Süddeutsche Zeitung - 21.02.2020

(Barré) #1
Ein kurzer Schulterblick, dann war das
Glück schon vollkommen bei Erik Lesser.
Emilien Jacquelin aus Frankreich konnte
ihn nicht mehr einholen, die Silbermedail-
le in der Single-Mixed-Staffel war ihm und
Franziska Preuß (im Bild von rechts) si-
cher, also stieß er schon mal einen Jubel-
schrei aus und reckte die Faust vor der Zu-
schauertribüne in die Höhe. WM-Silber für
den Nachrücker: Erst am Sonntag war Les-
ser zum Team gestoßen, es war sein erster
WM-Start in Antholz überhaupt.
„Ich bin unfassbar glücklich, dass ich
mich nach meiner unfassbar beschissenen
Saison so präsentieren konnte“, sagte Les-
ser in der ARD; Franziska Preuß fand es
„cool, dass es heute so hingehauen hat“.
Norwegen holte sich trotz sechs Nachla-
dern mit 17,6 Sekunden Vorsprung überle-
gen Gold, Frankreich (29,8 Sekunden zu-
rück) hatte mit vier Nachladern einen weni-
ger als das deutsche Duo. „Das haben sie
richtig gut gemacht“, sagte Bundestrainer
Mark Kirchner, es war nach Verfolgungs-
Silber für Denise Herrmann und Einzel-Sil-
ber für Vanessa Hinz die dritte Medaille für
die Deutschen in Antholz.
Wegen Formschwäche nach einem Un-
fall war Lesser in dieser Saison in den zweit-
klassigen IBU-Cup versetzt worden, dort
kämpfte er sich zurück. In dem Rennen am
Donnerstag war Franziska Preuß mit nur
zwei Nachladern bei vier Schießeinlagen
ganz stark, Lesser brauchte insgesamt drei
Ersatzpatronen. Ohne den Nachlader beim
letzten Schießen hätte Lesser sogar um
Gold kämpfen können, so eilte Johannes
Thingnes Bö davon. saskia aleythe

Dritte Silbermedaille
Anfang des Jahres musste die Bobpilotin für deutsche Biathleten
Laura Nolte ihre Gefühle erklären. Was
das mit ihr mache, bei ihrem Debüt
neben den Großen ihres Sports zu ste-
hen, etwa neben der Olympiasiegerin
Mariama Jamanka. Nervös? Ehrfürch-
tig? Eine Woche später stand sie wieder
neben den Großen. Diesmal auf dem Sie-
gerpodest. Erklären muss sie nun vor
der WM in Altenberg andere Dinge,
ihren rasanten Aufstieg etwa.
Laura Nolte, 21, erlebt gerade die wohl
erstaunlichsten Wochen ihrer sehr jun-
gen Karriere. Beim Weltcup-Debüt im
Januar bei ihrem Heimrennen in Winter-
berg fuhr sie auf Rang zwei, sieben Tage
später gelang ihr in La Plagne der erste
Sieg, mit Start- und Bahnrekord. Vier-
mal in fünf Rennen stand sie auf dem Po-
dium. Dabei hatte sie gar nicht damit ge-
rechnet, es überhaupt in den Zweierbob-
Weltcup zu schaffen. „Ich hab’ mich
selbst überrascht“, sagt Nolte. Sie hat
auch die Konkurrenz beeindruckt: „Die
würden mir das nicht so direkt sagen,
aber ich glaube schon, dass einige so
nicht damit gerechnet und sich eventu-
ell unter Druck gesetzt gefühlt haben.“
„Küken“ nennt der Bundestrainer
René Spies sie, aber in dieser Saison wird
sie eher behandelt wie ein rohes Ei. Die
ersten beiden Wettkämpfe in Nordameri-
ka ließ Nolte aus, auch beim Weltcup-Ab-
schluss in Sigulda trat sie nicht an, das Ri-
siko sei zu hoch auf der unbekannten
Bahn. „Ich bin öfter gestürzt“, sagt Nolte
über ihre vergangene Saison im Europa-
cup, der zweiten Liga im Bobsport. Aber
das gehöre dazu, findet sie, danach wer-
den die Fehler weniger; mit blauen Fle-
cken prägen sie sich besser ein. Nolte
kann gut mit Fehlschlägen umgehen,
auf ihrem Instagram-Profil zeigt sie ihre
„Back-Fails“, ein Best-of ihrer geschei-
terten Backversuche. Mürbteig-Massa-
ker und Pancake-Pannen, so könnte
man das zusammenfassen.

