Der Stern - 04.03.2020

(C. Jardin) #1

kammerpräsident Klaus Reinhardt. Sie


verweisen auf die rund 160 000 ambulant


tätigen Ärzte hierzulande, die fast 20 000


Apotheken und knapp 2000 Kliniken. „Wer


unter einer schweren Lungenentzündung


leidet, muss sich nicht sorgen“, meint Uwe


Janssens, Präsident der Deutschen Inter-


disziplinären Vereinigung für Intensiv-


und Notfallmedizin: „An entsprechenden


Beatmungsplätzen mangelt es nicht.“


Selbst wenn an vielen Kliniken das Perso-


nal fehlt, könnten Ärzte und Pflegekräfte


einen Ansturm von Patienten wohl bewäl-


tigen. Sie müssten lediglich geplante Kran-


kenhausaufenthalte von Patienten ver-


schieben.


Das alles klingt beruhigend, doch der


internationale Vergleich zeigt, dass


Deutschland bei der Seuchenbekämpfung


längst nicht so leistungsfähig ist, wie es


sein sollte. Im „Global Health Security


Index“, der als eine Art Systemcheck 195


Länder vergleicht, kommt das deutsche


Gesundheitswesen bei „Notfallvorsorge


und Gefahrenabwehr“ nur auf Platz 67.


Bereits bei den Krisen der vergangenen

Jahre – Vogelgrippe, Schweinepest, Sars,


Ehec-Bakterien (damals war Gemüse mit


Darmbakterien belastet) – zeigte sich:


Deutschland kämpft immer doppelt. Ers-


tens gegen die Seuche. Zweitens gegen den


Föderalismus. Bund, Länder und Gemein-


den ringen um Zuständigkeiten, das Land


habe „systemimmanente Schwächen“, so


das Fazit des Bundesrechnungshofs, der


das Krisenmanagement von Lebensmittel-


skandalen wie Ehec und mit Dioxin belas-


teten Eiern untersuchte. Notfallpläne der


Länder stünden „weitgehend beziehungs-


los nebeneinander“, schreibt der Bundes-


rechnungshof, es fehlten „verbindliche


Strukturen“ für eine Zusammenarbeit von


Bund und Ländern.


Der Bund kann Vorgaben machen. Aus-

führen müssen sie Länder und Gemein-


den. Paris verbietet landesweit Großveran-


staltungen mit mehr als 5000 Menschen,


die Schweiz gar ab 1000 – und in Deutsch-


land bastelt der Krisenstab an Kriterien,


was wann vielleicht abgesagt werden


könnte.


Höchst unübersichtlich sind die Ent-

scheidungswege beim Infektionsschutzge-


setz. Eigentlich sind Länder und Kommu-


nen dafür verantwortlich, ansteckende


Krankheiten zu beobachten und zu


bekämpfen. Die zentrale Rolle spielen


dabei die örtlichen Gesundheitsämter.


Sie leiten die Meldungen der Ärzte an die


Landesbehörden weiter, die sie zum Robert


Koch-Institut schicken, wo die Informatio-
nen zusammenlaufen. Die Ämter vertei-
len aber auch Hinweise an die Ärzte und
entscheiden, ob Schulen oder Schwimm-
bäder schließen.
Und genau diese Behörden leiden unter
dramatischem Personalmangel. Derzeit
arbeiten laut dem Bundesverband der Ärz-
tinnen und Ärzte des öffentlichen Gesund-
heitsdienstes (BVÖGD) in den Ämtern 2500
Mediziner – ein Drittel weniger als vor 20
Jahren. In Berlin ist von rund 2000 Vollzeit-
stellen etwa jede vierte nicht besetzt,
davon allein über 50 Arztstellen. Neben
Kinderärzten und Psychologen fehlen
Hygienemediziner. BVÖGD-Chefin Ute
Teichert sieht den öffentlichen Gesund-
heitsdienst derzeit „nicht in der Lage, sei-
ne wichtigen bevölkerungsmedizinischen
Aufgaben zu bewältigen“.

