die volle Freiheit hatten, nur
das zu sagen, was ihnen opportun schien. Das
waren keine Gespräche oder gar Prüfungen,
sondern politische Powerpoint-Präsentatio-
nen. Belanglos nett.
Dieser Weg war der CDU nach der depri-
mierenden Castingshow der SPD auf der
Suche nach einem neuen Vorstand verbaut.
Nach dem angekündigten Rücktritt von An-
negret Kramp-Karrenbauerfanden sich zwar
wieder auf wundersame Weise genau drei
Kandidaten. Aber von Schaulaufen war nun
keine Rede mehr. Der Entscheidungsprozess
wanderte in den inneren Führungskreis der
Partei zurück. Und man fand dafür schnell
einen beruhigenden Begriff, der das Agonale
des Vorgangs zu verschleiern versuchte. Es
könne, waren sich nun alle einschließlich der
drei Kandidaten Armin Laschet, Friedrich
Merz und Jens Spahn einig, nur eine Lösung
„im Team“geben. Klingt ja ebenfalls halb-
wegs modern.

Neu war daran nichts. Denn zwei der drei
Kandidaten, Merz und Spahn, sind die alten.
Und mit Laschet ist anstelle von Kramp-Kar-
renbauer wieder ein Kandidat hinzugekom-
men, der ein Merkelianer ist. Mit anderen
Worten: Das neue Spiel ist das alte. Doch in
ihm drückt sich die Dramatik der Situation
nicht aus, in der sich die CDU befindet. Es
mutet an wie ein Spiel am grünen Tisch. Die
großen Fragen, die die CDU umtreiben, kom-
men darin gar nicht oder nur am Rande vor.
Nicht die Frage, warum die CDU im Osten
Deutschlands derart in die Defensivegeraten
ist. Nicht die Frage, warum sie in westlichen
Ländern wie Baden-Württemberg oder Ham-
burg so aussichtslos dasteht. Nicht die Frage,
warum sie sich vom Verfallsprozess der SPD
hat anstecken lassen. Und schon gar nicht die
Frage, wie eine CDU-Politik nach der Ära der
nach allen Seiten hin anschlussfähigen Angela
Merkel aussehen könnte. Die drei ersten Kan-
didaten, die sich um den Vorsitz der CDU
bewarben, erweckten den trügerischen Ein-
druck, man müsse nur wollen, dann werde die
CDU schon zum alten Glanz zurückfinden.
Tatsächlich aber geht es darum, erst einmal
die Realität einer wohl unwiderruflich ge-
schrumpften CDU zur Kenntnis zu nehmen. In
der CDU nennt man die Partei gern „CDU
Deutschlands“. Das klingt so, wie es einmal zu
Recht geklungen hat: als sei die CDU die
Deutschlandpartei. Doch das ist sie nicht mehr.
Und das muss eine Partei, die so prägend für
diese Republik war, erschüttern. Sie muss nicht
die alten, sie muss neue Ufer suchen.
Am ehesten scheint das einer verstanden zu
haben, der lange wie ein Söldner eines bajuwa-
rischen Krawallkonservatismus aufgetreten
ist: Markus Söder. Umgehend hat sich der
CSU-Vorsitzende und bayerische Minister-
präsident in das innige Tête-à-Tête der drei
selbst ernannten Kandidaten eingemischt und
es aufgemischt. Das ganze Gerede davon,
Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur gehörten