Fahren nach Rezept, weniger nach Ge-
fühl, das beschreibt aber auch ihre Her-
angehensweise ganz gut. „Man muss ver-
stehen, was die Trainer sagen, und es um-
setzen können. Das ist alles“, sagt sie.
Wie gut sie darin ist, zeigte sie in St. Mo-
ritz. Als sie im ersten Lauf abgehängt
wurde und auf Platz neun landete, ging
sie vor dem zweiten Durchgang mit den
Trainern ihre Fehler durch – und fuhr
Laufbestzeit. Besonderes Gespür, eine

Leidenschaft für das Eis habe sie nicht:
„Eigentlich finde ich Sommer besser.“
Das Rezept, wie sie mit ihrer „Hass-
Liebe“ umgehen soll, der schwierigen
Bahn in Altenberg, kommt per Mail. Das
Bahnprotokoll lernt sie auswendig. „Eng
nehmen, laufen lassen, runterdrücken,
laufen lassen, runterziehen – und raus“:
So einfach soll es sein, den Bob durch
den gefürchteten 320-Grad-Kreisel in
Altenberg zu manövrieren. „Ich hoffe,
ich krieg das hin bei der WM“, sagt Laura
Nolte. Ihr WM-Debüt, zwei Läufe am
Freitag, zwei am Samstag, muss sie ohne
ihre erkrankte Freundin und Anschiebe-
rin Deborah Levi hinbekommen, für sie
springt Ann-Christin Strack ein.

Doch jeder Aufsteiger verdrängt auch
jemanden von seinem Platz. In diesem
Fall ist es ausgerechnet Anna Köhler, 26,
die Nolte einst zum Bobsport brachte.
Köhler muss in den zweitklassigen Euro-
pacup, bei der WM ist sie außen vor.
„Das ist bitter für sie“, sagt Nolte, die aus
Unna stammt, bis 2015 im Ruhrgebiet
als großes Sprint-Talent galt – mit dem
Bobsport hingegen noch nichts zu tun
hatte. Aber: Schnelle Beine sind wichtig
am Start, und so nahm Köhler die junge
Läuferin trotzdem mit zum Anschubtrai-
ning. Und dann ging alles ganz schnell:
Im Oktober 2015 steuerte Nolte zum ers-
ten Mal einen Bob, im Dezember gelang
ihr die Qualifikation für die Olympi-
schen Jugendspiele in Lillehammer, im
Februar 2016 gewann sie dort im Mono-
bob Gold. Danach startete sie im Europa-
cup. Und nun scheint sie angekommen
zu sein unter den Großen.
Doch Favoritinnen sind für die Ent-
scheidungen am Samstag andere: Kaillie
Humphries, die 34 Jahre alte Kanadie-
rin, Mariama Jamanka, die Olympiasie-
gerin aus Berlin, oder die Altenbergerin
Stephanie Schneider, die gerade den Ge-
samtweltcup gewonnen hat. Dahinter
lauern dann die „Küken“, zu denen auch
die zweite deutsche Nachwuchspilotin
gehört, Kim Kalicki, 22, die sie zu Hause
in Wiesbaden „Kim Possible“ nennen.
„Natürlich erwartet man von den bei-
den, weil sie im Weltcup auch schon auf
dem Treppchen waren, dass sie bei der
WM auch etwas ganz Großes erreichen“,
sagt Bundestrainer René Spies, aber so
eine Bobfahrt könne „sturztechnisch
auch ganz schnell vorbei sein hier in
Altenberg“. thomas gröbner