Das spüren auch Hausärzte wie Oliver
Giebel, der sich vom Gesundheitsamt
Aachen, das für ihn zuständig ist, wenig
unterstützt fühlt. Giebel fehlt es an
Schutzkitteln und Mund-Nasen-Masken.
Seinen sechs Kollegen im Stadtteil gehe es
ähnlich. „Natürlich hätten wir uns viel-
leicht Vorräte anlegen sollen, aber die Co-
rona-Krise kam zu schnell“, sagt Giebel.
Das NRW-Gesundheitsministerium sieht
ihn in der Verantwortung. Niedergelasse-
ne Ärzte müssten wegen des Arbeitsschut-
zes für die Schutzausrüstung ihrer Be-
schäftigten sorgen, sagt ein Sprecher auf
Nachfrage. Weltweit sind aber kaum noch
Mund-Nasen-Masken zu bekommen,
schon gar nicht höherwertige FFP2-Mas-
ken, die wirklich vor Viren schützen.
Das Gesundheitsamt in Aachen teilte
Giebel lediglich mit, dass er ohne Schutz-
kleidung keine Virustests machen und ver-

dächtige Fälle ins Krankenhaus schicken
soll. Aber was ist ein Verdachtsfall? Soll
etwa jede erkältete Kontaktperson der Kar-
nevalssitzungsteilnehmer getestet wer-
den, auch wenn Symptome fehlen? „Das
Gesundheitsamt konnte dazu keine klare
Anweisung geben“, sagt Giebel.

R


ückfrage beim Gesundheitsamt
Aachen. Wer ist denn nun Verdachts-
fall? „So, wie Sie es schildern, wäre das
eine Einzelfallentscheidung, die der Arzt
zu treffen hat“, sagt Pressesprecher Holger
Benend. Für alle übrigen Fragen sei das
Gesundheitsamt Heinsberg zuständig,
dort gebe es bestimmt klare Verfügungen:
„Ich darf Ihnen hier eigentlich gar nichts
sagen.“ So sieht Krisenmanagement prak-
tisch aus. Jeder weiß einen, der etwas weiß.
Oder auch nicht.
Nur wenige Kilometer entfernt von Gie-
bels Praxis steht das Sankt Antonius-Hos-
pital. Hier leitet Uwe Janssens die Klinik
für Innere und Intensivmedizin. Als die
ersten Fälle in NRW auftraten, verwandel-
te Janssens eine halbe Station in einen Iso-
lierbereich. Täglich werden nun Patienten
mit Erkältungssymptomen aufgenom-
men, die Kontakt zu Menschen mit nach-
gewiesener Coronavirus-Infektion hatten.
Nur bei einem dieser sogenannten Ver-
dachtsfälle fiel der Virustest positiv aus.
„Den betroffenen Mann haben wir in die
häusliche Quarantäne geschickt, er hatte,
so wie 80 Prozent aller Patienten, kaum
Symptome und braucht keine stationäre
Behandlung“, sagt Janssens.Das Vorgehen
sei mit dem zuständigen Gesundheitsamt
abgesprochen. Doch es läuft den Empfeh-
lungen des Robert Koch-Instituts (RKI) zu-
wider, denen zufolge jeder Virusträger im
Krankenhaus isoliert werden soll. Es ver-
stößt auch gegen den brandneuen „Infek-
tionsschutzplan Nordrhein-Westfalen“,
der auf Anweisung Jens Spahns vor weni-
gen Tagen aktualisiert wurde und noch
striktere Quarantänebestimmungen als
das RKI vorsieht. Verdachtsfälle, egal, ob Vi-
rusträger oder nicht, müssten demzufolge
ins Krankenhaus gebracht werden.
Janssens ist fassungslos. „Unser System
würde kollabieren, sobald die Pandemie
sich stärker ausbreitet.“ Denn jeder poten-
ziell oder tatsächlich infizierte Patient
könnte das Krankenhauspersonal anste-
cken, für jeden Kontakt müssten Ärzte und
Pflegekräfte die rare Schutzkleidung anle-
gen. „Wenn wir sie dann wirklich brauch-
ten, haben wir nichts mehr übrig“, sagt
Janssens. 4

„ICH DARF


IHNEN HIER


EIGENTLICH


GAR NICHTS


SAGEN“


5.3.2020 35
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