„in eine Hand“, hat er mit der knappen Be-
merkung zunichtegemacht, bei der Kanz-
lerkandidatur habe die CSU ein Wort mit-
zureden.
Und er hat hinzugefügt, es komme wesent-
lich auf Geist und Richtung an. Gewiss, die
neue Standfestigkeit Söders kommt etwas
überraschend. Es ist noch nicht lange her, da
hat er in Kampfhaltung mit dem Kruzifix po-
siert, den Multilateralismus in Zweifel gezo-
gen und kaum anders als mancher AfD-Funk-
tionär geredet. Er muss noch unter Beweis
stellen, dass er wirklich meint, was er jetzt zu
meinen scheint.
Doch hat er zweifellos den Ernst der Situa-
tion erkannt. Wuchtiger als die drei Erst-
kandidaten zieht er die Grenze zur AfD, macht
sie unübersehbar zum vorrangigen Thema.
Und zeigt, dass sich, wer heute gewinnen will,
mit der ganzen Person und mit Leidenschaft
in die Auseinandersetzung werfen muss. Die
Union braucht, signalisiert er, nicht den Kon-
tinuitäts-, sondern den Kampfmodus. Weil das
einzigartige Erbe der Union – die Kunst, Fort-
schritt und Bewahren halbwegs überzeugend
zu mischen – wie nie zuvor bedroht ist.
Noch Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich
so verhalten, wie es viele in der CDU auf dem
Weg zur Macht getan haben. Sie hat so getan,
als sei der Parteivorsitz kaum mehr als ein
Accessoire der kommenden Kanzlerschaft,
eine nötige, aber irgendwie lästige Voraus-
setzung, um ins Kanzleramt zu gelangen. So
hat es Angela Merkel auch gemacht. Wer in
Zukunft an der Spitze der Union stehen will,
sollte dieser Verächtlichkeit gegenüber dem
höchsten Parteiamt ein Ende machen. Gut,
dass Markus Söder die Einvernehmlichkeit der
drei Kandidaten der ersten Stunde gestört hat.
Gut auch, dass Norbert Röttgen, der vielleicht
aus seiner Rolle als „Merkels Klügster“ he-
rausgewachsen ist, mit seiner Kandidatur ein
inhaltlich-strategisches Begehren anmeldet.
Und damit das selbstbezügliche Spiel der drei
Erstbewerber zerstört.
Wer immer den Sieg davontragen wird, er
wird es nicht leicht haben. Wie nie zuvor seit
2005 muss ein Kanzlerkandidat der Union
auch damit rechnen, nach der Wahl auf der
Oppositionsbank zu sitzen. Er muss wie einst
Helmut Kohl den Atem für den Versuch ha-
ben, aus der Defensive heraus zu gewinnen.
Und er muss der ungeklärten Frage, wofür die
CDU steht, schwungvoll nachgehen und darf
sich dabei mit den Gewissheiten von gestern
nicht zufriedengaben.
Es hieß einmal: Konservativ sein heißt an
der Spitze des Fortschritts marschieren. Etwas
skeptischer heißt es heute: Konservativ ist,
„den Wandel so zu gestalten, dass die Men-
schen dabei mitkommen können“ (Andreas
Rödder). Das ist schön gesagt. Aber es heißt
alles und nichts. Alle wollen beim Wandel
mitkommen, also wären alle konservativ. Wozu
braucht es dann die CDU, die sich mit dem
Etikett „konservativ“ zwar nicht mehr brüstet,
es aber auch nicht aufgeben will oder kann? Es
sieht so aus, als würden diese Fragen das Ver-
mögen zumindest der drei Erstkandidaten
übersteigen. Sie stehen daher für die Krise der
CDU, deren Ende sie sich vornehmen wollen.
[email protected]

„CDU Deutschlands“?


Die Zeiten sind vorbei


Die großen Fragen,


die die CDU umtreiben,


kommen in der


Diskussion um den


Parteivorsitz nur am


Rande vor. Dabei muss


der nächste Vorsitzende


dringend beantworten,


wofür die Partei steht


LEITARTIKEL


THOMAS SCHMID


Ihre Post an: DIE WELT, Brieffach 2410,


1 0888 Berlin, Fax: (030) 2591-71606,


E-Mail: [email protected]


Leserbriefe geben die Meinung unserer


Leser wieder, nicht die der Redaktion.


Wir freuen uns über jede Zuschrift,


müssen uns aber das Recht der


Kürzung vorbehalten. Aufgrund der


sehr großen Zahl von Leserbriefen,


die bei uns eingehen, sind wir leider


nicht in der Lage, jede einzelne


Zuschrift zu beantworten.