Innsbruck– Es ist schon später Nachmit-
tag, als eine seltene Heiterkeit den Schwur-
gerichtssaal im Innsbrucker Landesge-
richt erfasst. Staatsanwalt Dieter Albert
schaut Walter Mayer, den Angeklagten, be-
sorgt an: Mayer sei ja doch ganz schön er-
blasst unter seinem grauen Haupthaar.
„Sollen wir Ihnen einen Kaffee holen?“,
fragt Albert. Na, passt schon, antwortet Ma-
yer. Aber der oberste Ankläger lässt nicht
locker, wie sich das eben gehört. „In China
waren Sie aber ned?“, flachst er. Bloß nicht
auch noch eine Corona-Epidemie am Lan-
desgericht! Mayer lacht wieder matt, keine
Sorge, er sei nur bis zum Vortag erkrankt
gewesen. Die Verhandlung, die sich nun
schon seit sechs Stunden zieht, habe er
aber auf keinen Fall platzen lassen wollen.
Seit Wochen sind in Innsbruck zwar kei-
ne Viren, dafür die Ausläufer der Operati-
on Aderlass zu spüren. Die zuständigen Er-
mittler hatten vor einem Jahr das mutmaß-
liche Blutdopingnest des Erfurter Sportarz-
tes Mark Schmidt ausgehoben, und viele
von Schmidts Kunden wurden hier zuletzt
zu Bewährungsstrafen verurteilt: die öster-
reichischen Langläufer Max Hauke und Do-
minik Baldauf, ihr Ex-Trainer Gerald
Heigl, Johannes Dürr natürlich, der als
Kronzeuge das Netzwerk enttarnt hatte.
Anderen steht der Prozess noch bevor.
Und dann ist an diesem Februarmitt-
woch dieser alte Bekannte wieder mitten-
drin: Walter Mayer, ebenfalls langjähriger
Trainer im Österreichischen Skiverband
(ÖSV), der bereits vor sieben Jahren als Do-
pingkurier verurteilt worden war. Mayer
soll schon damals Athleten wie Dürr weiter
mit Stoff versorgt und beim Dopen unter-
stützt haben; bis 2019 sei er involviert ge-
wesen. So lautet die neuerliche Anklage.
Walter Mayer also. Der Mayer, der die ös-
terreichischen Langläufer vor der Jahrtau-


sendwende aus der Erfolglosigkeit hob. Bis
eine Putzfrau in einem Haus, das der ÖSV-
Tross während der Winterspiele 2002 ange-
mietet hatte, Geräte für Bluttransfusionen
fand. Das Internationale Olympische Komi-
tee sperrt Mayer für seine Leistungsmes-
sen, doch der ÖSV ernannte ihn 2004
schon wieder zum Cheftrainer, für Lang-
lauf und Biathlon. 2006 in Turin ließen sie
ihn sogar in der Unterkunft nächtigen.
Dann rückten die Carabinieri ein. Sie fan-
den 100 Spritzen, 30 Schachteln Medika-
mente, ein Sportler schmiss sein Spritzen-
besteck aus dem Fenster. Mayers Flucht en-
dete im Alkoholnebel und in einer Straßen-

sperre in Kärnten. Langwierige Prozesse
folgten, 2013 ein letztinstanzliches Urteil,
das sich vertraut liest: Mayer, so der Rich-
ter, hatte Athleten von 2005 bis 2009 mit
Wachstumshormon, Steroiden und dem
Blutbeschleuniger Epo versorgt und sich
als Architekt von Dopingplänen betätigt.
Turin, Spritzbesteck, Straßensperren:
Das alles wirkte damals wie eine schmutzi-
ge Bestätigung dafür, wie fest der Betrug
im Herzen des Sports wurzelt. Es war auch
die Geburtsstunde eines legendären Bon-
mots: „Austria is a too small country to ma-
ke good doping“, sagte Peter Schröcksna-
del, der affärenumtoste Präsident des ÖSV,

in Turin bei einer eilig anberaumten Pres-
serunde. Wobei er ja gar nicht so sehr im
Unrecht war. Schlechtes Doping hatte er
nicht ausgeschlossen.
Mayers Verteidiger Hans-Moritz Pott
reißt diese Vita seines Mandaten am Mitt-
woch in Innsbruck noch einmal an: Es sei
ja schon beachtlich, dass man den 62-Jähri-
gen jetzt wieder „zum Kapo eines Sys-
tems“ machen wolle. Genauso absurd sei
es, dass die Staatsanwaltschaft ihre neuerli-
che Anklage auf den Aussagen von Johan-
nes Dürr errichte: Niemand habe bei den
Aderlass-Ermittlungen so oft gelogen oder
seine Aussagen geändert, findet Pott. Zum
Beispiel mit einer nachgeschobenen Beich-
te, in der Dürr auch Mayer belastet hatte.
Der Prozess beginnt dann erst mal mit
einer Wende. Mit Mayer ist eine 37-jährige
ehemalige Hobbyläuferin angeklagt. Ma-
yer soll ihr Humanalbumin verabreicht ha-
ben, ein Stoff, der gerne genutzt wird, um
verdächtige Blutwerte zu verschleiern.
Doch vor Gericht stellt sie das plötzlich
ganz anders dar. Ja, Mayer habe zwei Mal
eine Infusion gesetzt, je 250 Milliliter weni-
ge Stunden vor einem Marathon – dabei ha-
be es sich aber um eine Magnesiumlösung
gehandelt. Das mit dem verbotenen Präpa-
rat habe sie nur gesagt, weil die Polizisten
sie in der Vernehmung massiv bedrängt
hätten: „Wir wissen, dass du was weißt
zum Mayer – sag es, oder du gehst heute
nimmer heim“, habe es geheißen.
Stimmt schon, sagt Mayer kurz darauf,
er habe die Läuferin wie geschildert behan-
delt. Ein Verschleierungsmittel könne es
aber tatsächlich nicht gewesen sein, weil
die Blutwerte einer Hobbyläuferin niemals
derart verschleierungswürdig sein kön-
nen. Und dass er mit den Infusionen die An-
ti-Doping-Regeln wohl so oder so verletzt
haben müsste – zwölf Stunden vor einem

Rennen sind keine Zuführungen über 100
Milliliter erlaubt? „Die Werte san mir nicht
bewusst gewesen“, sagt Mayer, das sei zu
seiner Zeit noch anders gewesen.
Kurz darauf verkriecht er sich wieder in
sein Schweigen. Johannes Dürr ist jetzt als
Zeuge geladen, und der 32-Jährige bekräf-
tigt, was er schon im Vorfeld ausgesagt hat-
te: Zwei Blutabnahmen und zwei Reinfun-
dierungen 2012, im Keller von Mayers
Apartment in Radstadt unter Regie des
Hausherrn. Gebrauchsanleitungen von Ma-
yer, verfasst auf Notizzetteln, wie Dürr sei-
ne Epo-Kuren anzulegen habe. Gespräche
mit Harald Wurm, dem Ex-Langläufer und
Zimmerkollegen Dürrs, der ebenfalls bei
Mayer sein Blut abgezapft und reinfun-
diert haben soll und derzeit separat ange-
klagt ist. Einmal, sagt Dürr, sei sein Blut so-
gar derart zähflüssig gewesen, dass Mayer
und er es auf die Heizung legen und mit ei-
nem Föhn bearbeiten mussten, damit es
besser in den Körper zurückfließt.

Dürrs Ex-Trainer Heigl stützt kurz dar-
auf die zentralen Vorwürfe. Er sei bei Dürrs
Blutbehandlungen in Mayers Haus zwei
Mal dabei gewesen; er habe von Mayer
auch Wachstumshormon und Epo bezo-
gen (was Meyer bestreitet). Vieles verbleibt
am Mittwoch allerdings im Nebulösen. Ein-
mal weist die Richterin darauf hin, was Ma-
yer bereits in den Vernehmungen gesagt
hatte: dass er Dürrs Blut zwar abgenom-
men, aber nicht gelagert und reinfundiert
habe. Dürr widerspricht dem in Innsbruck,
er streitet auch ab, dass er sich einmal
selbst die Nadel bei der Zuführung gesetzt

habe – was Heigl während seiner Befra-
gung bekräftigt. Heigl wird auch daran er-
innert, dass er – laut Mayers Vernehmungs-
protokoll – dem Bluttankwart einmal vor-
gehalten habe, dessen Behandlungsmetho-
den seien nicht mehr „up to date“. Bald dar-
auf wechselte Dürr zu Mark Schmidt. Dar-
an kann Heigl sich wiederum nicht erin-
nern. Und Harald Wurm, der streitet am
Mittwoch als Zeuge sogar alles ab: dass er
jemals bei Mayer zum Blutdopen war oder
überhaupt, wobei Mayer im Vorfeld erklärt
hatte, dass er für Wurm die Blutbeutel be-
sorgt haben will – mehr aber nicht. Nein,
an verbotene Methoden könne er sich par-
tout nicht erinnern, sagt Wurm.
„Haben Sie generell Probleme mit dem
Gedächtnis?“, fragt die Richterin.
Die Erinnerungslücken sind noch so ein
zentrales Thema an diesem Tag. Auch Dürr
und Heigl flüchten sich oft ins Vage, wenn
es etwa darum geht, wann und wie genau
sie von Mayer beim Dopen unterstützt und
versorgt worden sein sollen. Na ja, sagen
beide, die Ereignisse seien eben lange her.
Erst am Nachmittag ist auch Mayer gewillt,
zur Sache auszusagen, aber er spüre nun
doch seine jüngste Krankheit, sagt er. Und
Richterin und Staatsanwalt wollen weitere
Zeugen hören, die Polizeibeamten etwa,
die die Leichtathletin unter Druck gesetzt
haben sollen. Die Verhandlung wird auf un-
bestimmte Zeit vertagt.
Unwidersprochen bleibt bis dahin, dass
Mayer wohl in manche Dopingpraktiken
eingespannt war. Aber wie tief? Als Kapo
oder Zuträger? Mit gutem Doping, schlech-
tem Doping? Fürs Erste bleibt das Bild,
dass Mayer offenkundig weiter in einem
Geflecht wirkte, in dem ein Glaube auch 14
Jahre nach Turin wurzelt: dass ohne Stoff
und die Hilfe von verurteilten Dopern we-
nig zu holen ist. johannes knuth