LESERBRIEFE


Kernkompetenzen


Zu: „Völlig überlastet“
vom 17. Februar

Es ist zu begrüßen, dass der Hirn-
forscher G. Hüther nach Möglich-
keiten sucht, die immer stärker
belasteten Schulen von einigen
Aufgaben zu befreien. Das darf
aber nicht dazu führen, dass die
Schule nicht mehr der Ort sein
soll, an dem den Schülern die
kulturellen Kernkompetenzen
vermittelt, sie allgemein gebildet
werden. Schule hat grundsätzlich
die Aufgabe, Heranwachsende auf
das Leben vorzubereiten und sie
je nach ihren Begabungen zu
fordern und zu fördern. Dazu
gehört auch, den Bezug zur Le-
benswirklichkeit nicht zu ver-
nachlässigen. Daher würde es
helfen, wenn Schulen enger mit
außerschulischen Einrichtungen,
Vereinen etc. kooperierten und so
ihren Schülern mehr Gelegenheit
gäben, ihre Lebenserfahrungen zu
erweitern. Lehrer hätten dazu
auch mehr Zeit, wenn sie nicht

ständig stärker belastet würden,
vor allem durch immer heteroge-
ner werdende Klassen, durch die
Inklusion von Schülern, die an
Förderschulen eine für sie opti-
male Förderung erfahren könn-
ten, durch Migranten ohne
Deutschkenntnisse in den Regel-
klassen und nicht zuletzt auch
durch Kompensation von Erzie-
hungsdefiziten.

GABRIELE GOTTBRATH, GLADBECK


Linksaffine Grüne


Zu: „Für Habeck kann es rei-
chen“ vom 17. Februar

Frau Gaschke beschreibt korrek-
terweise ein höchstwahrscheinli-
ches Szenario nach der nächsten
Bundestagswahl: Die im Kern
immer linksaffin gebliebenen
Grünen werden, ohne zu zögern,
eine grün-rot-dunkelrote Koalition
einem schwarz-grünem Bündnis
vorziehen, und eine von Merkel
ideologisch entkernte CDU wird
eine große Gemeinsamkeit mit der

AFD haben, nämlich die Oppositi-
onsrolle. Man sollte sich von der
Biedermannmaske des Robert
Habeck allerdings nicht täuschen
lassen: Neben den im Artikel (zu)
kurz erwähnten inhaltlichen Pat-
zern, die er sich regelmäßig leis-
tet, fehlt es ihm auch an mora-
lischer Integrität für das Amt des
Bundeskanzlers. Wer die physi-
schen und verbalen Entgleisungen
gegenüber FDP-Mitgliedern nicht
öffentlich verurteilt, sondern
proaktiv um die Gunst einer Par-
tei buhlt, die mit sieben Unter-
gruppierungen im Verfassungs-

schutzbericht steht, sollte keine
Chance erhalten, sich im Kanzler-
amt häuslich niederzulassen.

DR. M. KRUSE, LINGEN


Strukturfrage


Zu: „Demokraten reden wie
Rechtsradikale“ vom 15. Februar

Wenn sich die etablierten Par-
teien mit der Behauptung, die
AfD sei nicht demokratisch, von
ihr distanzieren, dann machen
sie sich niemals die Mühe, diese
Unterstellung zu begründen. Das
können sie nämlich nicht, da die
AfD genauso demokratisch struk-
turiert ist wie sie selber. Zudem
ist sie die einzige Partei, die sich
neben der parlamentarischen für
mehr direkte Demokratie nach
dem Vorbild der Schweiz ein-
setzt. Unabhängig davon, wie
man das Programm der AfD als
Ganzes beurteilt, lässt sich der
Vorwurf, sie sei eine undemokra-
tische Partei, leicht widerlegen.

CHRISTINE DUNKEL, BAD HOMBURG


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