von volker kreisl

Antholz– So habe er ihn noch nie gesehen,
behauptet Simon Fourcade, und wenn der
das sagt, muss es stimmen. Denn wer soll
Martin Fourcade besser kennen als Simon,
sein vier Jahre älterer Bruder, der Martins
Zorn schon abgekriegt hatte, wenn der als
Kind im Brettspiel verlor? Der ihn immer
begleitete und später erlebte, wie ihn der
ehrgeizige Martin als französischen Top-
Biathleten ablöste, und der nun auf der
Bühne von Antholz sah, wie sein jüngerer
Bruder mit nassen Augen den Blumen-
strauß für den WM-Sieger im langen Ein-
zelrennen entgegennahm.
Es war Martin Fourcades zwölfte Gold-
medaille bei einer Weltmeisterschaft, und
Simon, der längst seine Karriere beendet
hat, sagt: „Die ist ihm so viel wert, wie sein
erster Olympiasieg.“ Jedenfalls wurde
Fourcade später vor den Medien sehr nach-
denklich. Rechts von ihm saß der Zweitplat-
zierte Johannes Thingnes Bö, seit wenigen
Jahren sein großer Sportrivale, links der
Bronzegewinner Dominik Landertinger
aus Österreich, und beide hörten zu.
Als junger Läufer, erinnerte sich Fourca-
de, habe er nie die Absicht gehabt in die Ge-
schichtsbücher einzugehen. Aber dann sei-
en ihm die Siege nur so zugeflogen, „ich ha-
be zehn Jahre lang so viel gewonnen, mehr
als ich erwartete hatte, und wenn ich mal
nicht gewonnen hatte, dann eben wieder
am Tag danach.“ Daran kann man sich ge-

wöhnen, und gar nicht mehr kann man
sich irgendwann vorstellen, dass dies plötz-
lich vorbei sein könnte. Doch im vergange-
nen Winter war es so weit: Das Wunder
Fourcade war verblasst.
Woran es lag, war zunächst nicht exakt
zu orten. War es der Trainerwechsel? Oder
vielleicht doch die Sache mit dem Hub-
schrauber? Auch konnte es an seiner erst
zuvor fertiggestellten Biografie gelegen ha-
ben. Oder am neuen Engagement als Bot-
schafter für Olympia 2024 in Paris? Viel-
leicht auch an der Planung seines Sommer-
Biathlon-Festivals. Oder doch an der Ent-
wicklung des blauen Holz-Biathlon-Ge-
wehrs für Kinder, Name: Carabine Martin
Fourcade?
Wie üblich war er in die nacholympische
Saison gegangen, mit einem Sieg im ersten
Weltcup, aber dann begann seine Form zu
schwanken und ging zum Winterhöhe-
punkt 2019 k. o. Fourcade landete erst rät-
selhaft auf hinteren Rängen, wurde zwi-
schendurch krank, verpasste bei der WM
in Östersund erstmals alle Medaillenränge
und stieg für den Rest des Winters aus
sämtlichen Wettkämpfen aus.
Bald erwies sich, dass es eher nicht am
Trainer Vincent Vittoz lag, der im Sommer
2018 Stephane Bouthiaux abgelöst hatte.
Die gesamte französische Mannschaft wur-
de ja besser, der Zusammenhalt stärker,
wofür auch Fourcade als Leader sorgte. Er
teilte seine Tricks und Fähigkeiten, insbe-
sondere mit dem jungen Emilien Jacque-

lin, in dem Fourcade ein großes Talent
sieht. Auch lag es wohl nicht an familiärer
Belastung, selbst wenn seine Töchter noch
jung sind. Und schwere Verletzungen hat-
ten ihn auch nicht zurückgeworfen. Viel-
mehr war es etwas, das noch belastender
sein kann als eine große Verletzung – näm-
lich ein großer Olympiaerfolg.

„Die Anfragen und Termine nach
Pyeongchang waren einfach zu viel“, sagt
Simon Fourcade. Sein Bruder hatte da drei-
mal gewonnen, was seine olympische Ge-
samtbilanz auf sieben Medaillen aufpolier-
te, fünf davon aus Gold. Der Junge, der in
den Pyrenäen als Sohn eines Bergführers
aufwuchs und dann mit seinem Bruder in
die Alpen zog, um ein großer Biathlet zu
werden, zählte nun zu den Top-Sportlern
Frankreichs. Und als Fourcade wegen des
Trainings wieder Ruhe brauchte, da sollte
er bei einem Sponsorendinner drei Auto-
stunden entfernt erscheinen, was er dann
eben doch ablehnte. Okay, sagte der Spon-

sor, schickte einen Hubschrauber, und
Fourcade stieg ein.
Das war zwar eine Ausnahme, aber es ka-
men eben auch noch all die anderen Jobs ei-
nes Olympiasiegers hinzu, der nicht
„Nein“ sagen kann. Von denen war die Ent-
wicklung des Martin-Fourcade-Gewehres,
das laut Presse einen gewissen Rang als
Weihnachtsgeschenk 2018 erreichte, wohl
noch die kleinste Beanspruchung. Und ir-
gendwann verlor mit den Misserfolgen
auch der ehrgeizige Martin Fourcade sein
Feuer, sonst hätte er nun, nach seiner lang-
wierigen Rückkehr in den Kreis der Welt-
meister, das nicht so betont: „Ich bin wirk-
lich stolz auf meinen Zorn nach meinem
letzten Schießen.“ Da hatte er die 20. Schei-
be verfehlt, und dann alle frei gewordene
Energie in die letzte Runde gelegt.
Die Frage ist nun: Wie lange brennt das
neue Feuer? Sein Ehrgeiz hat wohl keinen
Schaden genommen, schließlich wurde er
ja mit dem WM-Titel belohnt, „darauf bin
ich stolz“, sagte er. Ende der Saison will er
entscheiden, ob er aufhört oder weiter-
macht bis Olympia in Peking 2022. Aber
wird er sich das noch mal antun? Er bräuch-
te wohl einen besonderen Grund.
Vielleicht ist dies das neue Teamgefühl.
Bei der Siegerehrung hat Martin Fourcade
jedenfalls alle geherzt, die da in französi-
schen Anoraks herumstanden, und er hat
sein Gold Wachsern und Technikern gewid-
met. Und auch das, sagt Simon, habe er zu-
vor bei seinem Bruder noch nicht erlebt.

Zurück auf dem Bi-
athlon-Thron: Nach
seinem Formtief im
nacholympischen
Winter meldet sich
Martin Fourcade in
Antholz mit seinem
zwölften WM-Titel
zurück.
FOTO: M. BERTORELLO / AFP

Fahren nach Rezept


In ihrem Weltcup-Debütjahr gleich zur Bob-WM: Laura Nolte, 21


Erster und zweiter Lauf am Freitag, Entscheidung am Samstag: Laura Nolte,
neues deutsches Gesicht bei der Bob-WM in Altenberg. FOTO: MEMMLER / EIBNER / IMAGO

Der Bahn-Plan: „Eng nehmen,
laufen lassen, runterdrücken ...“

Gutes Doping, schlechtes Doping


War der Österreicher Walter Mayer, eine der affärenumtostesten Figuren der Langlauf-Szene, bis zuletzt in Blutdopingpraktiken verstrickt? Ein Prozess in Innsbruck liefert erste Indizien


Der Zorn ist wieder da


Botschafter, Biograf, Spielzeugbauer: Martin Fourcade hat für die Verwertung seines Olympia-Erfolges
mit einer schweren Formkrise bezahlt. Nun ist er als Weltmeister zurück – und für viele kaum wiederzuerkennen

Alter Bekannter: Walter Mayer, früher Cheftrainer von Österreichs Langläufern
und Biathleten, steht wieder in Sachen Doping vor Gericht. FOTO: ULRICH KETTNER / IMAGO

Nolte hat jene Pilotin verdrängt,
die sie einst für Bob begeisterte

„Haben Sie generell Probleme
mit dem Gedächtnis?“,
fragt die Richterin einen Zeugen

DEFGH Nr. 43, Freitag, 21. Februar 2020 (^) SPORT HF2 29
FOTO: ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY

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